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Nathan der Weise

Akt 3, Szenen 1-6

Zusammenfassung

Daja und Recha erwarten die Ankunft des Tempelherrn. Recha fiebert dem Augenblick einerseits sehr entgegen, andererseits fürchtet sie sich davor, was danach kommt. Daja äußert ihren Wunsch, der Tempelherr möge Recha mit nach Europa nehmen. Recha hingegen widerspricht: Sie wolle lieber bei dem Volk bleiben, dem sie sich zugehörig fühle. Damit meint sie den Ort, wo sie aufgewachsen ist. Jerusalem ist Rechas Zuhause und sie wünscht sich von Daja, dass diese ihr das nicht ausreden möge. Für Recha spielt es außerdem keine große Rolle, welchem Gott ein Volk folgt und wie dieser beschaffen ist. Ihr Maßstab ist die Ergebenheit eines Menschen zu Gott. Daja will etwas einwerfen, kann sich aber gerade noch zurückhalten.

Der Tempelherr trifft ein und Recha kann ihre Begeisterung nicht zurückhalten. Sie begrüßt ihn schwärmerisch als »ihren Retter« und will ihm zu Füßen fallen. Als er sie zurückweist, fängt sie an, ihn zu verspotten: Sie wolle gar nicht ihm, sondern Gott danken. Denn er als Tempelherr sei lediglich seinen Pflichten nachgekommen, als er sie gerettet habe, nicht anders als ein »besser zugelernter Hund«.

Dem Tempelherrn verschlägt es die Sprache. Er ist überrascht und beeindruckt von Rechas Scharfsinnigkeit und Verstand. Noch sprachloser wird er, als Recha ihn bei seinem Bericht über eine kürzlich erfolgte Reise zum Berg Sinai nicht zu Moses, sondern lediglich zu den Wanderbedingungen des Auf- und Abstiegs befragt. Der Tempelherr verliebt sich in Recha und ist so überwältigt von seinen Gefühlen, dass er eiligst verschwindet. Er behauptet, Nathan auf seinem Rückweg vom Sultan entgegenkommen zu wollen.

Daja und Recha bleiben verwirrt zurück. Nachdem sie den Tempelherrn nun einmal richtig kennenlernen konnte, ist Recha etwas ruhiger geworden. Ihr Verlangen, den Mann wiederzusehen, ist allerdings weiterhin so groß, dass es sie sofort wieder zum Fenster zieht, um dort Ausschau nach ihm zu halten.

Im Palast erwarten in der Zwischenzeit Saladin und Sittah die Ankunft Nathans. Scheinbar haben sie einen Hinterhalt geplant, mit dem sie ihn dazu bringen wollen, ihnen Teile seines Vermögens zu überlassen. Saladin zeigt sich zögerlich, den Plan durchzuführen. Sittah hingegen ist überzeugt, dass sie keine andere Wahl hätten. Die Geschwister haben vor, Nathan einem Test zu unterziehen. Sollte er so weise sein, wie immer behauptet wird, dann wird er bestehen. Sollte er aber doch nur ein »geiziger, besorglicher, furchtsamer Jude« (S. 81) sein, dann wird er in ihre Falle tappen.

Sittah verschwindet und Nathan tritt herein. Saladin begrüßt ihn als den »Weisen«, was Nathan bescheiden infrage stellt. Mit seiner Zurückhaltung, sich selbst als weise zu bezeichnen, bestätigt er allerdings genau das, was die Geschwister schon vermutet haben – dass er in der Tat sehr weise sein muss. Saladin stellt daraufhin Nathan die Testfrage, die seine Schwester und er sich zusammen überlegt haben: Welcher Glaube ihm am besten erscheine. Ein weiser Mann wie Nathan werde sich doch sicherlich seine Gedanken zur Religion gemacht haben. Er werde nicht einfach bei dem Volk geblieben sein, das ihm vom Zufall bei der Geburt zugewiesen wurde, sondern sich aus Überzeugung einem zugeordnet haben. Und eine Religion – Christentum, Judentum oder Islam – müsse schließlich die »wahre« sein.

Nathan erhält Bedenkzeit. Er ist überrascht von der Frage des Sultans und dass dieser denkt, es gebe darauf eine einfache, wahre Antwort, die Nathan ihm geben könne wie eine Münze. Als er alleine ist, überlegt Nathan sich eine Strategie, wie er der Situation unbeschadet und gleichzeitig ohne unehrlich zu sein entkommen kann. Er wird dem Sultan als Antwort ein Märchen erzählen.

Analyse

Daja unternimmt in dieser Szene subtile Versuche, Recha zum christlichen Glauben zu bewegen. Sie wünscht sich für das Mädchen eine Zukunft in Europa und hofft, dass der Tempelherr ihr diese vielleicht bieten kann. Recha hingegen zieht es nicht nach Europa. Sie fühlt sich dem jüdischen Volk zugehörig, bei dem sie aufgewachsen ist und wo sie auch geboren zu sein glaubt. Dajas Versuche, ihr Europa und das Christentum schmackhaft zu machen, bedrücken sie. In einer längeren Metapher, in der sie sich selbst als Blumenbeet bezeichnet und Nathan und Daja als diejenigen, die Samen auf dieses Beet streuen, erklärt Recha, dass ihr Boden nicht für Dajas Blumen geeignet ist. Damit meint sie, dass sie so stark von Nathans Lehren der Vernunft geformt worden ist, dass sie es sich nicht vorstellen kann, sich einer einzigen Religion derart zu verschreiben. Recha sieht ihre Zurückweisung des Christentums jedoch keineswegs als problematisch. Im Gegenteil, kurz darauf erklärt sie, die Geschichten von Dajas Religion und ihre Lehren durchaus zu respektieren. Ihr sei es lediglich nicht so wichtig, zu bestimmen, welchem Gott sie nun genau diene. Ausschlaggebender für sie sei die aufrichtige Ergebenheit zu Gott: »Doch so viel tröstender war mir die Lehre, dass Ergebenheit in Gott von unserm Wähnen über Gott so ganz und gar nicht abhängt.« (S. 74f.)

Bei ihrem Zusammentreffen mit dem Tempelherrn zeigt sich, wie sehr Recha von den Lehren Nathans geprägt ist. Nicht nur verspottet sie die strengen christlichen Regeln, denen der Tempelherr aufgrund seiner Berufung zu folgen hat, sondern sie betont auch ihr geringes Interesse an der religiösen Bedeutung des Berges Sinai, indem sie sich zuallererst nach der Beschaffenheit der Wanderroute erkundigt. Damit bringt Recha zum Ausdruck, wie wenig sie von Menschen hält, die sich einer Religion verschreiben und ihren Regeln blind folgen, und das sogar dann, wenn es der Vernunft widerspricht. Sie bevorzugt eine rationale Denkweise, welche sich nicht von den Vorschriften einer Religion leiten und einschränken lässt. Wie Nathan glaubt sie an die Menschlichkeit als anzustrebendes Ideal.

Währenddessen wollen Saladin und Sittah Nathans Weisheit testen, indem sie ihm eine Frage stellen, die er auf den ersten Blick nur falsch beantworten kann: »Von diesen drei Religionen kann doch eine nur die wahre sein. – Ein Mann, wie du, bleibt da nicht stehen, wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl.« (S. 85) Erklärt Nathan das Judentum zur besten Religion, wird er sich den Sultan und seine Schwester zu Feinden machen. Nennt er aber den Islam oder das Christentum, werden sie ihm keinen Glauben schenken, denn er selbst ist schließlich jüdisch. Nathan befindet sich daher in einer prekären Situation, aus der es keinen offensichtlichen Ausweg gibt.

Außerdem widerspricht bereits die Frage des Sultans Nathans Grundeinstellung. Er, der nicht daran glaubt, dass eine Religion der anderen überlegen ist, kann unmöglich nun einfach eine nennen, die angeblich besser als die anderen beiden sein soll. Nathan glaubt an die Regeln der Menschlichkeit und nicht an die Vorschriften einer bestimmten Religion. Wenn es nach ihm ginge, dann sollten alle Menschen miteinander Frieden schließen und in Eintracht und Harmonie weiterleben, ungeachtet ihrer Religionen, und sich in allen ihren Handlungen von den Idealen der Menschlichkeit und Rationalität leiten lassen.

Veröffentlicht am 1. März 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. März 2023.