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Die Marquise von O…

Zitate und Textstellen

  • »Ich biete der ganzen Welt Trotz; ich will keine andre Ehre mehr als deine Schande«
    – Frau von G…, 148

    Die Aussage der Frau von G… könnte als Äußerung ihres schlechten Gewissens verstanden werden. Allerdings scheint dies nicht das Pathos zu erklären, mit dem hier gesprochen wird. Dass Frau von G… ausgerechnet von Ehre und Schande spricht, könnte als Hinweis darauf verstanden werden, dass Frau von G… erkannt hat, dass ihr Streben nach gesellschaftlicher Ehre ihre Tochter erst in Schande gebracht hat. Sie hätte sie nicht des Hauses verweisen müssen – die Hebamme hat sogar Ratschläge, wie man eine Schwangerschaft gegenüber der Öffentlichkeit verbergen könne. Die gesellschaftlichen Rücksichten werden also als bedrohlich für die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wahrgenommen. Keine Ehre mehr als deine Schande: Das bedeutet also auch, dass der Ehre-Schande-Konnex insgesamt suspendiert und durch eine Beziehung auf Augenhöhe ersetzt wird.

  • »Hierbei sah [der Graf], nach der Reihe, den Commendanten, die Marquise und die Mutter an«
    – Erzähler, 123

    Dass der Blick des Grafen explizit in dieser Reihenfolge über die Anwesenden hinwandert, zeigt, dass die Verehelichung zur Zeit der Handlung eine Angelegenheit unter Männern war. Zunächst muss der Vater überzeugt werden, nicht die Tochter, die ja die Braut sein soll. Bezeichnend ist, dass das ganze vorangegangene Gespräch sich vor allem zwischen dem Grafen von F… und dem Herrn von G…, zwischen potenziellem Bräutigam und potenziellem Brautvater also, abgespielt hat.

  • »Der Forstmeister, indem er sich bei [der Marquise] niederließ, fragte wie [der Graf] ihr denn, was seine Person anbetreffe, gefalle?«
    – Erzähler, Forstmeister, 128

    Der Heiratsantrag des Grafen liegt bereits acht Seiten zurück – jetzt erst fragt jemand, was die Marquise davon hält. Dass es ihr Bruder ist, der sich herablässt, die intime Frage zu stellen, ist ein weiterer Beleg dafür, dass in der Welt der Marquise von O… die Ehe eine Angelegenheit unter Männern ist. Die Marquise ist aber gerade deswegen eine emanzipative Figur, weil sie exakt aus diesem Korsett ausbricht.

  • »Worauf er, mit einer aufflammenden Freude, erwiderte: er auch nicht! und hinzusetzte, ob sie ihn heiraten wolle?«
    – Erzähler, Graf von F…, 120

    An dieser Textstelle fallen mehrere Besonderheiten auf. Zunächst bezieht sich dieser Satz auf etwas, was im vorherigen Satz gesagt wurde und zeigt so das tiefe intratextuelle Geflecht an, von dem er ein Teil ist. An diesem Satz erkennt man aber auch deutlich, wie die Geschehnisse in unglaublicher Schnelligkeit auf die Rezipienten (und die Marquise) einprasseln. Der Graf ist noch in der Antwort auf eine Frage und stößt schon, knapp nach der Begrüßung, seinen Heiratsantrag hervor. Außerdem zeigt sich in der Textstelle, wie Kleists Umgang mit der Syntax und Interpunktion beschaffen ist. Hier ein unüblicher Doppelpunkt, dort ein Ausrufezeichen, nach dem es einfach mit der Konjunktion »und« weitergeht, der Wechsel von direkter und indirekter Rede, ohne dass jemals Anführungszeichen verwendet würden. Zwischen Figuren- und Erzählerrede ist oftmals gar nicht mehr zu unterscheiden.

  • »Die Marquise antwortete, mit einiger Verlegenheit: er gefällt und mißfällt mir; und berief sich auf das Gefühl der anderen«
    – Erzähler, Marquise, 128

    Hier zeigt sich einerseits die charakterliche Ambivalenz des Grafen – und zwar im Spiegel der Marquise. Doch auch deren eigene Ambivalenz wird hier offen thematisiert. Der Graf gefällt ihr nicht zuletzt, weil er sie vor den Soldaten gerettet hat; Missfallen hingegen erregt sein drängendes, heftiges Wesen.

  • »Die Hebamme versetzte, daß dies, außer der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestoßen wäre«
    – Erzähler, Hebamme, 135

    Hier wird das Thema der unbefleckten Empfängnis, das den ganzen Text durchwebt, einmalig angesprochen. Freilich im Modus der Zurückweisung, was bedeutet, dass der Text an dieser Stelle auf eine paradoxe Weise explizit wird. Der Text wird explizit dahingehend, dass er sagt, das in ihm verhandelte Geschehen sei dezidiert keine Wiederaufnahme des Stoffes rund um Maria und ihre unbefleckte Empfängnis. Das wiederum bedeutet, dass es sich um eine Vergewaltigung der schlafenden Marquise handeln musste. Diese aber wird durch einen Gedankenstrich übergangen oder vertreten. Der Text verweist in der Figurenrede der Amme also auf seine eigene Verfasstheit, platziert auch einen Hinweis auf das eigentliche Skandalon, um das er kreist, das Skandalon aber ist zensiert, sodass die Kreisbewegung weiter fortgesetzt werden kann.

  • »Doch als die Marquise sagte, daß sie wahnsinnig werden würde, sprach die Mutter, indem sie sich vom Diwan erhob: geh! geh! du bist nichtswürdig! Verflucht sei die Stunde, da ich dich gebar! und verließ das Zimmer«
    – Erzähler, Frau von G…, 135

    Diese Textstelle schließt an die dritte scheinbare Verleumdung seitens der Marquise an. Drei Mal fragt die Mutter, ob die Marquise sich nicht doch eines Fehltrittes schuldig gemacht hätte und drei Mal verneint diese. Das erinnert auffällig an die neutestamentliche Erzählung von Jesus und Petrus und der dreimaligen Verleugnung Jesu durch seinen Jünger bei seiner Gefangennahme. Diese Anklänge motivieren auch den heftigen, geradezu biblischen Ausbruch der Mutter, von dem diese später nichts mehr wissen will, sondern alle Verantwortung beim Vater sucht.

  • »Ich will nichts wissen, versetzte die Marquise«
    – Marquise, Erzähler, 141

    Angesichts der vernichtenden Kritik, der die Novelle ausgesetzt war, verfasst Kleist folgendes Epigramm: »Dieser Roman ist nicht für dich, meine Tochter. In Ohnmacht! / Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu« (305). Dies zielt bereits auf eine Frage, die auch in der Forschung umstritten ist: Hat die Marquise etwas von der Vergewaltigung gewusst oder wenigstens geahnt (Pfeiffer 231)? Die Textstelle zeugt von einer Ambivalenz, denn die Marquise scheint zu ahnen, was sie nicht wissen will.

  • »Er fühlte daß der Versuch, sich an ihrem Busen zu erklären, für immer fehlgeschlagen sei, und ritt schrittweis, indem er einen Brief überlegte, den er jetzt zu schreiben verdammt war, nach M…«
    – Erzähler, 141

    Hier zeigt sich, wie sehr das geschriebene Wort innerhalb des Kleistschen Kosmos gegenüber dem gesprochenen Wort positioniert wird. Etwas Geschriebenes – vor allem wenn es, wie im Text geschehen, über Anführungszeichen aus dem eigentlichen Text ausgegliedert wird – hat hohe Verbindlichkeit. Das Geschriebene ist das Domizil des Machtwortes. Wo mündliche Kommunikation versagt, kann der Graf noch ganz auf die schriftliche Kommunikation zurückgreifen, die ihm zur Verfügung steht. Das Ergebnis gibt ihm Recht: Er musste immerhin einen offiziellen Brief auf die Annonce hin verfassen, damit er als Ehemann zugelassen wird.

  • »[E]r würde ihr damals nicht als Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre«
    – Erzähler, Marquise, 157

    Hier zeigt sich wieder die tiefe Ambivalenz im Verhältnis zwischen der Marquise und dem Grafen. Zunächst erschien er ihr als Engel, da er sie vor der Rotte Soldaten gerettet hatte. Dann aber, als der Marquise klar wurde, was passiert sein muss, erschien er ihr als Teufel. Beide Imaginationen sind als Extreme weit entfernt davon, zutreffend zu sein. So wie das ursprüngliche, idealisierende Bild unzutreffend war, könnte auch das Bild des Grafen als Teufel übertrieben sein, wie der Text nahelegt. Eine Aussage der Novelle könnte also auch sein, dass sich Menschen mit Extremata nicht beschreiben lassen. Sie sind weder gut noch böse.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.