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Der Richter und sein Henker

Kapitel 11-12

Zusammenfassung

Nach der Beerdigung wird Bärlach von seinem Kollegen Blatter nach Hause gefahren. Dort angekommen, erwartet ihn in seiner Wohnung ein Mann, der sich hinter seinem Schreibtisch platziert hat und in den Akten von Schmied blättert. Im Gespräch, das sie nun miteinander führen, wird deutlich, dass sich beide schon lange kennen. Der Mann gibt sich jetzt als Gastmann aus und weiß über das Handeln Bärlachs Bescheid. Er beschwert sich bei ihm darüber, dass er ihm Schmied auf den Hals gehetzt habe. Zudem weiß er auch über Bärlachs Krankheit Bescheid. Bärlach droht ihm, dass er ihn immer verfolgen werde, solange, bis er seine Verbrechen aufgeklärt habe.

Ihre vierzigjährige gemeinsame Geschichte geht zurück auf einen Abend am Bosporus, an dem sich beide in einer Kneipe kennenlernten. Bärlach war damals noch ein junger Polizist und Gastmann ein Abenteurer. In dieser Nacht kam in einer hitzigen Diskussion zwischen beiden folgende Wette zustande: Bärlach behauptete, dass jedes vom Menschen ausgeführte Verbrechen früher oder später zwangsläufig ans Licht kommen würde. Gastmann vertrat hingegen folgende Gegenthese: Gerade die undurchschaubare menschliche Psyche mache es möglich, Verbrechen zu begehen, die niemals aufgedeckt werden könnten. Um ihm dies gleich zu beweisen, stieß Gastmann damals vor den Augen Bärlachs einen Geschäftsmann ins Wasser und wurde freigesprochen, da man ihm nichts nachweisen konnte. Seit dieser Zeit ist ihrer beider Leben nun durch diese Wette aneinandergekettet.

Gastmann begeht Verbrechen, die von Bärlach nie nachgewiesen werden können. Gastmann verschwindet an diesem Abend ihres Wiedersehens mit der Akte Schmieds, in der alle Beweise gegen seinen Widersacher vorhanden sind. Kurz darauf erleidet Bärlach eine heftige Schmerzattacke.

Bärlach begibt sich ins Büro, in dem er von seinem Chef Lutz darüber aufgeklärt wird, dass Gastmann nach dem Wunsch seines Parteikollegen von Schwendi nicht vernommen werden soll. Er kommt als Mörder nicht in Betracht, da er einen einwandfreien Ruf nachweisen kann.

Bärlach, der nicht widerspricht, bittet seinen Chef lediglich um eine Woche Urlaub wegen Krankheit.

Mit seinem Kollegen Tschanz, der mittlerweile Schmieds blauen Mercedes gekauft hat, fährt er zu dem Schriftsteller, der ebenso auf Gastmanns Abendveranstaltung war.

Analyse

Mit dem Aufeinandertreffen von Bärlach und Gastmann führt Dürrenmatt in der zweiten Erzählphase eine weitere Handlungsebene ein, mit der er die Geschichte um einige philosophische Fragestellungen erweitert. Damit geht der Autor auch über das klassische Schema des Kriminalromans hinaus. Ging es bis zu diesem Zeitpunkt noch um die reine Aufklärung des Mordes am Polizisten Schmied, tritt diese nun in den Hintergrund. Dürrenmatt eröffnet nun mit einer Vorgeschichte, die über 40 Jahre zurückliegt und die beiden Figuren miteinander verbindet, eine zusätzliche Dimension, die für das Handlungsgeschehen bestimmend wird. In diesem Sinne stellen die beiden Kapitel den Kern des Romans dar.

Gleich zu Beginn des Dialogs, der in Bärlachs Haus stattfindet, werden die Machtverhältnisse zwischen den beiden Kontrahenten geklärt. Bärlach gibt sich als Gerechtigkeitsfanatiker: »Ich höre nie auf, dich zu verfolgen. Einmal wird es mir gelingen, deine Verbrechen zu beweisen.« (S. 64). Gastmann fühlt sich überlegen und wiegt sich in Sicherheit. Zum einen weiß er, dass Bärlach dazu »nicht mehr viel Zeit hat« (ebd.), da er laut der Ärzte nur noch ein Jahr zu leben hat. Zum anderen ist er jetzt mit Schmieds Akte im Besitz des wichtigsten Beweismaterials: »In der Mappe sind die einzigen, wenn auch dürftigen Beweise, die Schmied in Lamboing für dich gesammelt hat. Ohne diese Mappe bist du verloren. Abschriften oder Fotokopien besitzest du nicht, ich kenne dich.« (S. 72)

Um seine Macht und Gewaltbereitschaft zu demonstrieren, greift Gastmann zum Schlangenmesser und wirft »das Messer, genau und scharf Bärlachs Wange streifend, tief in den Lehnstuhl« (S. 70).

Um die Leserschaft darüber aufzuklären, welches Ereignis zu dieser unheilvollen Verbindung zwischen Bärlach und Gastmann geführt hat, präsentiert Dürrenmatt nun die Vorgeschichte der beiden, die 40 Jahre zurückliegt. Zentrales Element ist hier eine Wette, die sie damals in Konstantinopel geschlossen hatten, wodurch ihr Leben grundlegend verändert wurde – »eine Wette […] als eine teuflische Versuchung des Geistes durch den Geist« (S. 67). Sowohl der junge »Polizeifachmann aus der Schweiz in türkischen Diensten« (S. 65) als auch der »Abenteurer« (ebd.), dessen Ziel es war, sein »einmaliges Leben und diesen ebenso einmaligen Planeten kennenzulernen« (ebd.) erlagen dieser Versuchung und machten sich dadurch beide schuldig.

Diese Wette basierte auf dem Prinzip des Zufalls, denn sowohl Bärlach als auch Gastmann gingen davon aus, dass die Welt durch den Zufall bestimmt werde und dadurch das menschliche Verhalten nicht berechenbar sei. Daraus zogen sie jedoch unterschiedliche Schlüsse, woraus sich verschiedene Lebensanschauungen ergaben. Gastmann behauptete, dass es gerade dadurch möglich wäre, Verbrechen zu begehen, die niemals geahndet werden könnten. Um dies zu beweisen, wurde er zum Verbrecher und begann, skrupellos Menschen zu ermorden. Bärlach vertrat die These, dass der Zufall die Ordnung einer Gesellschaft erhalte, denn er verhindere schließlich, »mit Menschen wie mit Schachfiguren zu operieren« (S. 67). Nach seiner Theorie würde jedes Verbrechen früher oder später ans Licht kommen. Gastmann forderte ihn sogleich mit einem Mord heraus, den Bärlach ihm nicht beweisen konnte. So nahm er die damalige Herausforderung an und versuchte, seinen Kontrahenten seiner Verbrechen – immer ohne Erfolg – zu überführen.

Da das Prinzip des Zufalls, das dieser Wette zugrunde liegt, zum festen Bestandteil von Dürrenmatts Weltsicht gehört, taucht es in seinen Werken immer wieder auf. Es ist das Absurde dieser Welt, das er in seinen Theaterstücken und Romanen in unterschiedlichen Variationen in Szene setzt. In die Realität bricht immer wieder unverhofft der Zufall und das Chaos ein, sodass menschliches Handeln weder vorhersehbar noch planbar ist. Daraus ergibt sich die hoch philosophische Fragestellung, die Dürrenmatt seinem Hauptprotagonisten Bärlach nach seinem psychischen und physischen Zusammenbruch in den Mund legt: »Was ist der Mensch?« (S. 72)

Veröffentlicht am 3. März 2024. Zuletzt aktualisiert am 3. März 2024.