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Nathan der Weise

Akt 1, Szenen 4-6

Zusammenfassung

Daja berichtet Nathan, dass sie den Tempelherrn gefunden habe: Er wandert, Datteln essend, wieder unter den Palmen auf und ab. Recha habe ihn ebenfalls erspäht und bitte nun Nathan, den Tempelherrn zum Gespräch aufzusuchen. Der schickt stattdessen jedoch Daja zum Tempelherrn, die diesem seine Rückkehr nach Jerusalem melden soll. Nathan ist sich sicher, dass der Tempelherr daraufhin unverzüglich sein Haus aufsuchen werde, da er es wahrscheinlich einfach in Abwesenheit Nathans nicht betreten wollte und nur deshalb noch nicht erschienen ist. Daja widerspricht: Der Tempelherr werde trotzdem nicht zu ihnen kommen, denn als Christ werde er das Haus eines Juden nicht betreten.

Der Tempelherr geht in der Zwischenzeit eine Palmenallee auf und ab. Dabei wird er von einem Klosterbruder angesprochen, der dem Tempelherrn vom Patriarchen des Klosters nachgeschickt wurde und ihm im Auftrag dessen auf den Zahn fühlen soll. Er wolle wissen, warum der Tempelherr, ein ehemaliger Gefangener, von Saladin begnadigt worden sei. Dieser berichtet von einer emotionalen Reaktion Saladins, als dieser sein Gesicht erblickte. Daraufhin habe der Sultan ihn in die Freiheit entlassen.

Der Klosterbruder berichtet nun von seinem eigentlichen Auftrag. Der Patriarch wünsche, dass der Tempelherr einen Brief für ihn überbringe. Er schmeichelt dem Tempelherrn, dass es sich dabei um einen besonders wichtigen Brief handele, dessen erfolgreiche Überbringung im Himmel von Gott belohnt werde. Der Tempelherr selbst, so wünscht der Patriarch, solle außerdem zum Anführer einer Revolte gegen Saladin werden, denn er kenne die Organisation von Saladins Stadt sehr gut und wisse, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Dieser weigert sich. Er schulde dem Sultan sein Leben; er könne ihn nun nicht des seinen berauben, auch wenn dieser dem Christentum gegenüber feindlich eingestellt ist. Der Klosterbruder verrät dem Tempelherrn, dass Saladins Gnade kein Akt der Freundschaft gewesen sei, sondern er ihn lediglich an seinen Bruder erinnert habe. Der Tempelherr jedoch weigert sich weiterhin, den Auftrag des Patriarchen anzunehmen.

Kurz darauf sucht Daja den Tempelherrn auf und überbringt ihm Nathans Einladung. Außerdem betont sie, wie wohlhabend dieser sei und dass sein Volk ihn als Nathan den Weisen verehre. Vor allem aber sei er gutmütig. Das sei auch der Grund, weshalb sie selbst, eine Christin, so bereitwillig ein jüdisches Mädchen erziehe. Der Tempelherr reagiert abweisend, er messe seiner Rettung des Mädchens keine Bedeutung bei. Er bittet sie, ihn in Ruhe zu lassen, um nichts mit einer jüdischen Familie zu tun haben zu müssen. Er habe Recha längst vergessen. Daja entgegnet, dass das Mädchen aber nach wie vor auf seine Wiederkehr hoffe.

Analyse

Nathan zeigt dem Tempelherrn gegenüber eine beeindruckende Offenheit. Obwohl er selbst Jude ist und über die Zugehörigkeit des Tempelherrn zum Christentum informiert ist, lädt er ihn zu sich nach Hause ein. Damit gibt er deutlich zu erkennen, dass ihm verschiedene Religionszugehörigkeiten nicht als Hindernis erscheinen. Mehr noch: Er erwartet zunächst gar nicht, dass der Tempelherr es aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Christentum als unvereinbar ansieht, mit Nathan, der dem Judentum angehört, zu verkehren. Stattdessen glaubt er, dieser wolle sein Haus nur deshalb nicht aufsuchen, da es sich für ihn nicht schicke, es in Abwesenheit des Hausherrn zu betreten.

In der darauffolgenden Szene tritt der Tempelherr zum ersten Mal selbst in Erscheinung. Bisher war noch nicht viel über ihn bekannt: Er hat Recha aus den Flammen gerettet, Dajas Gesprächsversuche verspottet und sich geweigert, ein jüdisches Haus zu betreten. Diese Fakten kreieren ein sehr ambivalentes Bild des Tempelherrn. Er mag vielleicht das Leben eines Mädchens gerettet haben, wirkt gleichzeitig jedoch voreingenommen und abweisend. In seiner Unterhaltung mit dem Klosterbruder wird dieser Eindruck jedoch widerlegt, denn der Tempelherr zeigt Menschenfreundlichkeit und Rechtschaffenheit.

Er weigert sich, als Spion zu fungieren und den Auftrag eines Patriarchen anzunehmen, nur weil dieser ihm Ruhm verspricht. Weiterhin beurteilt er den Sultan nicht nach seiner feindlichen Einstellung gegenüber dem Christentum, sondern danach, wie gnädig und freundschaftlich dieser ihm persönlich gegenüber aufgetreten ist. Der Tempelherr sieht die Menschlichkeit des gefürchteten Sultans und lässt sich von nichts anderem überzeugen. Unterschiedliche Religionszugehörigkeiten sind für ihn kein Grund zur Feindschaft – eine Einstellung, die der Nathans sehr ähnelt.

Als Daja mit dem Tempelherrn zu sprechen versucht, wirkt dieser jedoch von einer Sekunde auf die andere wieder abweisend und kalt. Je mehr Daja Nathans Dankbarkeit und Rechas Hoffnungen betont, desto kälter reagiert der Tempelherr. Von seiner Menschenfreundlichkeit scheint nichts mehr übrig. Ebenso wenig von seiner Toleranz. »Jud’ ist Jude. Ich bin ein plumper Schwab« (S. 40), sagt er, um zu begründen, warum er nicht mit Nathans Familie assoziiert werden will. Seine plötzliche Feindseligkeit anderen Religionen gegenüber erweckt den Eindruck, er könnte ein Geheimnis verbergen.

Veröffentlicht am 1. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. März 2023.