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Der Richter und sein Henker

Kapitel 8-10

Zusammenfassung

Am nächsten Tag, einem Samstag, findet um 10 Uhr die Beerdigung des Kollegen Schmied statt. Vorher erscheint Oberst von Schwendi im Büro von Bärlachs Vorgesetztem Dr. Lutz, denn beide sind Parteifreunde und Mitglieder in der konservativen liberalsozialistishen Sammlung der Unabhängigen.

Er beschwert sich zuerst über das Verhalten der Schweizer Polizei, die keinerlei Manieren gezeigt habe, da sie eine kulturelle Veranstaltung gestört und dabei auch noch einen reinrassigen Hund erschossen habe. Dann klärt er Lutz darüber auf, dass Schmied sich mit einer falschen Identität unter die Gäste Gastmanns gemischt habe. Dazu benutzte er den Namen Doktor Prantl und gab sich als Privatdozent für amerikanische Kulturgeschichte aus. Da Schmied privat und nicht dienstlich an diesen Veranstaltungen teilgenommen habe, wie Lutz daraufhin äußert, kommt beim Oberst der Verdacht auf, er sei ein Spion gewesen. Die Polizei habe sich also nicht um Gastmann zu kümmern, sondern um ihre eigenen Angelegenheiten.

Lutz besteht jedoch darauf, Gastmann und die Gäste seiner Abendveranstaltungen in die Untersuchung miteinzubeziehen. Daraufhin legt ihm der Oberst eine Liste der Gäste vor, die in drei Gruppen eingeteilt sind: die Künstler, die Industriellen aus der Schweiz und Diplomaten aus einem anderen Staat. Letztere genießen nach von Schwendi Immunität und möchten mit der zweiten Gruppe, deren Interessen er vertritt, nichts zu tun haben.

Im weiteren Gespräch wird klar, dass es sich bei den Abendveranstaltungen Gastmanns auch um inoffizielle Treffen der Schweizer Industriellen mit Diplomaten aus China gehandelt hat. Dabei stellte Gastmann, der lange Zeit als Gesandter Argentiniens in China gelebt hatte, den idealen Gastgeber dar, der auch den geeigneten Ort für solche geheimen Geschäftsverhandlungen bieten könnte. Die dabei anwesenden Künstler dienten dabei nur als sogenanntes Beiwerk und hätten keinerlei Bedeutung. Schmied habe nun diesem Treffen beigewohnt, wenn nicht im Auftrag der Polizei, so sei er, nach von Schwendi, als Spion tätig gewesen. Lutz verspricht, dieser Sache nachzugehen und im Falle der Diplomaten den Bundesanwalt einzuschalten. Zudem versichert er von Schwendi, diesem bei eventuellen Verhören vorab seine Fragen vorzulegen. Die Verhandlungen, bei denen es sich um Millionengeschäfte handelt, sollten keinesfalls beeinträchtigt werden.

Bärlach verlangt bei seinem Vorgesetzten Lutz die rechtliche Einwilligung, Gastmann zu verhören. Lutz vertröstet ihn jedoch auf den Nachmittag. Anschließend fahren sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Blatter zu Schmieds Beerdigung, bei der zahlreiche Kolleginnen und Kollegen sowie Tschanz mit seiner Freundin Anna und Frau Schönler, der Vermieterin, anwesend sind. Während Lutz im strömenden Regen eine Ansprache halten möchte, wird er durch zwei betrunkene, grölende Gestalten gestört, die im Vorübergehen noch einen Kranz auf das Grab werfen. Dieser trägt die Aufschrift: »Unserem lieben Doktor Prantl«.

Analyse

Das Zusammentreffen des Nationalrats von Schwendi mit dem Untersuchungsrichter Dr. Lutz kann als satirisch-groteskes Zwischenspiel bezeichnet werden, das Dürrenmatt dazu dient, die Schweizer gesellschaftspolitische Elite kritisch ins Visier zu nehmen. Beide Figuren sind von ihm deutlich als Karikaturen angelegt. In der Überzeichnung ihrer Charaktere werden sie der Lächerlichkeit preisgegeben, sodass Dürrenmatts Kritik an der herrschenden Klasse offensichtlich wird.

Bei Lutz handelt es sich um einen inkompetenten, schwachen Vorgesetzten, der unfähig ist, das Kommissariat zu leiten. Eitel, wie er ist, schwärmt er von der exzellenten amerikanischen Polizeiarbeit, die er bei einem Aufenthalt in den USA erleben durfte und stellt somit die Kompetenz seiner eigenen polizeilichen Truppe ständig infrage: »Wenn ich da an Chicago denke, sehe ich unsere Lage trostlos.« (S. 46) Lutz, der zu den »etwas einseitigen Naturen gehörte« (S. 51), lässt sich von seinem Parteifreund und Förderer von Schwendi respektlos behandeln, als »Dökterli« (S. 46) und »Lützchen« (S. 54) bezeichnen, und politisch unter Druck setzen.

Der Nationalrat, aufgeblasen und selbstgefällig, berichtet ihm nämlich von geheimen Treffen der Schweizer Wirtschaftselite mit ausländischen Staaten, die es unmöglich machen, gegen seinen Klienten Gastmann zu ermitteln, da sonst »politische Vorgänge von eminenter Wichtigkeit« (S. 50) aufgedeckt werden würden. Wieder steht hier die Schweizer Politik im Fokus von Dürrenmatts Kritik. Die Schweizer Wirtschaftselite tätigt in Zeiten des Kalten Krieges in einem abgelegenen kleinen Schweizer Dorf dubiose Geschäfte, die nicht an die Öffentlichkeit dringen dürfen, denn wie der Nationalrat zu Lutz bemerkt: »Millionen stehen auf dem Spiel, Dökterchen, Millionen!« (S. 55) Hier prangert Dürrenmatt die Scheinheiligkeit der Schweizer Politik an. Die politische Korrektheit, die sich die Schweizer mit ihrer neutralen Position in der Welt auf die Fahnen geschrieben haben, wird zugunsten des Kapitals nämlich schnell geopfert, wenn sie die Gelegenheit haben, bei geheimen Geschäften mit dem nach außen hin eigentlich erklärten Feind, den kommunistischen Staaten, viel Geld zu verdienen.

Zudem dient der Dialog der beiden Figuren Dürrenmatt dazu, die Figur Gastmanns jetzt ins Licht zu stellen, denn er besitzt nach von Schwendi nicht nur das »nötige menschliche Format« (S. 53), sondern hat sich auch noch als erfolgreicher Wirtschaftsmanager im In- und Ausland einen Namen gemacht.

In der Beerdigungsszene kommt das Stilmittel des Grotesken in Verbindung mit der eindrücklichen Beschreibung des Unwetters, das an diesem Tag tobt, besonders zum Tragen: »Der Regen kam nun in wahren Kaskaden […] Trams, Automobile schwammen irgendwo in diesen ungeheuren, fallenden Meeren herum […]« (S. 56)

Die Beschreibung der Trauergemeinde ist gespickt mit komischen, skurrilen Elementen. Der Totengräber hüpft »in einem lächerlichen frackartigen Arbeitsgewand« (S. 57) im strömenden Regen von einem Bein zum andern. Bei den Kollegen des toten Schmieds handelt es sich um eine seltsam formierte Truppe: »[…] alles Polizisten, alle in Zivil, alle mit den gleichen Regenmänteln, mit den gleichen steifen schwarzen Hüten, die Schirme wie Säbel in den Händen, phantastische Totenwächter, von irgendwo herbeigeblasen, unwirklich in ihrer Biederkeit.« (S. 59)

Durch das unerwartete und plötzliche Auftreten der beiden Diener Gastmanns, »es waren zwei brutale, riesenhafte Kerle, befrackte Schlächter, schwer betrunken« (S. 61), die grölend über den Friedhof stolpern, steigert Dürrenmatt nochmals die bedrohliche Stimmung auf dem Friedhof. Das Böse, in Gestalt der beiden Handlanger Gastmanns, scheint wie zufällig immer und überall in das Alltägliche des Menschen einbrechen zu können. Zurück bleibt die düstere Atmosphäre in Gestalt der »Totengräber […], schwarze Vogelscheuchen, im Heulen der Winde, im Prasseln der Wolkenbrüche, bemüht, den Sarg hinabzusenken« (S. 62).

Veröffentlicht am 3. März 2024. Zuletzt aktualisiert am 3. März 2024.