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Emilia Galotti

Interpretation

Kritik an der Hofgesellschaft

Die Epoche der Aufklärung löst die Epoche des Barocks ab. Der Dreißigjährige Krieg, welcher das 17. Jahrhundert prägnant beeinflusste, führte zum Elend der Bevölkerung. Demgegenüber stellten sich die absolutistischen Herrscher der Zeit, die in prunkvollem Luxus und in grenzenloser Verschwendung lebten. Lessings Werk greift diese willkürlichen Herrschaftsverhältnisse des Adels auf, wenn auch weniger das Elend der unteren sozialen Schichten thematisiert wird. 

Dass Lessing in »Emilia Galotti« die höfische Gesellschaft kritisiert, kann anhand diverser Auftritte des Prinzen interpretiert werden. Bereits zu Beginn des Trauerspiels erhält das Publikum einen Einblick in die Willkürherrschaft des Prinzen. Beim Unterzeichnen von Bittschriften entscheidet er sich, die Bitte einer Frau namens Emilia Bruneschi zu bewilligen. Dies tut er nur, weil die genannte Frau denselben Vornamen trägt wie sein Objekt der Begierde: »Viel gefordert, sehr viel.—Doch sie heißt Emilia. Gewährt!« (S. 5, Z. 11f.). Der Prinz verfügt zudem über die Staatskasse. Als Conti ihm das Bild von Emilia Galotti vorbeibringt, möchte der Prinz es behalten. Der Preis ist ihm unwichtig, sodass er Conti gewährt, so viel zu berechnen, wie er vermag. Es zeigt, wie freigiebig und unachtsam der Prinz mit der Staatskasse umgeht, um seine subjektiven Vorlieben zu befriedigen. 

Eine weitere Szene, die die Gewissenlosigkeit und Gleichgültigkeit des Prinzen betont, erweist sich als Camillo Rota mit einem Todesurteil an ihn herantritt. Zunächst teilt der Prinz seinem Rat mit, er könne über die Bittschrift der Emilia Bruneschi verfahren, wie er mag. Wie unpassend die Aussage des Prinzen ist, illustriert die Antwort Camillos: »Nicht wie ich will, gnädiger Herr« (S. 19, Z. 14). Als Camillo dann die Unterzeichnung des Todesurteils erfragt, antwortet der Prinz: »Recht gern« (S. 19, Z. 17). Die Distanziertheit des Prinzen zum Bürgertum ist erkennbar. Überdies gelten politische Ehen als ein verbreitetes Instrument für die Herrschaftsausweitung und strategische Verbündnisse. Der Prinz soll die Prinzessin von Massa heiraten. Dem widersetzt er sich, um eine bürgerliche Frau zu umwerben, die bereits verlobt ist. Dies zeigt, dass er versucht, sich aus seiner Verantwortung als Fürst zu entziehen. Er sieht sich gar als Opfer. 

Letztlich verbildlicht die Mühe und das tragische Ausmaß, welches der Prinz in die versuchte Eroberung und Entführung Emilias investiert, dass ihm jedes Mittel recht ist, um sein Ziel zu erreichen. Er steht nämlich als Fürst hierarchisch ganz oben, sodass er keine Konsequenzen fürchten muss. Gleichzeitig nutzt er die ihm unterstehenden Bediensteten für seine Schwärmerei. Lessings Werk endet offen. Daher kann interpretiert werden, dass der Prinz für sein Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen wird. Auch hier skizziert Lessing den Absolutismus. 

Bürgerliche Familie und Tugend als höchstes Gut

Lessing stellt den Adligen in seinem Werk eine bürgerliche Familie gegenüber. Dabei zeichnet er ein traditionelles Familienbild. In der Epoche der Aufklärung gewinnt die Institution der patriarchalen Familie an Bedeutung. Sie wird als Naturordnung angesehen. Dabei steht der Vater an oberster Stelle (Schurf, S. 186). Den geeigneten Schauplatz bildet das Familienhaus der Galottis im zweiten Aufzug. Odoardo und Claudia führen ein liebevolles Verhältnis mit ihrer Tochter Emilia. Sie freuen sich auf die bevorstehende Hochzeit Emilias mit Graf Appiani. Auch von Appiani sprechen sie in höchsten Tönen und nehmen ihn bereitwillig als Sohn an. Odoardo sagt demgemäß über ihn: »Kaum kann ich’s erwarten, diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu nennen« (S. 24, Z. 31f.). Überdies referiert Appiani auf seine Schwiegereltern als Vater und Mutter. Demzufolge herrschen harmonische Familienzustände.

Die bürgerlichen Figuren werden nicht getrieben von Habgier oder dem Wunsch nach Macht, sondern die Tugendhaftigkeit erscheint als ihr höchstes Gut. Deshalb sehen Emilia, Odoardo und Claudia den Graf Appiani nicht als Stellvertreter des höfischen Lebens und seiner Werte. Appiani lehnt es nämlich ab, sich dem Prinzen zu unterwerfen. Odoardo stellt sich als strenger und besorgter Vater über seine Familie. Er sieht das höfische Leben als gefährlich und ist besorgt um Emilias Tugend.

Diese Rolle intensiviert sich über den Verlauf der Handlung und er sucht das Lustschloss in Dosalo auf. Als Orsina ihm vom Tod Appianis berichtet, möchte Odoardo Rache für diesen ausüben. Seine Frau schickt er sodann zurück in Sicherheit nach Guastalla. Odoardo ist diejenige Figur, die Emilia zur Rettung ihrer Tugend ersticht. Zu groß schätzt er die Gefahr ein, wenn sie im Hause der Grimaldis verwahrt werden und der Willkür des Prinzen ausgesetzt sein sollte. Den Prinzen sieht er jedoch bereits von Anfang an als seinen Feind. Es zeigt, dass Odoardo in solch einem Ausmaß um die Tugend seiner Tochter und die Gefahren einer absoluten Herrschaft des Prinzen besorgt ist, dass er den Prinzen unter Generalverdacht stellt. Letztlich bewahrheiten sich seine Befürchtungen.

Rache

Ein Motiv, welches den Verlauf der Handlung prägnant beeinflusst, ist Rache. Dafür gibt es in »Emilia Galotti« ein deutliches Beispiel und der erste Aufzug in Lessings Trauerspiel bildet hierfür die geeignete Grundlage. Der Prinz von Guastalla liebt seine Geliebte Gräfin Orsina nicht mehr: »ich habe sie auch wirklich geliebt. Aber—ich habe!« (S. 6, Z. 8). Ihren Brief liest er nicht. Als Conti dem Prinzen ihr Gemälde zeigt, reagiert er mit Hohn. Beispielsweise beschreibt er Orsinas Augen als »Medusenaugen« (S. 8, Z. 27). Folglich weist der Prinz seine einstige Geliebte unverkennbar zurück. 

Zusätzlich zu dieser Zurückweisung erblicken Orsinas Kundschafter den Prinzen und Emilia bei der Messe und berichten Gräfin Orsina von dem Vorfall. Somit sieht Orsina ihre Stellung als Geliebte des Prinzen durch Emilia bedroht. Dieses Gefühl verstärkt sich insbesondere, nachdem der Prinz nicht auf ihren Brief reagiert und nach Dosalo aufbricht. Das Lustschloss des Prinzen ist nämlich der Ort, an dem die beiden einst Zweisamkeit genossen. Zwar sagt Orsina zu Marinelli, sie wäre nur nach Dosalo gekommen, da sie vermutete, der Prinz wolle sie dort antreffen. Allerdings spricht dagegen, dass sie einen Dolch und ein Gift bei sich trägt. Dies zeigt ihre wahre Intention: Rache. Doch kann sie ihre Rache nicht wie gewollt ausführen. Als Odoardo ins Schloss eintritt, nutzt sie die Gelegenheit. Sie erzählt Odoardo von den Geschehnissen und überreicht ihm ihren Dolch. Das Ausmaß der Rachelust Orsinas beflügelt damit das Schicksal Emilias.

Veröffentlicht am 13. Februar 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.