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Nathan der Weise

Interpretation

Ideale der Aufklärung

»Nathan der Weise« ist ein Drama der Aufklärung und reflektiert somit auch die Werte dieser Epoche, insbesondere Humanität, also Menschlichkeit. Dieser Begriff ist sehr zentral für das Drama und kommt entsprechend häufig im Text vor. Lessings Stück vertritt die Ansicht, dass Menschen zwar von den Lehren der Religion lernen und profitieren können, diese aber nicht allein die Bildung eines Individuums ausmachen sollten (Ruth-Ellen, 1997). Sehr viel mehr Wert wird auf den gesunden Gebrauch des Verstandes gelegt. So formuliert es auch Kant in seinem berühmten Essay über die Aufklärung: »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant, Projekt Gutenberg). Menschen sollen autonom handeln und vernünftig werden. 

Im Laufe von Lessings Drama lernen die Charaktere, genau das zu tun. Der Tempelherr beispielsweise löst sich von den Verpflichtungen, die ihm durch seine Zugehörigkeit zum Orden auferlegt worden sind. Eigentlich dürfte er keine Gefühle für ein jüdisches Mädchen entwickeln, und aus diesem Grund behauptet er zu Anfang auch Nathan gegenüber, dass ihm Rechas Überleben nicht sehr nahe gehe. Aber durch seine Gespräche mit Nathan und später mit Recha erkennt der Tempelherr, dass er eigentlich ein autonomes Individuum ist, das sich nicht den strengen Regeln seines Ordens unterwerfen muss. 

Auf ähnliche Weise erkennt auch Al-Hafi, dass er nicht jeden Befehl des Sultans ausführen muss, wenn ihm der Befehl fragwürdig erscheint. Er mag der Schatzmeister des Sultans sein, aber ist dennoch ein Individuum mit der Gabe der Vernunft. Und diese Vernunft sagt ihm, dass seine Freundschaft zu Nathan mehr zählt als seine Treue zum Sultan. Genau wie der Tempelherr und Al-Hafi durchlaufen auch die anderen Charaktere des Dramas einen Prozess der Aufklärung: Sie erlangen Autonomie und Vernunft.

Ringparabel

Oft wird gesagt, dass es in »Nathan der Weise« um Toleranz geht (Goetschel, 2005). Das ist jedoch nur begrenzt richtig, denn die eigentliche Aussage des Dramas ist noch einmal deutlich stärker. Es spricht sich für religiöse Freiheit für alle Menschen aus und schließt dabei Nicht-Christen mit ein. Diese Botschaft reicht weit über bloße Toleranz hinaus (ebd.), wie sich unter anderem in der Ringparabel zeigt. 

Indem Nathan dem Sultan die Ringparabel erzählt, beantwortet er die Frage des Sultans nach der »wahren Religion«. Die Antwort, die sich aus der Ringparabel ergibt, lautet: Es gibt keine wahre Religion. Judentum, Christentum und Islam sind einander ebenbürtig und sollten die gleichen Rechte genießen. Genau wie der Vater in der Ringparabel seine drei Söhne alle gleich liebt, haben auch alle drei Religionen den gleichen Geltungsanspruch. Es gibt nicht den einen richtigen Glauben, der gefunden und von allen Menschen auf der Welt angenommen werden muss. Stattdessen haben alle Religionen ihre Daseinsberechtigung. Und genau wie die Söhne des Vaters aus Nathans Ringaparabel sind sie alle gleich viel wert. Anstatt das zu erkennen, bekämpfen sie sich jedoch gegenseitig und streiten sich um das Erbe ihres Vaters (Gottes). 

Nathans Ringparabel ist demnach eine Kritik an der Intoleranz und dem Alleingültigkeitsanspruch der Religionen. Die Ringparabel ist außerdem angelehnt an ein berühmtes Werk der Weltliteratur: Giovanni Boccaccios »Dekameron« (1620), eine Sammlung von 100 Novellen. Indem er sich auf einen wichtigen und anerkannten literarischen Vorgänger stützt, gewinnt Lessings eigene Parabel noch einmal deutlich mehr Autorität.

Abschaffung von Vorurteilen

Mit »Nathan der Weise« greift Lessing eine Reihe von religiösen Vorurteilen auf und widerlegt sie alle nacheinander. Am Anfang des Stückes lassen sich die Charaktere größtenteils noch von diesen Vorurteilen leiten. Der christliche Tempelherr hält das Leben eines jüdischen Mädchens für unwichtig, da es gegen die Regeln seines Ordens verstößt, eine emotionale Bindung zu einem nichtchristlichen Mädchen aufzubauen. Der jüdische Nathan erzieht ein christliches Mädchen lieber als Jüdin. Der muslimische Sultan schenkt ein paar gängigen Klischees über Juden Glauben. So kann Al-Hafi ihn beispielsweise leicht überzeugen, dass Nathan geizig sei und ihm deshalb keinen Kredit leihen werde.

Je mehr die Charaktere jedoch miteinander interagieren und sich gegenseitig vertrauen lernen, desto weniger halten sie an ihren anfänglichen Vorurteilen fest. Am Ende der Handlung sehen sie sich als eine große Familie. Recha und der Tempelherr erkennen ihre Liebe zueinander, zunächst romantisch, dann geschwisterlich. Saladin und Nathan schließen Freundschaft und ebenfalls lädt Saladin den Tempelherrn ein, bei ihm im Palast zu leben, wie ein Bruder. 

Im letzten Teil stellt sich sogar heraus, dass sie alle tatsächlich eine Familie sind. Es hätte nicht viel gefehlt und ihre Vorurteile hätten sie dazu gebracht, sich gegenseitig zu bekämpfen, wie die Brüder aus Nathans Ringparabel. Aber glücklicherweise haben alle Charaktere rechtzeitig auf ihren Verstand gehört und sind zur Einsicht gekommen, dass Harmonie und Humanität mehr zählen als unbegründete religiöse Feindschaften. 

Und genau das ist die Prämisse des Dramas: Es warnt vor den Gefahren von Vorurteilen. Lessing fordert seine Zuschauer auf, weniger voreingenommen durch die Welt zu gehen und ihre Mitmenschen nach ihrem Charakteren zu beurteilen, nicht nach ihrer Religion.

Veröffentlicht am 1. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. März 2023.