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Nathan der Weise

Akt 4, Szenen 5-8

Zusammenfassung

Saladin und Sittah unterhalten sich über ihr vorheriges Gespräch mit dem Tempelherrn. Der Sultan ist überwältigt davon, wie sehr dieser seinem verstorbenen Bruder ähnelt und fragt sich, ob es sein könne, dass der Tempelherr dessen Sohn ist. Sittah stimmt ihm zu, dass die Ähnlichkeit unverkennbar sei und schlägt vor, den Tempelherrn zu seiner Herkunft zu befragen. Außerdem finden sie, dass er als Rechas Retter ein Recht darauf habe, diese zu heiraten. Sie überlegen, wie sie das Mädchen Nathan wegnehmen und dem Tempelherrn übergeben können. Nathan aber solle vorerst besser nichts von ihrem Plan erfahren.

Im Hause Nathans hat Daja all ihre kostbaren Stoffe ausgebreitet und überlegt, aus welchem sich für Recha am besten ein Brautkleid anfertigen ließe. Nathan stößt hinzu und versteht zunächst nicht, worauf Daja hinaus will. Daja eröffnet ihm, dass der Tempelherr seine Tochter liebe und sie durch eine Heirat mit ihm endlich wieder zu dem Volk zurück käme, zu dem sie eigentlich gehöre: zu den Christen. Nathan scheint Einwände zu haben und bittet Daja, geduldig zu sein.

Nathan ist besorgt, dass er bald nicht mehr Rechas Vater sein wird. In diesem Moment taucht der Klosterbruder auf, der behauptet, Nathan besäße einen Pfand von ihm. Nathan ist verwirrt und der Klosterbruder beginnt zu erklären: Vor vielen Jahren habe er sich als Eremit in Quarantana aufgehalten, als arabische Räuber ihn angriffen. Er hätte gerade noch entfliehen und sich nach Jerusalem retten können, wo er den Patriarchen um eine Stelle in seinem Dienst gebeten hätte. Dieser nahm ihn daraufhin als Laienbruder in seinem Kloster auf.

Nun habe der Patriarch ihn beauftragt, einen Juden aufzuspüren, der in Jerusalem lebe und ein Christenkind aufgezogen habe, da ihm dies eine inakzeptable Sünde erscheint. Der Klosterbruder allerdings überlegt jetzt, ob er vielleicht selbst auch Schuld an dieser Sünde trage. Er weiß, dass Nathan vor achtzehn Jahren ein kleines Mädchen von einem Reitknecht entgegengenommen hat. Jener Reitknecht war er, der Klosterbruder, und das Mädchen, Recha, war die Tochter eines gewissen Wolf von Filnek.

Der Klosterbruder findet, dass es die richtige Entscheidung war, das Mädchen als Jüdin aufzuziehen. Denn schließlich sei doch das Christentum ohnehin auf das Judentum gebaut, auch wenn die Christen das leider gern vergessen würden. Dabei sei ihr Herr selbst einmal ein Jude gewesen. Nathan ist gerührt und beschwört den Klosterbruder, niemandem jemals sein Geheimnis zu verraten. Er erzählt ihm die ganze Geschichte.

Wenige Tage bevor der Klosterbruder mit Recha zu ihm gekommen sei, waren Nathans Frau und seine sieben Söhne gewaltvoll von Christen ermordet worden. Er hatte drei Tage lang ununterbrochen um sie getrauert und die Christen gehasst. Doch allmählich hatte er sich wieder der Vernunft zugewandt. Als dann der Klosterbruder mit Recha vor seiner Tür stand, habe er das Mädchen für ein Geschenk Gottes gehalten. Wenn der Klosterbruder aber nun von einem lebenden Verwandten Rechas wisse, dann sei er gern bereit, diesem seine Tochter zu übergeben. Der Klosterbruder erinnert sich, dass er noch das Gebetbuch Wolf von Filneks besitze, und verspricht, es sogleich vorbeizubringen. Denn darin hat der Klosterbruder damals nach Wolf von Filneks Tod die Angehörigen der Familie aufgelistet.

Daja berichtet Nathan, dass Prinzessin Sittah nach Recha schicke. Nathan ist zwar überrascht, aber da es nicht der Patriarch ist, der Recha zu sich holen will, ist er nicht allzu beunruhigt. Daja beschließt derweil, dem Mädchen ihre eigentliche Herkunft zu offenbaren, bevor dieses zum Sultan und seiner Schwester aufbricht.

Analyse

Daja hat ihre Vorurteile gegenüber anderen Religionen und ihr Beharren auf Rechas Christentum noch nicht abgelegt, wie sich in ihrem Gespräch mit Nathan zeigt. Sie beschwört Nathan, Recha dem Tempelherrn zu übergeben, damit diese endlich das werde, was sie immer schon gewesen ist, eine Christin: »Der Tempelherr liebt Recha: gebt sie ihm, So hat doch einmal Eure Sünde, die ich länger nicht verschweigen kann ein Ende. So kömmt das Mädchen wieder unter Christen; wird wieder was sie ist; ist wieder, was sie ward (…)« (S. 127). Genau wie der Patriarch stellt Daja Nathans Entscheidung, ein gebürtig christliches Mädchen als Jüdin zu erziehen, als eine Sünde dar.

Nathan hingegen liebt Recha so sehr, dass es ihn nicht kümmert, nach welchen religiösen Lehren sie erzogen wird. Er ist gern bereit, sie ihren verbliebenen Verwandten zu übergeben und hofft jedoch, dass sie ihn trotzdem weiterhin als Vater sehen wird: »Ich bliebe Rechas Vater doch gar zu gern! – Zwar kann ich’s denn nicht bleiben, auch wenn ich aufhör, es zu heißen? – Ihr, ihr selbst werd ich’s doch immer auch noch heißen, Wenn sie erkennt, wie gern ich’s wäre« (S. 129).

In seinem Gespräch mit dem Klosterbruder enthüllt Nathan einige Teile seiner Vergangenheit, die seinen Charakter deutlich komplexer erscheinen lassen. Seine ganze Familie ist von den Christen getötet worden, seine Ehefrau und sieben Kinder. Er hätte demnach allen Grund, das christliche Volk zu hassen. Drei Tage lang hat er das auch getan. Nach dem Tod seiner Familie, sagt Nathan, habe er »(g)ezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; der Christenheit den unversöhnlichsten Hass zugeschworen–» (S. 134). Aber dann habe er sich wieder von der Vernunft leiten lassen – wie auch jetzt noch, achtzehn Jahre später – und sogar ein christliches Mädchen bei sich aufgenommen.

Der Klosterbruder vertritt eine ähnliche Einstellung. Ob Recha als Christin oder Jüdin erzogen wird, spielt für ihn keine Rolle. Die beiden Religionen seien ohnehin so verwoben miteinander, dass die eine nicht ohne die andere existieren könne: »Wenn nur das Mädchen sonst gesund und fromm vor Euern Augen aufgewachsen ist, so blieb’s vor Gottes Augen, was es war. Und ist denn nicht das ganze Christentum aufs Judentum gebaut? Es hat mich oft geärgert, hat mir Tränen g’nug gekostet, wenn Christen gar so sehr vergessen konnten, dass unser Herr ja selbst ein Jude war.« (S. 133)

Schließlich erkennen Nathan und der Klosterbruder sich gegenseitig als Angehörige jeweils beider Religionen an. »Ihr seid ein Christ!« (S. 134), sagt der Klosterbruder zu Nathan und dieser erwidert: »Wohl uns! Denn was mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir zum Juden!« (S. 134). Die beiden Männer haben etwas Wichtiges realisiert: Da das Christentum auf dem Judentum aufgebaut ist, können die beiden Völker gar nicht so verschieden sein. Jemand, der sich als Christ bezeichnet, kann ebenfalls als Jude gesehen werden, und das Gleiche gilt umgekehrt. Somit gäbe es eigentlich keinen Grund mehr für eine Feindschaft.

Veröffentlicht am 1. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. März 2023.