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Die Marquise von O…

Abschnitt 3 (130–139)

Zusammenfassung

In den folgenden Tagen befällt die Marquise wieder das Unwohlsein, das sie an eine Schwangerschaft erinnert. Die Marquise zieht ihre Mutter ins Vertrauen und diese beruft einen Arzt. Der Arzt untersucht die Marquise und diagnostiziert tatsächlich eine Schwangerschaft. Doch die Marquise ist nicht gewillt, sich eine Schwangerschaft einzugestehen. Schlussendlich droht sie dem Arzt sogar, dass sie ihrem Vater von der vermeintlichen Beleidigung des Arztes erzählen werde (131).

Die Mutter, die den Raum für den Arztbesuch verlassen hatte, kehrt wieder und solidarisiert sich mit ihrer Tochter. Auch sie sieht es als Beleidigung an, allerdings scheinen ihr auch leichte Zweifel an der Version ihrer Tochter zu kommen. Doch scheint das auch für die Marquise zu gelten. Sie selbst glaubt nicht, dass der Arzt irgendeine Veranlassung hätte, sie zu beleidigen und glaubt auch nicht, dass der Arzt unfähig gewesen sein sollte, eine Schwangerschaft festzustellen oder auszuschließen. Daher drängt die Marquise darauf, auch eine Hebamme zu konsultieren und sich ihrem Urteil zu überlassen (132f.).

Die Hebamme kommt hinzu und stellt das Gleiche fest wie der Arzt. Bei dieser Konsultation ist die Mutter zugegen. Die Marquise fällt in Ohnmacht, wird aber wieder aufgeweckt und bleibt bei ihrer Leugnung. Daraufhin verweist die Mutter die Marquise mit harten Worten des Hauses. Allein mit der Hebamme, fragt die Marquise diese danach, ob es auf natürliche Weise möglich sei, ohne eigenes Wissen schwanger zu werden. Worauf die Hebamme versetzt, dies sei außer der Jungfrau Maria noch keiner Frau zugestoßen (135).

Nachdem die Hebamme wieder geht, erhält die Marquise einen Brief vom Vater, in dem sie dazu aufgefordert wird, das Haus des Vaters sofort zu verlassen. Von diesem Brief emotional aufgewühlt, sucht sie den Vater in dessen Gemächern auf. Der Bruder versucht, sie noch aufzuhalten, doch die Marquise widersetzt sich und dringt in die Zimmer vor, woraufhin ihr Vater vor ihr flüchtet. In die Ecke gedrängt, nimmt der Vater eine Pistole, aus der sich ein Schuss löst. Sie wird zwar nicht getroffen, dennoch nimmt die Marquise den Schuss zum Anlass, ihren Vater zu verlassen. Auf Veranlassung ihres Vaters geht ihr Bruder, der Forstmeister, ihr nach und verlangt die Herausgabe der Kinder. Diese sollen nun beim Vater der Marquise aufwachsen. Von ihrer inneren Unschuld überzeugt, widersetzt sich die Marquise und ihr Bruder muss unverrichteter Dinge wieder abziehen (136f.).

Im Wagen bei der Abfahrt fasst sich die Marquise wieder; und ihrer moralischen Unversehrtheit eingedenk, kann sie dem neuen Leben durchaus positive Aspekte abgewinnen. Die Marquise akzeptiert, dass sie ihre Familie nicht von ihrer Unschuld überzeugen kann und nimmt ihr weiteres Schicksal an. Nur um das ungeborene Kind macht sie sich angesichts des erwartbaren gesellschaftlichen Echos Sorgen. Genau deswegen entschließt sich die Marquise, die Annonce, die den Beginn der Novelle markiert, abzufassen und in die Zeitung zu setzen (137-139).

Analyse

Das bereits erwähnte Machtgefälle zwischen Vater und Graf lässt sich aus zwei Umständen ableiten. Einerseits besteht zwischen dem bürgerlichen Herren von G… und dem adeligen Grafen schlichtweg ein Standesunterschied. Gleichzeitig aber erscheint Herr von G… als Besiegter. Nicht nur, dass es der Graf gewesen ist, der die Zitadelle erobert hat, auch innerhalb des Hauses G… erscheint der Vater als fremdbestimmt. So ist es eigentlich die Mutter, die die Hochzeitspläne des Grafen unterstützt.

Dass es um die Männlichkeit des Vaters nicht zum Besten bestellt ist, zeigt auch die Szene, in der die Marquise des Hauses verwiesen wird. Der Vater ist nicht in der Lage, den Brief an die Marquise, also sein Machtwort, selbst zu verfassen und diktiert es der Mutter (136). Als die Marquise den Vater mit dem Schreiben zu konfrontieren versucht, flieht der Vater und weiß sich keinen Ausweg, als die Tochter mit einer Pistole zu bedrohen. Als er die Waffe von der Wand nimmt, löst sich ein Schuss, der aber ins Leere geht. Psychoanalytisch könnte das als Zeichen seiner Impotenz verstanden werden.

Durch die Symptome der Marquise ist außerdem eine spezifische Dynamik in die Novelle eingebaut. Dadurch wird die Handlung vorangetrieben. Rezipienten sind dabei von Anfang an auf eine Verschärfung der geschilderten Situation eingestellt.

Doering weist darauf hin, dass Kleist ein Leser Rousseaus war (Doering 111). Diese Lektüre zeigt sich in der aufscheinenden Utopie, die im Entschluss der Marquise, sich in der Folge ganz um ihre Kinder zu kümmern, ihren Ausdruck findet. Was Rousseau in seinem Roman »Émile oder über die Erziehung« schildert, eine Erziehung fernab der Gesellschaft, klingt hier als Ideal an.

Die Kraft zu diesem Entschluss bezieht die Marquise aus ihrer moralischen Integrität. Obwohl der Text stellenweise hochgradig ironisch ist, zeichnet er sich zugleich durch große Ernsthaftigkeit bis hin zum Pathos aus. Signifikant daran ist, dass es sich bei der betreffenden Szene um eine der wenigen handelt, in der die Gedanken der Marquise wiedergegeben werden. Man kann das auch so verstehen: Wenn der gesellschaftliche Druck schwindet und die Personen ihre eigenen Gedanken entwickeln, kommt es zur Bildung von Persönlichkeit.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.