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Der Richter und sein Henker

Kapitel 1–3

Zusammenfassung

Am 3. November 1948 entdeckt der Polizist Alphons Cenin von Twann in einem Mercedes, der am Straßenrand steht, einen Toten. Bei der Leiche, die mit durchschossenen Schläfen über dem Lenkrad liegt, handelt es sich um den Polizeileutnant von Bern namens Ulrich Schmied. Anfänglich unschlüssig, was er in diesem Fall zu tun hat, setzt er den Toten kurzerhand auf den Beifahrersitz und fährt den Wagen zuerst zu einer Tankstelle und danach nach Biel. Hier wird der Fall an Kommissär Bärlach, der auch der Vorgesetzte des toten Polizisten ist, übertragen.

Bärlach setzt durch, dass der Fall vorerst geheim gehalten wird. So begibt er sich zur Wohnung des Toten und erzählt Frau Schönler, in deren Haus Schmied zuletzt als Untermieter gewohnt hatte, dass er plötzlich ins Ausland beordert worden wäre. Er gibt vor, ihm etwas nachschicken zu müssen und verschafft sich Zugang zu seinem Zimmer. Hier nimmt er eine Akte an sich.

Beim Mittagessen blättert Bärlach die Akte durch und begibt sich anschließend in das Büro seines Chefs Dr. Lucius Lutz. Dieser ist sichtlich nervös, da noch keine neuen Erkenntnisse des Falles aus Biel eingetroffen sind. Da Bärlach sich gesundheitlich angeschlagen fühlt, bittet er um einen Stellvertreter, der ihm zur Seite stehen kann. Er hat seinen Kollegen Tschanz im Auge, mit dem auch sein Chef einverstanden ist.

Bärlach begibt sich mit dem Kollegen Blatter zum Tatort nach Twann, an dem er die Revolverkugel findet.

Am nächsten Tag geht es Bärlach gesundheitlich schlecht, doch er weigert sich, zum Arzt zu gehen. Tschanz erscheint im Büro, der Bärlach in dem Fall unterstützen soll. Ihm vertraut Bärlach an, wie sehr er die Arbeit seines toten Kollegen Schmied geschätzt habe, wovon Tschanz nicht sehr überzeugt ist. Dieser hat – im Gegensatz zu Bärlach – schon einige Dinge recherchiert und herausgefunden, dass Schmied wohl ermordet wurde. Er unterbreitet Bärlach seine Theorie: Schmied musste seinen Mörder gekannt haben, denn er hielt in der Nacht an, um ihm die Beifahrertür zu öffnen. Dabei wurde er erschossen. Zudem trug Schmied unter seinem Mantel einen Anzug, woraus zu schließen sei, dass er an diesem Abend zu einer Gesellschaft unterwegs war. Ein weiteres Indiz findet sich in seinem Kalender, in dem er des Öfteren den Buchstaben G eingetragen hatte. Von der Vermieterin, Frau Schönler, weiß Tschanz, dass sich Schmied an diesen Abenden immer einen Anzug angezogen hat und mit seinem Auto wegfuhr.

Bärlach hat schon einen Verdacht, den er gegenüber Tschanz nicht äußern möchte. Ihm ist daran gelegen, dass sein Kollege objektiv und wissenschaftlich an den Fall herangeht, um ihn aufzuklären.

Tschanz schlägt vor, sich an diesem Abend, der ebenso in Schmieds Kalender das Zeichen G trägt, um sieben Uhr mit dem Auto nach Lamboing zu fahren, um der Sache nachzugehen.

Analyse

Zu Beginn des Romans präsentiert Dürrenmatt seiner Leserschaft, ganz nach dem klassischen Muster eines Kriminalromans, einen Leichenfund. Mit einem leicht ironischen Unterton wird von einem gutmütigen, doch etwas begriffsstutzigen Dorfpolizisten Clenin berichtet, der mitten in der Natur einen leblos scheinenden Menschen in einem blauen Mercedes entdeckt. Clenin vermutet zuerst einen Betrunkenen im Auto, dem er nach reichlicher Überlegung »menschlich, nicht amtlich begegnen« (S. 5) möchte. So legt er ihm nach Öffnen der Tür zuerst auch »die Hand väterlich auf die Schulter« (ebd.) und merkt im gleichen Moment, dass dieser Mensch sein Kollege Schmied ist und erschossen wurde.

Hier wird ein beliebtes Stilmittel von Dürrenmatt sichtbar: Das Grauen bricht plötzlich und unerwartet in eine banale, alltägliche Situation ein und hinterlässt einen hilflosen und überforderten Menschen: »Clenin wußte nicht recht, was er tun sollte. Als Dorfpolizist war ihm ein so blutiger Fall noch nie vorgekommen.« (S. 5 f.)

Anstatt wie im klassischen Sinne kriminalistischer Ermittlungen die Spuren am Fundort der Leiche zu sichern, ist Clenin darum bemüht, seine gewohnte Normalität aufrechtzuerhalten, und er möchte den Toten so schnell wie möglich wegtransportieren. Hier ist zum ersten Mal eine Abweichung zum Genre des Kriminalromans festzustellen, denn nun kommt es zur Schilderung einiger grotesker Situationen. Clenin schnallt die Leiche nämlich auf den Beifahrersitz und fährt mit ihr nach Biel, wobei sie »mit dem Kopf wie ein alter, weiser Chinese« (S. 6) nickte. Dürrenmatt verfremdet die oftmals erschreckende Realität mit dem Stilmittel der Groteske, sodass er zum einen auf das Absurde dieser Welt hinweist; zum anderen stellt er dadurch auch eine Distanz zur Wirklichkeit dar, die es seinen Leserinnen und Lesern ermöglicht, über die Angst hinweg lachen zu können.

Nach dem klassischen Handlungsschema des Kriminalromans, an das sich Dürrenmatt hier noch hält, folgt nun der Beginn der Ermittlungsarbeiten. Dazu hat der Autor aus den unterschiedlichsten Eigenschaften seiner Vorbilder – wie August Dupin (Edgar Allan Poe), Sherlock Holmes (Arthur Conan Doyle) oder Maigret (Georges Simenon) – seine Figur des Kommissars Bärlach geschaffen, der den Mordfall lösen soll.
Eigensinnig, kauzig, jedoch durchaus immer selbstbewusst, verlässt er sich nur auf seine eigenen konservativen Methoden der kriminalistischen Ermittlung. Eigenmächtig holt er sich zuerst wichtiges Beweismaterial aus der Wohnung des toten Polizisten Schmied und gibt keine Informationen an seinen Vorgesetzten weiter.

Die Darstellung einer kurzen Episode aus Bärlachs beruflicher Vergangenheit dient dem Autor dazu, die Haltung seines Heimatlandes, der Schweiz, zum damaligen nationalsozialistischen Deutschland zu kritisieren. Bei einem Einsatz in Frankfurt am Main gibt Bärlach 1933 einem hochrangigen Beamten eine Ohrfeige und ist deshalb gezwungen, auszureisen. In der Schweiz bewertete man dieses Verhalten »je nach dem Stand der europäischen Politik, zuerst als empörend, dann als verurteilungswert« (S. 8). Auch wenn die Schweiz politische Neutralität auf ihre Fahnen schrieb, betrieb sie doch eindeutig eine Interessenpolitik zu ihren Gunsten, denn 1945 wurde Bärlachs Haltung plötzlich »als die einzig für einen Schweizer mögliche Haltung« (ebd.) angesehen, sodass er rehabilitiert wurde.

Kommissar Bärlach zeigt gegenüber seinem direkten Vorgesetzten Dr. Lutz wenig Respekt, da er nicht durch seine Fachkompetenzen diese Position besetzt, sondern nur, weil »in dessen stadtbernisches Geschlecht ein Basler Erbonkel wohltuend eingegriffen hatte« (ebd.). Hier ist die Kritik Dürrenmatts an der Schweizer Vetternwirtschaft offensichtlich.

Da Bärlach an Magenbeschwerden leidet, wird ihm auf seine Bitte hin der Polizist Tschanz als Stellvertreter zur Seite gestellt. Bei ihrem ersten Zusammentreffen glaubt der Kommissar, »der tote Schmied komme zu ihm. Tschanz trug den gleichen Mantel wie Schmied und einen ähnlichen Filzhut« (S. 18). Dürrenmatt setzt damit den ersten Hinweis, der vermuten lässt, dass zwischen Tschanz und dem toten Schmied eine Verbindung bestehen muss.

Mit einem Lob über die gute Arbeit, die der tote Kollege Schmied geleistet hat, der Präsentation der Revolverkugel, die Bärlach zufällig am Tatort findet und der Äußerung gegenüber Tschanz, er hätte schon einen Verdacht, wer Schmieds Mörder sein könnte, beginnt der Kommissar schon seine ersten Züge in seinem Spiel zu setzen, die zum Ziel haben, Tschanz zu verunsichern. Durch dunkle Andeutungen, wie »Ich bin ein großer schwarzer Kater, der gern Mäuse frißt« (S. 23), wird diese Absicht von ihm noch untermauert. Mit dieser Äußerung hat er schon klar die Machtverhältnisse festgelegt, die zwischen beiden bestehen: Bärlach ist der Jäger, Tschanz sein Opfer. Geschickt überträgt er zwar Tschanz die Leitung des Falles: »Sie haben Schmieds Mörder festzustellen, ohne Rücksicht darauf, daß ich einen bestimmten Verdacht habe« (S. 22) und kaschiert damit seine wahren Absichten. Tschanz` Antwort: »Gut, ich bin einverstanden« (ebd.), zeugt davon, dass er Bärlachs Spiel zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchschaut hat.

Veröffentlicht am 3. März 2024. Zuletzt aktualisiert am 3. März 2024.