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Nathan der Weise

Akt 3, Szenen 7-10

Zusammenfassung

Nathan fragt den Sultan, ob er ihm eine Geschichte erzählen dürfe, bevor er ihm die wahre Antwort auf seine Frage anvertrauen werde. Saladin willigt begeistert ein, denn Geschichten möge er gern, und Nathan beginnt: Vor vielen Jahren lebte im Osten ein Mann, der einen wertvollen Ring mit einem Stein aus Opal besaß. Dieser Ring hatte die Kraft, den Träger seinen Mitmenschen sowie Gott angenehm zu machen. Um sicherzustellen, dass der Ring in seiner Familie blieb, übergab der Mann den Ring vor seinem Tod an seinen liebsten Sohn. Dieser sollte den Ring dann ebenfalls seinem liebst Sohn übergeben, und so sollte es immer weitergehen.

Irgendwann aber gab es einen Vater, der alle seine drei Söhne gleich lieb hatte und sich beim besten Willen nicht entscheiden konnte, wer des Ringes am meisten würdig sei und wem er ihn vermachen sollte. Jedoch drängte die Zeit. Der Vater spürte, dass er bald sterben würde und eine Entscheidung treffen müsste. Er ließ daher zwei weitere Ringe anfertigen, die dem Original haargenau glichen. So konnte er all seinen drei Söhnen einen Ring vermachen.

Das führte jedoch dazu, dass sich nach dem Tod des Vaters jeder der Söhne als Erbe sah und dessen Besitztümer an sich nehmen wollte. Die drei Männer gerieten in einen Streit darüber, wer den rechten Ring besäße, konnten aber die Antwort nicht finden. Deshalb begannen sie, sich gegenseitig zu beschuldigen, die Ringe gefälscht zu haben. Sie konsultierten einen Richter, der ihnen einen Weg nannte, herauszufinden, wer den echten Ring besaß: nämlich derjenige, der von den jeweils anderen am meisten geliebt wurde. Schließlich sollte das originale Schmuckstück seinen Träger allseits beliebt machen. Jeder der Brüder aber liebte am meisten sich selbst. Sie mussten also erkennen, dass sie alle betrogen worden waren und der echte Ring vermutlich schon lange nicht mehr existierte.

Der Richter erklärte den Brüdern daraufhin, dass ihr Vater sie alle sehr und alle gleich geliebt haben musste. Ansonsten hätte er sich nicht so sehr bemüht, jedem ein Erbstück zu hinterlassen. Sie sollten daher nun versuchen, die Kraft des Ringes auf natürliche Weise hervorzurufen, indem sie ein frommes Leben voller Liebe und ohne Vorurteile führten. Vielleicht werde, so der Richter, einer seiner Nachfolger in vielen Jahren in der Lage sein, den wahren Ring zu bestimmen. Er selbst aber sei es ganz gewiss nicht.

Nathan fragt Saladin, ob er sich nun vielleicht als dieser versprochene Nachfolger des Richters sehe. Der Sultan schreckt zurück, er will den Richtstuhl unter keinen Umständen einnehmen. Er will Freundschaft mit Nathan schließen. Im Gegenzug bietet dieser ihm den von Saladin ehemals erhofften Kredit an. Auch erwähnt Nathan, dass der vom Sultan verschonte Tempelherr noch in der Stadt sei und das Leben seiner Tochter gerettet habe. Saladin ist erfreut und wünscht, den Tempelherrn noch einmal zu sehen.

In der Zwischenzeit wandert der Tempelherr wieder einmal unter den Palmen auf und ab und denkt über seine Gefühle nach. Er kommt zu dem Schluss, dass er sich in Recha verliebt hat und nicht mehr ohne sie leben kann. Dass sie eine Jüdin und er ein Christ ist, kümmert ihn nicht besonders. Seit seiner Begnadigung durch Saladin hat sich seine Lebensanschauung so sehr geändert, dass auch all seine Vorurteile gegenüber anderen Religionen nun verschwunden sind.

Nathan und der Tempelherr laufen einander über den Weg. Nathan richtet dem Tempelherrn aus, dass der Sultan ihn sprechen wolle und der Tempelherr gesteht ihm seine soeben erwachte Liebe zu Recha. Anstatt sich jedoch zu freuen und ihn als Sohn in sein Haus einzuladen, reagiert Nathan eher reserviert und stellt dem Tempelherrn ein paar seltsame Fragen zu seinen Ahnen, insbesondere seinem Vater Conrad von Stauffen.

Daja trifft den Tempelherrn, will aber ganz offensichtlich nicht dabei gesehen werden, denn sie bittet ihn, das Gespräch verdeckt hinter ein paar Bäumen zu führen. Der Tempelherr verrät Daja, dass er sich in Recha verliebt habe und Daja bittet ihn daraufhin, das Mädchen zu retten, indem er es mit nach Europa nehmen möge. Recha sei nämlich eigentlich keine Jüdin, sondern eine gebürtige Christin. Nathan, der eigentlich auch nur ihr Adoptivvater ist, habe sie lediglich im jüdischen Glauben aufgezogen. Der Tempelherr ist entsetzt, dass Nathan, den er so respektiert und bewundert, das Mädchen so falsch und gegen ihre Natur erzogen haben kann. Er hält es nicht für richtig, dass Recha niemals von ihrer wahren Herkunft erfahren hat.

Analyse

Anstatt mit einer einfachen kurzen Wahrheit antwortet Nathan auf die komplizierte Frage Saladins, welche Religion die »wahre« sei, mit einer Geschichte. Diese ist allgemein als die »Ringparabel« bekannt. Die drei Söhne in Nathans Geschichte stehen für die drei monotheistischen Religionen, und ihr Vater steht für Gott. Dieser hat alle seine drei Kinder – das Christentum, das Judentum und den Islam – gleich lieb. Er respektiert und schätzt sie alle, und möchte allen von ihnen seinen Segen geben. Indem er ihnen drei vollkommen gleiche Ringe vermacht, glaubt er, genau das zu erreichen.

Die drei Religionen hingegen zerstreiten sich. Sie bezichtigen sich gegenseitig des Betrugs und der Lüge. So wie jeder Bruder sich selbst am meisten liebt, hält sich jede Religion für die beste und einzig wahre. Eigentlich aber sind sie alle gleich, wie ihnen auch der hinzugezogene Richter deutlich zu machen versucht. Es ist unmöglich zu beurteilen, wer von ihnen das echte Erbstück des Vaters, beziehungsweise den wahren Segen Gottes besitzt.

Die Prämisse von Nathans Parabel ist, dass jede Religion von Gott gesegnet ist und ihre Daseinsberechtigung hat. Die drei Völker sollten daher aufhören, sich gegenseitig zu bekämpfen. Lieber sollten sie sich alle, wie der Richter es den drei Brüdern geraten hat, auf ein Leben voller Gerechtigkeit und Liebe, ohne Hass und Vorurteile konzentrieren: »Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen!« (S. 92).

Während Nathan dem Sultan die Ringparabel erzählt, tut der Tempelherr genau das, was die Brüder in der Geschichte auch hätten tun sollen: Er entledigt sich seiner Vorurteile gegenüber allen anderen Religionen. Es widerstrebt ihm nicht mehr, als Christ ein jüdisches Mädchen zu lieben. Er fühlt sich, als hätte er durch Saladins Begnadigung einen neuen Kopf erhalten, »der von allem nichts weiß, was jenem eingeplaudert ward, was jenen band.« (S. 96) Der Tempelherr will einen neuen Lebensabschnitt beginnen.

In seinem darauffolgenden Gespräch mit Daja zeigt sich allerdings, dass der Tempelherr nicht ganz so losgelöst von seinen bisherigen Einstellungen ist, wie er wenige Augenblicke zuvor noch behauptet hat. Dass ein christliches Mädchen als Jüdin erzogen wurde, hält er für schlicht inakzeptabel. Scheinbar sind seine und Nathans Weltanschauungen doch ein wenig unterschiedlicher, als die beiden Männer vor ein paar Stunden noch angenommen haben. Denn während Nathan kein Problem darin sieht, ein Kind fern von seiner gebürtigen Religion zu erziehen, kommt das in den Augen des Tempelherrn einem Verbrechen gleich. Für Nathan ist die gebürtige Religion eines Menschen einzig und allein dem Zufall geschuldet. Der Tempelherr hingegen sieht darin eine höhere Bedeutung.

Veröffentlicht am 1. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. März 2023.