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Antigone

Interpretation

Das Drama der Autonomie und Selbstbestimmung

Sowohl Antigone als auch Kreon handeln nach ihrem eigenen Willen und damit autonom. Kreon missachtet das Gesetz der Götter und untersagt die Bestattung von Polyneikes. Damit demonstriert er seine persönliche Auffassung vom Schutz beziehungsweise der Priorisierung Thebens und den Folgen für dessen Widersacher. Kreon scheitert jedoch in seiner persönlichen Freiheit und deren Ausdrucksweise. Am Ende muss er die Konsequenzen tragen und sich dem Willen der Götter beugen. Es ist nicht zwangsläufig Kreons Handeln, sondern eher seine nicht eintretende beziehungsweise verspätete Einsicht, die ihn zum Schuldigen werden lässt und zum Unheil führt.

Antigone missachtet hingegen Kreons Gebot und beruft sich auf das göttliche Gesetz. Sie ist von Anfang an bereit, die Konsequenzen auf sich zu nehmen. Sie »verkörpert den Widerstand im Namen eines höheren Rechts« (Möbius, 77) und ist gleichzeitig »Verfechterin absoluter Humanität« (ebd., 76). Antigone steht zu ihren Handlungen. Diese erlangen den Status politischer Demonstration. Damit beweist sie ihre Autonomie (Schardt, 50). »Nach eigenem Gesetz, wie keine der Fraun, | Schreitest du lebend hinab zum Hades« (821f.), sind die Worte des Chores. Der Chor ist der Auffassung, dass Antigone ihr Los selbst gewählt hat.

Sowohl Kreon als auch Antigone sind sich der Richtigkeit ihrer Position sicher. Beide Standpunkte sind begründet, weswegen man diese keiner der beiden Figuren vollständig zu- oder absprechen kann. Im Angesicht des nahenden Todes bei Antigone oder des Verlustes von Sohn und Frau bei Kreon zeigen die beiden ihre verletzliche und menschliche Seite, die einen Kontrast zu der vorher gezeigten Dominanz und Überzeugung darstellen.

Das Drama im politisch-historischen Kontext

In »Antigone« lassen sich Bezüge zur politischen Situation Athens während der Entstehungszeit feststellen. Bereits 458 v. Chr. trat in Athen ein demokratisches System vollständig in Kraft. Darin war die politische Mitwirkung allen Bewohnern möglich, die das Bürgerrecht innehatten. Dies betraf ausschließlich Männer, deren Eltern geborene Athener waren. Als solche konnten sie an der Volksversammlung teilnehmen und die Strategen wählen, die eine führende Position einnahmen.

Kreons Ich-bezogene und tyrannische Herrschaft, wie sie im Drama beschrieben wird, widerspricht diesem System. Er missachtet die Meinung des Volkes und die sittlichen Gebote. Allerdings darf man die Figur Kreons nicht auf den damals amtierenden Perikles beziehen, da die Konflikte in Antigone allgemein menschlich anstatt rein politisch sind. (Möbius, 73f.) Es gibt jedoch Annahmen, dass Sophokles auf Perikles’ Autorität und die damit verbundene Gefahr für die Politik aufmerksam machen wollte. Auch Kreon wird zu Beginn als Stratege vorgestellt, der dann von seinen Prinzipien nicht abweichen und die Meinungsfreiheit unterschlagen will. (Pelster, 70f.)

Das Drama der Gegensätze

»Antigone« wird als Zweifigurendrama bezeichnet, da es auf den Konflikt zwischen Kreon und Antigone aufbaut. Vordergründig ist der Konflikt zwischen Staat, vertreten durch Kreon, und Familie und Götter, vertreten durch Antigone. In der attischen Demokratie begründeten Gesetze den Staat und das bürgerliche Leben und damit die sogenannte Polis. Es bestand eine hohe Achtung vor diesem Gesetz. Damit ist Kreons Standpunkt berechtigt. Antigone beruft sich jedoch auf das ungeschriebene Gesetz der Götter, welches über dem menschlichen stünde. Dafür ist eine Differenzierung nötig: Es werden einerseits die Götter der Stadt beschrieben, auf die sich insbesondere Kreon beruft. Diese sind mit den Idealen und Werten der Stadt und ihrer Bevölkerung gleichzusetzen. (Schardt, 55) Antigone hingegen beruft sich auf griechische Gottheiten, die weit über Stadtgrenzen hinausgehen, insbesondere Hades, den Gott der Unterwelt. Antigones Argumente beziehen sich auf das menschliche Existieren nach dem Tod, welches Auswirkungen auf das irdische Leben der Verbliebenen, aber auch der bereits Verstorbenen haben soll. Kreon will davon jedoch nichts wissen. Seine Position beschränkt sich auf die Lebenden innerhalb der Stadtgrenzen. Antigone beruft sich auf das humanitäre Recht, agiert im familiären Sinne und tritt für den Schutz des Individuums ein. Beide halten an ihren Überzeugungen fest. Es handelt sich um »zwei gleichberechtigte Prinzipien«, die in Konkurrenz zueinander stehen. (ebd., 59) Gewinnbringend wäre eine Einigung, die jedoch ausbleibt. Obwohl die beiden gegensätzliche Positionen vertreten, sind ihre charakterlichen Eigenschaften sehr ähnlich.

Das Drama birgt jedoch weitere Konflikte, die mit den eben genannten verwoben sind. George Steiner hat dazu fünf Grundkonflikte definiert. (Beise, 74) Aufgrund von deren Umfang können hier nur einige genauer beleuchtet werden:

Auffallend bei der Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone ist die Argumentation bezüglich männlicher und weiblicher Rollen und Eigenschaften. Kreon fürchtet, von einer Frau, die zur damaligen Zeit keine politische Macht hatte, in die Enge getrieben zu werden: »Wenn sie sich ungestraft das leisten darf, | Bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!« (V 484f.) Darin zeigt sich auch, dass Antigone aufgrund ihrer aufrührerischen Art männliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Auffällig wird die Rolle der Frau auch im Konflikt zwischen Antigone und Ismene. Ismene hat sich ihrer Position gefügt: »Wir müssen einsehen, dass wir Frauen sind, | Mit Männern uns zu messen nicht bestimmt.« (V 61f.) Antigone weigert sich, sich davon einschränken zu lassen, womit ihre Figur im antiken Griechenland provozierend gewirkt haben mag. (Beise, 76) Auch heute bietet die Rolle von Männern und Frauen genügend Diskussionspotenzial.

Antigone wirkt auch durch ihr junges Alter provozierend auf Kreon. Der Alterskonflikt kommt aber besonders zwischen Kreon und Haimon zum Tragen und unterstreicht Kreons Engstirnigkeit: »Von diesem Jungen soll ich also noch, | So alt ich bin, Vernunft mich lehren lassen!« (V 726f.) Die noch drei übrigen nach Steiner definierten Konflikte beschreiben Individuum und Gesellschaft, Lebende und Tote sowie Menschen und Götter.

Zwischen Haimon und Kreon wird außerdem der Konflikt zwischen Alleinherrschaft und Demokratie ausgetragen: »Allein herrschst du am besten in der Wüste« (V739), der im zweiten Interpretationsansatz bereits näher beleuchtet wurde.

Veröffentlicht am 6. Februar 2024. Zuletzt aktualisiert am 6. Februar 2024.