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Leben des Galilei

Interpretation

Der Widerstreit zwischen Wissenschaft und Religion

Die gegensätzlichen Ansichten der Kirchenvertreter und Wissenschaftler bestimmen den zentralen Konflikt des Dramas »Leben des Galilei« von Bertolt Brecht. Diese vom Schauspiel aufgeworfene Problematik spiegelt die realhistorische Auseinandersetzung zwischen den frühneuzeitlichen Vertretern der aufkeimenden Naturwissenschaften und einem überkommenen christlich geprägten Weltbild des Mittelalters, auf dem sich die Feudalherrschaft und Vormachtstellung der Kirche begründet. Im Drama wird der »Kampf um das richtige Weltbild« ausgetragen und »bildet den thematischen Hintergrund des Stücks« (Hahnengreß 44).

So lassen sich die Figuren sehr eindeutig den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Weltansichten zuordnen. Während die geistlichen und adeligen Personen der Tradition verpflichtet sind und sich auf die alten Autoritäten wie Ptolemäus und Aristoteles sowie die Heilige Schrift berufen, gibt es, vor allem im aufstrebenden Bürgertum, ausgebildete Wissenschaftler, die eine neue Zeit des Fortschritts einläuten möchten.

Kaum beteiligt an dieser Diskussion ist der sogenannte Dritte Stand, der sich hauptsächlich aus armen Bäuerinnen und Bauern zusammensetzt. Doch dadurch, dass Galilei anstrebt, seine Schriften nicht mehr nur in Latein, sondern auch »in der Sprache des Volkes« (94) zu formulieren, macht er das Wissen teilweise auch für diese Gesellschaftsschicht zugänglich.

Mit Galileis Äußerungen zum kopernikanischen Weltsystem räumt er auch mit der bisherigen, über viele Jahrhunderte gewachsenen Gesellschaftsordnung auf, weswegen er sowohl für den Adel als auch für den Klerus eine Bedrohung darstellt. Der Erste und Zweite Stand verfolgen dabei nicht nur religiöse, sondern vor allem auch wirtschaftliche Interessen, da sie mögliche Aufstände der zahlenmäßig überlegenen Bauern und damit den Zusammenbruch des Feudalsystems fürchten. So bleibt ihnen nur das Mittel der Zensur und die kompromisslose Gewaltausübung der Inquisition, um Galilei zum Schweigen und schließlich zum Widerruf zu bringen.

Mit dem Ende des Dramas und der Übergabe von Galileis »Discorsi« an seinen Schüler Andrea lässt Brecht einen Ausweg aus der scheinbar unüberwindlichen Misere. Hoffnungsvoll wird »ein neues Zeitalter« (129) propagiert, das sich nicht mehr allein auf den Glauben, sondern vor allem auf die Vernunft und den Zweifel als antreibende Kraft gründet.

Die Frage nach dem Ethos des Wissenschaftlers

Bertolt Brecht war einer der ersten Autoren, die den »Physiker als Dramenfigur und die Physik als Gegenstand des Theaters« (K. Müller 2004, 379) einführten. Besonders die Erfindung der Atombombe und die dadurch bedingten atomaren Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki drängten Brecht zu einer Neubearbeitung seines Stücks und der Frage nach der moralischen Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers. So gestaltete Brecht die Figur Galileo Galilei in der amerikanischen Fassung von einem »listigen Widerstandskämpfer« zu einem »soziale[n] Verräter« (H. Müller 2008, 227) um.

Ausgehend und beeinflusst von den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts überträgt Brecht die Frage nach dem Ethos des Wissenschaftlers in die frühe Neuzeit und damit in eine Epoche, in der die modernen Naturwissenschaften gerade erst im Begriff waren zu entstehen. Galileo Galilei im Schauspiel Brechts ist in diesem Sinne also »keine historische Figur, sondern eine fiktive aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts« (K. Müller 2004, 387). 

Bis zu seinem Widerruf überwiegen die positiven Aspekte Galileis, der sich trotz aller Hindernisse nicht von seinen astronomischen Forschungen abbringen lässt. Im vierzehnten Bild kommt es dann zu einer Selbstverurteilung des Wissenschaftlers, der Verrat an seinem Beruf und damit auch an der Gesellschaft begangen hat. So hat er in einer historisch bedeutsamen Situation Schwäche gezeigt und sein eigenes Wohl über seine Verantwortung als Wissenschaftler gestellt.

Außerdem hat er mit der Niederschrift und Aushändigung der »Discorsi« an die Inquisition ermöglicht, dass dieses wichtige Wissen für ökonomische Zwecke missbraucht wird. Ob die Selbstanklage Galileis gegenüber seinem Schüler Andrea gerechtfertigt erscheint, bleibt der Meinung des Publikums überlassen.

Veröffentlicht am 13. November 2023. Zuletzt aktualisiert am 13. November 2023.