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Nathan der Weise

Akt 2, Szenen 1-4

Zusammenfassung

Sultan Saladin und seine Schwester Sittah sitzen gemeinsam beim Schachspiel. Sittah gewinnt das Spiel mühelos und verspottet ihren Bruder für seine mangelnde Konzentration. Saladin gesteht, dass er mit den Gedanken nicht ganz beim Spiel gewesen sei, denn es beschäftige ihn, dass er es nicht geschafft habe, den Waffenstillstand zwischen seiner Stadt und den Christen zu verlängern.

Saladins Plan war, den Waffenstillstand durch eine Doppelhochzeit zu festigen. Seine Schwester Sittah und sein Bruder Melek hätten zwei Mitglieder derselben Christenfamilie heiraten sollen. Dieses Unterfangen ist jedoch gescheitert, denn die Christen verlangten, dass Sittah und Melek vor der Hochzeit den christlichen Glauben annehmen.

Daraufhin verrät Saladin seiner Schwester weiterhin, dass sie sich in großer finanzieller Not befänden. In diesem Moment stößt Al-Hafi hinzu. Saladin teilt ihm mit, dass das erwartete Geld aus Ägypten noch nicht eingetroffen sei und beauftragt seinen Schatzmeister, derweil Kredite bei den Reichen aufzunehmen. Saladin fragt, ob Al-Hafi sich nicht beim wohlhabenden und weisen Nathan etwas leihen könne.

Al-Hafi erwähnt nicht, dass er bereits mit Nathan über einen Kredit gesprochen hat. Stattdessen erfindet er andere Gründe, weshalb es sich nicht lohnen würde, Nathan nach Geld zu fragen. Sein Freund sei zwar großmütig und unterstütze die Armen, aber Reichen würde er niemals Geld borgen. Das sei entgegen seinen Prinzipien. Nathan wolle, behauptet Al-Hafi, allein derjenige sein, der anderen gibt und hilft. Daher sehe er in Saladin Konkurrenz. Dieser sei nämlich ein so großmütiger Herrscher, dass Nathan um seinen Ruf fürchten müsse, wenn er ihm zu noch mehr Reichtum verhelfe. Geld sei daher von Nathan ganz bestimmt nicht zu erwarten.

Al-Hafi verabschiedet sich eiligst, Saladin und Sittah bleiben skeptisch zurück. Sie wundern sich, dass ihr Schatzmeister vor Kurzem noch entzückt Nathans Klugheit, Tugend und Unvoreingenommenheit gepriesen hat und nun so kalt, beziehungsweise vorsichtig von ihm spricht. Sittah lässt sich von Al-Hafis Bedenken bezüglich Nathan daher nicht beeindrucken. Sie will sich lieber einen Plan überlegen, durch einen Hinterhalt an das Geld des Juden zu gelangen.

Recha derweil kann es kaum erwarten, dass Nathan das von ihr lang ersehnte Gespräch mit dem Tempelherrn führt. Sie und Nathan sitzen gemeinsam vor ihrem Haus und erwarten seine Ankunft. Dabei verspricht Nathan seiner Adoptivtochter, sie immer als diejenige zu akzeptieren, die sie ist, und Recha verspricht ihrem Vater, immer ehrlich zu ihm zu sein. Daja stößt zu ihnen und kündigt an, dass der Tempelherr gleich um die Ecke kommen werde. Nathan rät Recha und Daja, sich im Haus zu verstecken; er wolle zunächst allein mit dem Mann sprechen.

Analyse

Saladin und Sittah wirken in dieser Szene wie ein sehr gewöhnliches Geschwisterpaar. Sie ziehen sich gegenseitig auf, teilen ihre Gedanken und Sorgen miteinander und es ist offensichtlich, dass sie einander lieben. Saladin wirkt weniger wie der furchteinflößende Sultan, als der er in vorherigen Szenen manchmal präsentiert wurde, sondern mehr wie ein liebender, um seine Familie besorgter Bruder. Auch Sittah erweckt den Eindruck einer fürsorglichen Schwester. Ihr geschwisterlicher Zusammenhalt könnte nicht deutlicher sein.

Saladin und Sittah scheinen sich außerdem eine aufklärerische Einstellung angeeignet zu haben: Genau wie Nathan und der Tempelherr sind sie in der Lage, ihre Mitmenschen nicht nur als Angehörige einer Religion zu sehen, sondern als Menschen. Sie können die Christen nicht verstehen, denen ihr Christentum wichtiger ist als ein tugendhaftes Leben und Menschlichkeit. »Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen. Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen«, sagt Sittah zu ihrem Bruder (S. 44).

Den Geschwistern hingegen ist der Frieden mit den Christen wichtiger als der Krieg zwischen ihren unterschiedlichen Religionen. In dieser Hinsicht sind die Geschwister sehr modern und vertreten die Werte der Aufklärung, Menschlichkeit, Toleranz und Rationalität. Im Gespräch zwischen Al-Hafi und Saladin wird außerdem deutlich, dass Saladin innere Werte weitaus mehr schätzt als materielle. Er nennt Reichtum das »kleinste« Gut, Weisheit hingegen das »größte« (S. 52). Nathan, erinnert er sich, besäße laut Al-Hafi beides.

Das Gespräch zwischen Al-Hafi und Saladin ist noch in einer weiteren Hinsicht interessant. Um Nathan als potentiellen Geldgeber auszuschließen, bedient sich Al-Hafi bewusst einiger Vorurteile gegenüber Juden: Sie seien zwar reich, aber geizig. Damit hofft er, Sittah und Saladin manipulieren zu können. Da die Geschwister jedoch gängigen Vorurteilen gegenüber Juden wenig Beachtung zu schenken scheinen, hat Al-Hafi mit seiner Strategie wenig Erfolg. Denn Saladin und Sittah beurteilen Menschen nicht nach ihrer Religion, sondern ihren individuellen Handlungen und Charaktereigenschaften. Und im Falle Nathans haben sich bei ihnen all die Lobeshymnen eingeprägt, die Al-Hafi in der Vergangenheit schon auf seinen Freund angestimmt hat.

Veröffentlicht am 1. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. März 2023.