Die Marquise von O…
Abschnitt 5 (150–157)
Zusammenfassung
Nun muss allerdings noch der Vater überzeugt werden. Auch dies übernimmt die Mutter und bittet die Marquise, in ihren Gemächern zu warten. Nach einer Weile kommt der Vater, der emotional so stark aufgewühlt ist, dass er nicht sprechen kann. Die Mutter insistiert, dass der Vater sich bei der Marquise zu entschuldigen habe und nicht etwa umgekehrt. Schließlich verlässt die Mutter das Zimmer, damit Vater und Tochter sich ungestört aussprechen können (149-151).
Als sie zurückkommt, sitzt die Marquise auf dem Schoß des Vaters. Beide sind extrem zärtlich zueinander. Die Mutter goutiert das. Alle sind versöhnt. Gemeinsam erwarten Mutter und Marquise den nächsten Tag, denn um elf Uhr vormittags hat sich der Vater des Kindes über die Antwort auf die Annonce angekündigt. Noch weiß niemand, wer kommt, und tatsächlich ist es zunächst der Jäger Leopardo, den die Mutter in ihrer List als Vater bezeichnet hatte, der um elf Uhr eintritt. Allerdings tut er dies nur, um den Grafen von F… anzukündigen. Auf diese Eröffnung reagiert die Marquise ungemein heftig und verlangt, den Grafen nicht vorzulassen. Doch da tritt dieser bereits ein. Er gesteht die Vergewaltigung und bittet um Verzeihung. Die Marquise allerdings will davon nichts wissen und ruft Vater und Bruder hinzu. Sie besprengt die Familie mit Weihwasser und flieht. Vater, Bruder und Mutter aber reagieren versöhnlich auf den Grafen. Aus ihrer Sicht spricht nichts gegen eine Verehelichung. Ohne dass die Marquise gefragt worden wäre, wird der folgende Tag, elf Uhr, als Hochzeitstermin anberaumt. Man wundert sich allgemein über das angeblich sonderbare Betragen der Marquise. Ein Ehevertrag wird aufgesetzt, in welchem der Graf F… auf alle Rechte verzichtet, dafür in alle Pflichten einwilligt (155).
Bei der Hochzeitsfeier darf der Graf erst vor der Kirche zur Familie stoßen. Die Marquise blickt ihn selbst beim Ringtausch nicht an. Nach der Festivität gehen die Familie und der Graf in verschiedene Richtungen auseinander (156).
Dennoch gelingt es ihm mit der Zeit, das Vertrauen und die Zuneigung der Marquise zu gewinnen. Am Ende sind der Graf, die Marquise und die drei Kinder eine Familie und leben auf dem Landsitz V… der Marquise.
Analyse
Das Wort des Vaters hat nach wie vor Gewicht. Er ist es, der das Vertragliche mit dem Grafen von F… festsetzt (155). Seine Macht zeigt sich aber indirekt. So ist die einzige Referenz, die der hinzugezogene Arzt aufzuweisen hat, das Vertrauen des Vaters (131).
In diesem Zusammenhang ist es wiederum für die Konzeption der zwei Sphären von Bedeutung, dass die Marquise und Frau von G… am Urteil des Arztes noch zweifeln können, während die Aussage der Hebamme in keiner Weise in Zweifel gezogen wird. Das ist Ausdruck des Umstandes, dass alles, was mit Gebären, Leiblichkeit und Natur zu tun hat, der weiblichen Sphäre zugeschlagen wird. Gedeckt wird dieser Befund durch den Umstand, dass die Mutter bei der Konsultation durch den Arzt das Zimmer verlässt, bei der Hebamme aber im Zimmer bleibt – wenn auch auf Verlangen der Marquise.
Doch die Eheschließung wird nicht allein deshalb von den Eltern forciert, weil ihre Tochter nur so der gesellschaftlichen Ächtung entrinnen kann. Für die Eltern ist der Graf selbstverständlich auch eine gute Partie. Er steht nicht nur gesellschaftlich höher, er ist überdies von beeindruckendem Vermögen. Außerdem hat der Vater seine Stellung als Festungskommandant aufgrund des Krieges verloren. Es ist also durchaus möglich, dass existenzielle Nöte die Wahl der Eltern und ihre Bereitschaft, dem Grafen zu verzeihen, erleichtern.
Diesen nüchternen Erwägungen stehen allerdings die krassen emotionalen Ausbrüche der Eltern entgegen, als sie von der Schwangerschaft der Marquise erfahren. Von Bedeutung erscheinen hier ferner die biblischen Konnotationen. Drei Mal verlangt die Mutter von der Marquise ein Bekennen, drei Mal verleugnet die Marquise jegliches Wissen um den Vater (130-135). Nach dem dritten Mal bricht die Mutter in biblischen Zorn aus und verweist die Marquise des Hauses. An späterer Stelle bezeichnet die Marquise den Grafen als Teufel und besprengt die Familie mit Weihwasser (154). Aber bei »Die Marquise von O…« handelt es sich nicht um eine getarnte Heiligenlegende. Vielmehr wird der Mythos der unbefleckten Empfängnis selbst dekonstruiert.
Überhaupt verweigert sich »Die Marquise von O…« einer einseitigen Lesart. Das liegt nicht zuletzt an dem intensiven Einsatz von Ironie (Doering 111). So schwankt die Novelle zwischen dem traditionellen Bild der getrennten Sphären, zeigt gleichzeitig aber auch auf, dass ein anderes Leben möglich wäre. Nach der Trennung von der Familie nimmt die Marquise ihr Schicksal ja an, entscheidet sich für ein zurückgezogenes, der Gesellschaft abgewandtes Leben.
Hier erweist sich Emanzipation als möglich. Dennoch kehrt die Marquise später in den Schoß der Gesellschaft zurück. Ihrem Vater gegenüber zeigt sich die Marquise geradezu unterwürfig, dem Bruder aber widersetzt sie sich ohne Probleme (137). Allerdings muss hier einschränkend betont werden, dass die Marquise nur deswegen überhaupt eine selbstständige Existenz für möglich halten kann, weil sie aus ihrer früheren Ehe mit einem Marchese vermögend ist. Die Freiheit, die sie hat, verdankt sich also einem weiteren – wenngleich bereits verstorbenen – Mann.