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Der Richter und sein Henker

Historischer Hintergrund und Epoche

Der Roman »Der Richter und sein Henker« wurde von Dürrenmatt unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1948 verfasst. Als Staatsbürger der Schweiz hatte er den Vorteil, dass er aus einer gewissen distanzierten Haltung heraus auf diese Schreckenszeit zurückblicken konnte. Denn die Schweiz gehörte zu den sechs Ländern, die im Zweiten Weltkrieg eine neutrale Position einnahmen. Dass diese Rolle sehr zwiespältig und umstritten war, wird vom Autor gleich zu Anfang des Romans thematisiert. Kommissar Bärlach ist nämlich gezwungen, 1933 – im Jahr der Regierungsübernahme Hitlers – Deutschland zu verlassen, weil er einem Beamten aus der neuen Regierung eine Ohrfeige verpasst hatte (S. 8). Wurde dieses Verhalten anfänglich noch von den Schweizer Behörden verurteilt, gingen sie 1945 dazu über, diese Haltung »als die einzige für einen Schweizer mögliche« (ebd.) anzuerkennen. Bärlach kam aus diesem Grund, wenn auch sehr spät, erst nach Ende des Krieges in den Genuss einer vollständigen Rehabilitation.

Der sogenannte »Kalte Krieg«, der sich nun nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den Ost- und Westmächten immer mehr zu einem bedrohlichen Konflikt entwickelte, rückte Anfang der 50er-Jahre immer mehr in den Mittelpunkt der internationalen Politik. Im Roman finden sich – meist hintergründig – einige Verweise auf die damalige brisante politische Lage. Einen Hinweis darauf liefert der Autor mit der Beschreibung der Abendgesellschaften bei Gastmann, an denen die Schweizer Industriellen dubiose Geschäfte mit ausländischen Partnern – dem kommunistischen China – tätigen. Es geht dabei um Millionen, was vermuten lässt, dass es sich hierbei um Waffengeschäfte gehandelt haben könnte (S. 55). Dass dazu mit den Kommunisten – dem Feind – verhandelt werden muss, ist bei dieser Größenordnung der Geschäfte in Kreisen der wirtschaftlichen Elite Nebensache. Das ökonomische Interesse der Schweiz steht hier eindeutig über der Parteipolitik, wie Oberst von Schwendi verlauten lässt (S. 53). Der Autor übt hier eine klare Kritik an der Politik seines Landes, die sich durch eine gewisse Scheinheiligkeit auszeichnete. Vordergründig wurde in der idyllischen Schweiz auf dem internationalen Parkett die politische Neutralität vertreten, während in den Hinterzimmern der Wirtschaftselite mit Billigung der Regierung dubiose Geschäfte betrieben wurden.

In den Äußerungen des Nationalrats von Schwendi findet sich eine weitere Anspielung auf die Tatsache, dass in der vorherrschenden politischen Weltlage die Westmächte die Kommunisten zum neuen Feindbild erklärt hatten. So vermutet der rechtskonservative Schweizer bei der nächtlichen Schießerei, die die Polizisten Bärlach und Tschanz am Abend des geheimen Treffens vor Gastmanns Haus ausgelöst hatten, sofort, dass nur ein Anschlag der Kommunisten dahinterstecken könnte (S. 36).

Um 1950 war Europa wieder im Aufstieg begriffen, und besonders die Schweiz, weniger berührt vom Krieg als andere europäische Länder, erfreute sich am aufsteigenden »Wirtschaftswunder«. Die Menschen kehrten langsam zu ihrem Alltag zurück, Industrie und Wirtschaft boomten, und es konnte sich endlich wieder etwas gegönnt werden. Die Welt öffnete sich langsam wieder, und an vielen Stellen fängt Dürrenmatt diese hoffnungsvolle Aufbruchstimmung, die für die Zeit prägend war, ein. Tschanz legt sich ein teures Auto, einen Mercedes, zu und hat Spaß am schnellen Fahren. Gastmann profitiert als angesehener Geschäftsmann von den internationalen Kontakten, die nun wieder geknüpft werden können. Er bringt die große Welt in das kleine, verschlafene Schweizer Dorf Lamboing. Dadurch haben auch alle Dorfbewohner einen wirtschaftlichen Vorteil. Gastmann zahlt nämlich die Steuern für das ganze Dorf (S. 41).

Ohne einen direkten Bezug auf die zurückliegenden grauenvollen Kriegsjahre zu nehmen, gelingt es dem Autor, gut verpackt im recht populären Genre des Kriminalromans, in seinem Roman »Der Richter und sein Henker« wichtige Themen anzuschneiden, mit denen sich nicht nur die Weltpolitik, sondern auch das einzelne Individuum beschäftigte. Es sind die Fragen nach Gerechtigkeit, Gut und Böse und nach Schuld und Sühne.

1841 erschien die erste Deketivgeschichte von Edgar Allan Poe »The Murders in the Rue Morgue«. Seit dem späten 19. Jahrhundert werden unter dem Begriff Kriminalliteratur Werke verstanden, die sich mit der Darstellung eines Verbrechens und seiner Aufklärung als zentralem Thema beschäftigen. Dürrenmatt bedient sich dieses Genres, um seine Kunst da einzusetzen, wo sie niemand vermutet. Jedoch treibt er auch gleichzeitig sein Spiel mit ihm, indem er das klassische Schema immer wieder durchbricht. So kratzt der Autor  an dem der Kriminalliteratur entgegengebrachten Vorurteil, nur seichte Unterhaltungsliteratur zu sein. Dürrenmatt gelingt es schließlich, insbesondere unter Einsatz seiner sehr eigenen Stilmittel der Komik und Groteske, spannende Unterhaltung mit ernsten gesellschaftspolitischen Themenstellungen zu verknüpfen und holt den Kriminalroman damit aus der Nische der Trivialliteratur heraus. 

Veröffentlicht am 3. März 2024. Zuletzt aktualisiert am 3. März 2024.