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Die Welle

Interpretation

Aus Spiel wird Ernst

Die Welle ist ein didaktisches Experiment, das der Lehrer Ben einsetzt, um seinen Schülern die Machtinstrumente und Strukturen des Nationalsozialismus näherzubringen, indem er sie damit für sie erfahrbar macht. Somit inszeniert er ein Szenario, das sich dieser Werkzeuge bedient. Dazu gehören die Leitsätze, die als Ideologien fungieren und somit die beschriebenen Ideale von Macht und Gemeinschaft versprechen. Diese erfordern jedoch Disziplin und Handlung, welche durch Befehle, Gehorsam und Regelwerk errungen werden. Die dadurch entstehende Gruppendynamik eliminiert den Konkurrenzkampf der Schüler, birgt jedoch die Gefahr der Ausgrenzung von Personen, die nicht der Welle angehören. Es kommt zu Radikalisierung, Gewaltanwendung und Drohungen.

Zu Beginn plant Ben, das Experiment nur für eine Unterrichtsstunde durchzuführen. Diese reicht jedoch schon aus, um sowohl die Schüler als auch ihn von der aufkommenden Dynamik und dem Einheitsgefühl zu erfüllen, das Ben durch das Exerzieren von körperlichen Übungen und knappen Antworten erzeugt. Immer schneller wollen die Schüler den Befehlen ihres Lehrers gerecht werden und sind von der Abwechslung zum gewöhnlichen Unterricht begeistert. Viele begründen dies in der Faszination für das Neue oder sehen es schlichtweg als Spiel.

Dass das Experiment fortgeführt wird, beruht auf einem Zusammenspiel durch die stumme Bitte der Schüler, indem sie am Folgetag die eingeführten Regeln weiterhin anwenden und Bens Entscheidung, diese anzunehmen. Ben trägt als Lehrer und Pädagoge allerdings die Verantwortung für diesen Schritt. Er füttert die Schüler mit neuen Leitsätzen und Versprechen und erfüllt zunehmend die Rolle des Führers, an dem sich die Schüler orientieren. Versammlungen, Grußform und Symbole für die Welle stärken die Propaganda und ihre Sichtbarkeit.

Am zweiten Tag des Experiments müssen einige Schüler noch ihr übliches Kichern unterdrücken, wenige Tage später organisieren sie eine Versammlung oder verteilen Flugblätter. Spätestens mit dem anonymen Brief und den Berichten über Schlägereien bis hin zu rassistischen Drohungen wird spürbar, dass die Welle längst kein Spiel mehr ist. Sie ist zu bitterem Ernst geworden, der die Schüler zu gewalttätigem Handeln und faschistischem Denken ermutigt hat.

Ben glaubt, die Kontrolle über sein Werk zu haben. Dabei ist ein Experiment durch seinen ungewissen Ausgang definiert, den Ben zu ignorieren scheint. Vor Direktor Owens bezeichnet er die Welle selbst als Spiel, das nur so weit gehen könne, wie er es zulasse (vgl. 103). Obwohl ihn immer wieder Zweifel und Unsicherheiten überkommen, ist er längst von seinem eigenen Experiment vereinnahmt und von der Machtposition, die ihm dadurch zuteilwird, verführt worden. Er ist stolz zu sehen, dass die Schüler nun als Gemeinschaft agieren und rechtfertigt sein Experiment mit dieser Entwicklung.

Die dringend notwendige Reflexion und Prognose, in welche Richtung sich eine Bewegung wie diese entwickeln kann, die junge Menschen manipuliert und zu einem faschistischen System mutiert, bleibt aus. Als Robert bittet, Mr Ross’ Leibwächter zu werden, nimmt dieser die Rolle des Führers vollständig an.

Schließlich gelingt ihm die Einsicht und Wende des Experiments. Zu diesem Zeitpunkt hat sich das anfängliche ›Spiel‹ längst zum gefährlichen Ernst entwickelt und erfordert ein Einschreiten.
Besonders deutlich wird dieser Ernst an der Figur Robert Billings. Als Versager und Außenseiter verhilft ihm die Welle dazu, Teil der Gruppe zu werden und Selbstvertrauen zu erlangen. Robert orientiert sich an den neuen Leitsätzen und bekommt das Gefühl, endlich gut in etwas zu sein. Die Welle wird zu seinem Sinn und Ziel und führt zu einer drastischen Veränderung seiner Persönlichkeit. Die Ernsthaftigkeit und darin liegende Bedrohung für seine psychische Stabilität wird von Mrs Saunders bereits erkannt, zeigt sich jedoch deutlich, als Ben das Experiment beendet und Robert in Tränen aufgelöst ist. Eine umfangreiche und aufklärende Nacharbeit ist nötig, um das Erlebte einzuordnen.

Erfolg vs. Scheitern

Die Welle ist ein Experiment, dessen Erfolg es zu diskutieren gilt. Bens Intention ist, den Schülern die Machtstrukturen des Nationalsozialismus verständlich zu machen, indem sie diese selbst erfahren. Was ursprünglich als Simulation gedacht war, führt zur Identifikation. Die Welle wird zum Selbstläufer, die ihren Initiator und ihre Anhänger mit sich fortschwemmt. Die Ausgangsthese, wie eine derartige Gesellschaft, Gruppendynamik und faschistische Ideologie überhaupt entstehen kann, wird dabei auf unfreiwillige Art bestätigt. Das Experiment könnte demzufolge als erfolgreich angesehen werden, da die Teilnehmer genau diese schockierende Erfahrung machen.

Allerdings ist die Entwicklung zu einer faschistischen Gruppierung von Jugendlichen alles andere als erstrebenswert. Anstatt den Schülern die Gefahren von Propaganda zu verdeutlichen, sind diese selbst zu Opfern davon geworden und während des Experiments unfähig, diese Entwicklung wahrzunehmen oder zu reflektieren. Die Welle wird für sie zur Realität und das Experiment scheitert in seiner belehrenden Funktion.

Eine Ausnahme bildet Laurie Saunders, die ihre anfänglichen Zweifel wahrnimmt und aufgrund der ausschreitenden Gewaltbereitschaft Stellung bezieht. Sie wird zur aktiven Kritikerin der Welle und vertritt ihre Meinung öffentlich. Mrs Saunders und Christy reagieren ebenfalls misstrauisch bis hin zu der Forderung, dass das Experiment enden müsse.

Die Erkenntnis der Schüler ist erst durch Schock möglich, indem Mr Ross ihnen die Parallelen zum NS-Regime aufzeigt, mit denen sich die Mitglieder der Welle unwissentlich identifiziert haben. Die daraus folgende Einsicht war ihnen zuvor durch Selbstreflexion nicht möglich. Die Welle hält somit Lektionen bereit, die letztendlich auf ihrer Entwicklung beruhen, unabhängig davon, ob man diese als Erfolg oder Scheitern interpretiert: Die Schüler erkennen, wie schnell eine Gruppe ihre Macht über die Rechte des Einzelnen stellen kann und welche Gefahr sich darin verbirgt. Sie sind zur ständigen Reflexion, Beurteilung und kritischem Hinterfragen aufgerufen. Die freie Meinungsäußerung und persönliche Entscheidungsgewalt darf nicht eingeschränkt werden. Nicht nur die Jugendlichen, auch Erwachsene können von Manipulation und Gruppendynamiken vereinnahmt werden. Dies zeigt sich am Beispiel von Ben Ross. Er wollte die Gefahren des Faschismus aufzeigen, wurde jedoch selbst von ihm vereinnahmt, ein Paradox. (Frausing Vosshage, 82f.)

Experimente mit ungewissem Ausgang an unwissenden Schülern sind keine pädagogisch vertretbare Lehrmethode. Zu dieser Erkenntnis kommt Ben schließlich selbst (vgl. 161).
Am Ende geht es weniger um die ursprüngliche Ideologie, sondern mehr um den massiven Eingriff in die persönliche Entwicklung und das Verhalten der Jugendlichen. (Freund, 48)
In sensibler und aufmerksamer Nacharbeit können die Erfahrungen verarbeitet werden und so zu einem langfristigen Lernerfolg führen. Der Weg, der dazu geführt hat, ist jedoch kritisch zu betrachten.

Faschismus und die NS-Zeit

Ben Ross’ Schüler reagieren mit Unverständnis auf das damalige Verhalten der Bevölkerung, die unter dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland gelebt hat. Dabei sind die Unterschiede zwischen dem amerikanischen und deutschen Verständnis von Faschismus zu berücksichtigen. Im amerikanischen Sprachgebrauch wird Faschismus eng mit Hitler und dem Nationalsozialismus verknüpft, der das Gegenteil des demokratischen Systems ausmacht. Die Unterdrückung der Redefreiheit und ein starker Führer haben in der englischen Definition besonders viel Gewicht. In der deutschen Beschreibung verbirgt sich dahinter eine »nationalistische, autoritäre und antiparlamentarische politische Bewegung« des 20. Jahrhunderts. (Frausing Vosshage, 76)

Dass sich niemand gegen das System gewehrt hat, oder frei seine Meinung äußerte, scheint die Schüler der Gordon High School daher besonders zu irritieren. Um ihnen dieses Szenario zu verdeutlichen, entscheidet sich Ben für ein Experiment, mit dem er die notwendigen Strategien geschickt einsetzt. Er nimmt selbst die Position des autoritären Führers ein. Aufforderungen werden im Befehlston erteilt. Die Antworten erfolgen in einer knappen Wiedergabe von Fakten. Die Schüler geben kritisches Hinterfragen auf und orientieren sich stattdessen an den ideologischen Grundsätzen der Welle.

Nach erschreckend kurzer Zeit kommt es zur Ausgrenzung von »Andersdenkenden«. Laurie Saunders, die es wagt, ihren Standpunkt zu äußern und einen Gegenbericht zur Welle zu verfassen, wird als Bedrohung angesehen, die verhindert werden muss. Die demokratischen Elemente gehen verloren. Die Gruppe erhebt sich über den Einzelnen. Eine faschistische Gruppierung ist entstanden.

Der Vergleich mit dem Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts ist jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Es zeigen sich zwar deutliche Parallelen in der Umsetzung von Ideologien, Propaganda, einem autoritären Führer und Gehorsam. Auch die Organisation der Gruppe durch Meldung von Regelverstößen und der militärische Befehlston erinnern an Überwachungsorgane wie die SS oder Jugendorganisationen wie die Hitlerjugend. Allerdings beinhaltet dies eine Reduktion der Strategie, die die weitläufigen historischen Entwicklungen nicht abdecken kann und deshalb distanziert betrachtet werden sollte. (Freund, 70)

Veröffentlicht am 15. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 15. August 2023.