Skip to main content

Der Richter und sein Henker

Interpretation

Die Wette und ihre Folgen

Dürrenmatt entwirft mit seinem Roman »Der Richter und sein Henker« eine Geschichte, die er zwar geschickt in das traditionelle Schema eines Kriminalromans kleidet, ihr gleichzeitig jedoch noch eine tiefergehende, philosophische Ebene hinzufügt. Im Grunde genommen geht es dem Autor gar nicht um die reine Aufdeckung des Mordfalls am Polizisten Schmied, sondern um die Beendigung einer verhängnisvollen Wettsituation, die den eigentlichen Kern des Romans bildet.

In den Mittelpunkt stellt Dürrenmatt nämlich eine schicksalhafte Wette, die seine beiden Hauptfiguren – Bärlach und Gastmann – vor 40 Jahren miteinander eingegangen waren. In einer heruntergekommenen Kneipe in Konstantinopel trafen sich eines nachts zufällig ein damals noch »junger Polizeifachmann« (S. 65), Bärlach, und ein »herumgetriebener Abenteurer« (ebd.), Gastmann. Während Bärlach im Staatsdienst stand, im Besitz eines festen Jobs und eines wichtigen Auftrags der Regierung war, reiste Gastmann, ohne einen festen Lebensplan zu haben, frei und ungebunden durch die Welt.

Mit der Wette, die sie miteinander geschlossen hatten, nahmen sie beide nicht nur in Kauf, dass ihre Lebens- und Weltanschauung grundlegend verändert wurde. Letztendlich setzten die beiden Kontrahenten auch ihr Leben aufs Spiel.

Ihr Wetteinsatz lautete damals wie folgt: Gastmann behauptete, er könne vor den Augen Bärlachs jedes Verbrechen begehen, ohne dass er ihn dafür zur Rechenschaft ziehen könne. Durch das Chaos des menschlichen Lebens an sich wäre es immer und zu jeder Zeit möglich, ein Verbrechen im Dunkeln zu begehen, ohne dass es von Bärlach geahndet werden könne (S. 67).

Bärlach hielt dagegen und vertrat die These, dass grundsätzlich jedes Verbrechen eben gerade durch dieses Chaos früher oder später ans Licht komme. Das menschliche Verhalten könne nicht vorausgesagt werden, denn eher wäre es der Zufall, der das menschliche Leben bestimme (ebd.). 

Beide ließen sich auf diese »teuflische Versuchung des Geistes durch den Geist« (ebd.) ein, und die Erbringung eines Beweises wurde jeweils für sie zur Obsession ihres Lebens.

Tatsache ist, dass Bärlach nach über 40 Jahren seinen Kontrahenten noch immer nicht eines Verbrechens überführen konnte. Um Gastmann endlich als Verbrecher zu entlarven, treibt er sein heimtückisches Spiel wie besessen nun auf die Spitze und scheut auch nicht davor zurück, die Grenzen des Rechtssystems zu übertreten. Er manipuliert seinen eigenen Mitarbeiter Tschanz, denn dieser ist für Bärlach nichts weiter als eine Marionette in seinem hinterlistigen Spiel. Letztendlich treibt er ihn sogar in den Tod. Damit macht Bärlach sich nicht nur schuldig, sondern führt auch seine eigene These ad absurdum.

Zu guter Letzt geht keine der beiden Figuren eindeutig als Sieger aus dieser Wette hervor. Während Gastmann für ein Verbrechen büßen muss, das er gar nicht begangen hat und mit seinem Leben bezahlt, macht Bärlach sich schuldig, indem er das Böse mit Bösem bekämpft und damit die geltende Ordnung des Rechtssystems aushebelt. So steht er Gastmann letztendlich in nichts nach. Ohne Skrupel beschreitet Bärlach einen Weg in die Rechtlosigkeit und versucht diesen auch noch moralisch und religiös zu rechtfertigen: »Er wird dich töten, denn es muß nun eben mal in Gottes Namen getan werden.« (S. 100)  

Der Richter und sein Henker

Da im Jahr 1942 die Todesstrafe in der Schweiz abgeschafft und aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, ist es klar, dass es sich bei diesem Titel, den Dürrenmatt für seinen Roman gewählt hat, um eine Metapher handelt. Denn ein Henker, der der Justiz zur Vollstreckung der Todesstrafe zur Seite steht, gehört im Jahr 1948, in dem die Geschichte spielt, längst der Vergangenheit an. Der Richter, der stellvertretend für die Rechtsordnung innerhalb einer Gesellschaft als Staatsdiener die richterliche Gewalt ausübt, ist jedoch bis heute Teil eines gut funktionierenden Rechtsstaats.

So lässt sich durch die beiden Berufsbezeichnungen, die Dürrenmatt für den Titel seines Romans gewählt hat, schon vermuten, dass es sich hier um ein recht spannungsreiches Themenfeld zu handeln scheint, um das es geht: nämlich um das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit.

Kommissar Bärlach ist derjenige, der sich im Verlauf der Geschichte als Richter aufspielt und sich praktisch mittelalterlicher Methoden bedient, um seinen Kontrahenten zu richten (S. 100). Er agiert aus dem Hintergrund wie ein Marionettenspieler, der ein gut geplantes Spiel mit seinen Figuren aufführt. Er muss nur an deren Fäden ziehen, damit sie nach seinem Plan handeln (S. 114). Dabei entpuppt er sich regelrecht als ein Gerechtigkeitsfanatiker, der sich auch nicht davor scheut, sich über das geltende Recht hinwegzusetzen.

Alle Mittel sind ihm recht, um seinen Widersacher zur Strecke zu bringen. Bärlach schreckt auch nicht davor zurück, einen anderen Menschen als Henker zu benutzen, der für ihn das Urteil ausführt (S. 100). Von Anfang an treibt er ein falsches und heimtückisches Spiel mit seinem Untergebenen, dem Polizisten Tschanz (S. 114) und setzt ihn als Waffe gegen seinen Widersacher Gastmann ein (S. 116). Doch Tschanz merkt erst viel zu spät, dass er als Vollstrecker von Bärlachs eigenmächtig gefälltem Urteil, sozusagen als Henker, für ihn agiert.  

Immer klarer wird, dass es Bärlach nie darum gegangen ist, die Mordtat am Polizisten Schmied aufzulösen, sondern ihm war nur daran gelegen, seinen persönlichen Rachefeldzug gegen seinen Gegner Gastmann, den es zu vernichten gilt, endlich zu beenden.

Bärlach geht von Anfang an mit einer gewissen Skrupellosigkeit vor, denn ohne Gewissensbisse setzt er sich dabei über die geltende Rechtsprechung hinweg, indem er außerhalb der rechtlichen Normen agiert. Indem er Gastmann für ein nicht begangenes Verbrechen schuldig spricht und Tschanz, seinen Mörder, nicht dem Gericht zuführt, sondern ihn freispricht, begeht er Machtmissbrauch.

Bärlach gelingt es zwar, seinen Gegner endlich zu richten und zu vernichten, aber damit lädt er wiederum Schuld auf sich, und ihm bleibt zum Ende hin nichts mehr als nur noch auf seinen eigenen Richter zu warten, und zwar auf den Tod, denn er hat durch seine Krankheit nur noch ein Jahr zu leben (S.109).

Die Rolle des Zufalls

Ein zentrales Motiv, das Dürrenmatt immer wieder in seinen Werken thematisiert hat, ist der Zufall. Der Zufall hat eine philosophische Dimension, denn er steht dem planenden Menschen entgegen und zeigt die Grenzen des menschlich Machbaren auf. Er ist für den Autor Ausdruck einer verlorenen Ordnung, in einer Welt, die für ihn aus Chaos besteht.

Eng gepaart damit sind es die philosophischen Fragestellungen von Recht und Unrecht, Gut und Böse, die der Autor nicht nur in seinen Theaterstücken auf die Bühne bringt, sondern auch in seinen Romanen platziert hat. In einer zunehmend unüberschaubaren, chaotischen Welt, deren Ordnung durch die darin wirkenden Zufälle für das Individuum brüchiger und fragwürdiger erscheint, kann auch die Vernunft des Menschen immer weniger ausrichten.

In seinem Roman »Der Richter und sein Henker« verdeutlicht Dürrenmatt insbesondere an seinem Entwurf der Figur des Kommissars Bärlach die Hilflosigkeit und Ohnmacht, mit der der Mensch sich in dieser unüberschaubaren Welt, die immer wieder vom Chaos und dem Zufall durchbrochen wird, bewegt. So sieht sich selbst dieser konservative, rechtschaffene Polizeibeamte eines demokratischen Staates mit einer funktionierenden Rechtsordnung letztendlich dazu gezwungen, den Pfad des geltenden Rechts zu verlassen, um einen Verbrecher zur Strecke zu bringen, da er nach den Regeln der Vernunft und Ordnung ihm nicht beikommen kann.

Der Zufall bildet auch die Grundlage der Wette, die auf einem zufälligen Zusammentreffen zweier Fremder in Konstantinopel beruht, die sich des Nachts in einer Kneipe treffen und eine Wette abschließen, die sie dann ein Leben lang aneinanderketten wird. Bärlach vertritt die These, dass der Mensch den Zufall nicht in seine Handlungen mit einbauen kann, sodass jedes Verbrechen eines Tages zufällig ans Licht kommen wird. Gastmanns Gegenthese beruht ebenfalls auf dem Prinzip des Zufalls. Aber gerade dadurch, dass dieser existiert, werden viele Verbrechen erst gar nicht erkannt und können dann auch nicht geahndet werden.

Auf der ersten Handlungsebene, in der der Mordfall am Polizisten Schmied im Fokus steht, wird die These Bärlachs bestätigt. Hier bringt der zufällige Patronenfund die Ermittlungen voran, denn dieser trägt dazu bei, den Mörder zu entlarven. Auf der zweiten Handlungsebene, die sich um die Wette dreht, bewahrheitet sich wiederum Gastmanns These. Ihm gelingt es unter dem Deckmantel eines reichen Geschäftsmanns, der sich für das Wohl des Staates verdient gemacht hat, zahlreiche Verbrechen zu begehen, die weder durch die polizeiliche Arbeit Bärlachs noch durch Zufall ans Licht kommen.  

Veröffentlicht am 3. März 2024. Zuletzt aktualisiert am 3. März 2024.