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Nathan der Weise

Akt 5, Szenen 1-8

Zusammenfassung

Saladins Mamelucken (Militärsklaven islamischer Herrscher) berichten ihm, dass sein Transport aus Ägypten nach langer Wartezeit endlich eingetroffen sei. Saladin beauftragt den Emir (Befehlshaber) Mansor, den Großteil der Gelder zum Vater des Sultans in den Libanon zu bringen. Die Lage dort sei aufgrund der unruhigen Tempelherrn prekär.

Währenddessen läuft der Tempelherr vor Nathans Haus auf und ab und beginnt, seinen übereilten Racheakt zu bereuen. Er schämt sich seiner eigenen Intoleranz und Vorurteile gegenüber Juden. Nathan sei Rechas wahrer Vater, auch wenn ihr gebürtiger Vater ein Christ gewesen sei. Der Tempelherr beschließt, vor dem Haus auf Nathan zu warten. In diesem Moment tritt dieser aus dem Haus, noch vertieft in ein Gespräch mit dem Klosterbruder. Von jenem hat Nathan gerade erfahren, dass es der Tempelherr ist, der den Patriarchen über Rechas gebürtige Eltern informiert hat. Nathan ist schockiert. Gleichzeitig spürt er eine enorme Erleichterung, dass sein Geheimnis endlich ans Tageslicht gekommen ist und er nun nichts mehr zu verbergen hat.

Nathan macht sich auf den Weg zum Sultan. Dabei holt ihn der Tempelherr ein und bittet ihn leidenschaftlich um Verzeihung dafür, dass er ihn an den Patriarchen verraten hat. Nathans abweisende Haltung, als er um die Hand seiner Tochter anhielt, habe ihn verletzt. Dann habe Daja ihm das Geheimnis Nathans erzählt und er glaubte daraufhin, Nathan sei den Christen feindlich gesinnt und wolle seine Tochter nicht an einen von ihnen verlieren. Daher sei der Tempelherr zum Patriarchen gegangen, habe vor diesem jedoch Nathans Namen an keiner Stelle genannt.

Damit Recha dem Patriarchen nicht in die Hände fällt, schlägt der Tempelherr nun vor, sie zu heiraten. Denn der Patriarch könne Nathan vielleicht eine unrechtmäßige Tochter, nicht aber dem Tempelherrn seine Ehefrau wegnehmen. Nathan gibt zu bedenken, dass sich ein Bruder Rechas gefunden habe. Bei diesem Bruder, einem Christen, könne sie nun leben. Dem Tempelherrn behagt die Vorstellung nicht, dass Recha nach all ihrer unchristlichen Erziehung nun gezwungen sein wird, eine Christin zu spielen. Er will Recha aufsuchen und um ihre Hand anhalten. Nathan hält ihn zurück: das Mädchen sei beim Sultan. Zusammen machen sie sich auf den Weg zum Palast. Nathan verspricht dem Tempelherrn, dass er dort nicht nur Recha, sondern auch ihren Bruder finden werde.

Im Palast sitzen Sittah und Recha beisammen. Sie haben bereits Freundschaft geschlossen und führen gerade eine Unterhaltung über den Stellenwert des Lesens, als Recha plötzlich zusammenbricht und zu weinen beginnt. Bald werde sie ihren Vater verlieren, denn Daja, mit ihrem starren Festhalten an ihrer Religion, werde ihr einen neuen aufdrängen. Recha ist hin- und hergerissen, ob sie Daja, die ihr so viel Gutes, aber auch so viel Schlechtes getan hat, lieben oder hassen soll. Noch mehr beschäftigt sie allerdings, was Daja ihr soeben enthüllt hat: Dass Recha nicht die Tochter Nathans, sondern eine gebürtige Christin und getauft sei.

Saladin stößt hinzu und Recha fleht ihn an, sie und ihren Vater nicht auseinander zu reißen. Sei es denn wirklich nur das Blut, das bestimme, wer ihr Vater sei? Saladin stimmt Recha zu: Blut allein mache jemanden noch lange nicht zum Vater. In diesem Augenblick betreten Nathan und der Tempelherr den Raum. Nathan sieht die weinende Recha und verspricht ihr, dass er ihr als Vater erhalten bleiben werde. Sie reagiert erleichtert. Der Sultan ermutigt Recha daraufhin, nun dem Tempelherrn ihre Liebe zu gestehen, und wenn jener sie verschmähe, sei er ihrer nicht würdig.

Bevor es allerdings dazu kommen kann, fährt Nathan mit einer Verkündung dazwischen. Des Tempelherren wahrer Namen sei nicht Curd von Stauffen, sondern Leu von Filnek. Er sei lediglich von Conrad von Stauffen erzogen worden, aber sein wahrer Vater sei Wolf von Filnek. Er und Recha seien also Geschwister. Nathan, Recha und der Tempelherr fallen sich in die Arme. Sie sehen sich als eine Familie, Vater und Geschwister, auch wenn sie nicht alle blutsverwandt sind. Wenige Sekunde später jedoch schaltet sich Saladin ein und korrigiert, was Nathan kurz zuvor verkündete. Hinter Wolf von Filnek verberge sich in Wirklichkeit sein verschollener Bruder Assad, der eine Christin geheiratet hatte. Recha und der Tempelherr seien also die Kinder Assads, Saladins Nichte und Neffe. Sie sind somit alle eine einzige große Familie.

Analyse

Der Tempelherr ist zur Einsicht gekommen: Er bereut seine voreiligen Schlüsse und seinen impulsiven Akt der Rache. Nathan dem Patriarchen auszuliefern war nicht richtig. Er erkennt, dass er aus einer steifen, christlichen Überzeugung heraus gehandelt hat und schämt sich, insbesondere beim Gedanken an Nathan: »Wie? sollte wirklich wohl in mir der Christ noch tiefer nisten, als in ihm der Jude?« (S. 143). Der Tempelherr schafft es zum zweiten Mal, sich seiner religiösen Vorurteile zu entledigen. Er benimmt sich jetzt nicht mehr wie ein uneinsichtiger Christ, der alle seiner Religion unterwerfen will, sondern wie ein offener und toleranter Mann. Aus dieser Perspektive ist es für ihn auch nicht mehr problematisch, dass Nathan aus Recha eine Jüdin gemacht hat: »Ach! Rechas wahrer Vater bleibt, trotz dem Christen, der sie zeugte – bleibt in Ewigkeit der Jude.« (S. 143)

Der Tempelherr sagt sich sogar so weit von den Regeln seines Volkes los, dass er aktiv Nathans Entscheidung, Recha nicht als Christin zu erziehen, unterstützt. Als Nathan ihm vom Bruder des Mädchens erzählt und dass jener ein Christ sei, fragt der Tempelherr entsetzt: »Wird sie nicht die Christin spielen müssen, unter Christen? Und wird sie, was sie lange g’nug gespielt, nicht endlich werden? Wird den lautern Weizen, den Ihr gesät, das Unkraut endlich nicht ersticken?« (S. 152). Der Tempelherr hat begonnen, Nathans Erziehungsmethode, welche die Vernunft in den Mittelpunkt stellt, zu schätzen. Damit wird er zu einem Vertreter der aufklärerischen Bewegung. Er sieht Recha nicht mehr als Christin, Nathan nicht mehr als Juden, und sich selbst bezeichnet er nun aufgrund seiner Ergebenheit zu Saladin als Muslim.

Recha ist derweil in Sorge, weil sie fürchtet, Nathan als ihren Vater zu verlieren. Dajas Offenbarung, dass Nathan und sie nicht blutsverwandt sind, hat Rechas Zuneigung zu Nathan nicht im Geringsten gemindert. Ganz im Gegenteil, sie bezeichnet Daja als »eine von den Schwärmerinnen, die den allgemeinen, einzig wahren Weg nach Gott, zu wissen wähnen!« (S. 157). Daja ist unaufgeklärt und so wenig offen für religiöse Ansichten, die sich von ihrer unterscheiden, dass sie Rechas jüdische Erziehung als große Sünde ansieht. Recha selbst hingegen ist ihre Herkunft sehr gleichgültig. Für sie zählt nur ihre Hingabe zu Nathan und was für ein guter Vater er ihr gewesen ist. Daher fleht sie auch Saladin an, Nathans Tochter bleiben zu dürfen: Sie verlangt von ihm »Nicht mehr, nicht weniger, als meinen Vater mir zu lassen; und mich ihm! – Noch weiß ich nicht, wer sonst mein Vater zu sein verlangt; – verlangen kann. Will’s auch nicht wissen. Aber macht denn nur das Blut den Vater? nur das Blut?« (S. 160).

Auch Saladin und Sittah sind in der Lage, Familie als etwas zu sehen, das über reine Blutsverwandtschaft hinausgeht. Sie wollen Recha keineswegs ihren Vater wegnehmen. Im Gegenteil: Saladin bietet Recha sogar an, dass sie auch ihn zum Vater haben könne, wenn sie das denn wolle. Damit stellt er seine moderne, aufgeklärte Weltanschauung unter Beweis.

Die Personen, die in der letzten Szene des Dramas anwesend sind, haben alle eine Gemeinsamkeit: Sie glauben an die Menschlichkeit, an den Sieg der Rationalität, an Offenheit und Unvoreingenommenheit. Kurz gefasst, sie glauben an die Werte der Aufklärung. Daher ist es nur passend, dass sich auf den letzten Seiten sogar herausstellt, dass sie alle einer einzigen großen Familie angehören. Denn dabei handelt es sich um die dem Drama zugrundeliegende Prämisse: Das Christentum, das Judentum und der Islam sind keine miteinander unvereinbaren Religionen. Die Völker sollten einander nicht bekämpfen, sondern in Frieden zusammenleben, da sie eigentlich alle an dieselben Werte (wie Menschenfreundlichkeit, Großzügigkeit) glauben. Genau wie Nathan, Recha, der Tempelherr, Saladin und Sittah sind auch die drei Religionen eine einzige große Familie. In einer emanzipierten Gesellschaft wie der des 19. Jahrhunderts sollten sie alle die gleichen Rechte besitzen. Solange das für eine der Religionen nicht der Fall ist, ist das von der Aufklärung angestrebte Ziel einer emanzipierten Gesellschaft noch nicht erreicht (Goetschel, 2005).

Veröffentlicht am 1. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. März 2023.