Skip to main content

Der Richter und sein Henker

Kapitel 16-18

Zusammenfassung

In der Nacht erwacht Bärlach und nimmt wahr, dass sich ein Einbrecher in seiner Wohnung befindet. Dieser scheint sich gut auszukennen. Er verursacht einen Kurzschluss, damit die Wohnung im Dunkeln bleibt und benutzt das Schlangenmesser auf Bärlachs Schreibtisch, um ihn umzubringen. Bärlach schießt mit seinem Revolver in die Luft, sodass in den Nachbarwohnungen das Licht angeht und seine Wohnung damit ebenso erhellt wird. Das Messer landet in der gegenüberliegenden Wand, und der Einbrecher verschwindet nach dem missglückten Überfall.

Bärlach ruft seinen Kollegen Tschanz herbei und schildert ihm den Vorfall. Zudem äußert er, dass er den Einbrecher zwar nicht erkannt habe, er wisse aber, wer er sei. Tschanz, der wieder geht, dreht am Gartentor noch einmal um, um nochmals ins Haus zu gehen. Die Tür ist nun jedoch abgesperrt.

Bärlach nimmt am Morgen ein Taxi, um zum Bahnhof zu fahren. Das Taxi wird von einem Diener Gastmanns gesteuert, und er selbst sitzt hinten im Wagen. Bärlach prophezeit seinem langjährigen Widersacher Gastmann, dass es ihm heute endlich gelingen wird, ihn für ein Verbrechen zu strafen, das er gar nicht begangen hat. Er sei der Einzige, der ihn richten könne, und ein Henker stünde schon bereit. Nach dieser Ankündigung steigt Bärlach aus dem Auto und geht zum Zug.

Tschanz passt die Freundin seines Kollegen Schmieds, Anna, nach dem Gottesdienst vor der Kathedrale ab. Er erzählt ihr, dass er heute den Mörder ihres Verlobten stellen wolle. Zudem fragt er sie, ob sie mit ihm eine Beziehung eingehen wolle, was sie bejaht.

Anschließend begibt Tschanz sich zum Hause Gastmanns. Er trifft diesen abreisebereit mit zwei Dienern in der Eingangshalle an. Einer nimmt einen Revolver aus der Manteltasche und schießt, worauf Tschanz, von einer Kugel an der linken Schulter getroffen, ebenfalls seine Waffe zieht und Gastmann erschießt.

Analyse

Gleich zu Beginn konfrontiert Dürrenmatt in der dritten Erzählphase seine Leserschaft mit einem Überfall auf Bärlach, wobei wieder das Schlangenmesser als Waffe gegen ihn verwendet wird. Die Bedrohung und Verunsicherung Bärlachs erleben die Leserinnen und Leser nun aus der Perspektive des Kommissars, sodass die Distanz zu dieser Figur damit aufgehoben wird und sie sich in dieser Szene mit ihr vollkommen identifizieren können.

Obwohl Bärlach gerade erfahren hat, dass seine Lebenszeit wohl nur noch ein Jahr beträgt, setzt er alles daran, diesen Angriff zu überleben, denn er spürt im Angesicht des Todes im Innern einen absoluten Drang zum Leben: »Er dachte an nichts mehr, nicht mehr an Gastmann, nicht mehr an Lutz, auch nicht mehr an die Krankheit, die an seinem Leibe fraß, Stunde um Stunde, im Begriff, das Leben zu zerstören, das er nun verteidigte, voll Gier zu leben und nur zu leben.« (S. 94) Bärlach nimmt »den Kampf um ein Leben« (ebd.) auf, und durch einen Trick gelingt es ihm, mit dem Leben nochmals davonzukommen.

Die Nacht mit ihrer Dunkelheit spielt in dieser Szene eine große Rolle. Dürrenmatt schafft damit zum einen eine düstere und bedrohliche Atmosphäre, sodass man förmlich die Nähe des Todes spüren kann. Zum anderen symbolisiert die Dunkelheit auch die Ausweglosigkeit und Einsamkeit des todkranken Bärlachs. Hier ist er dem Tod zwar noch entkommen, aber an der nächsten Ecke lauert er ihm schon wieder auf: »Bärlach stand an der Wand, wieder in der Dunkelheit, eins mit ihr, allein im Haus.« (S. 95)

Letztendlich rettet das Licht sein Leben, denn dem Kommissar gelingt es, durch einen Trick wieder Licht in die Dunkelheit zu bringen. Dieses Spiel, das Dürrenmatt mit Licht und Schatten betreibt, findet sich insbesondere in Form von Natur- und Wetterbeschreibungen an den verschiedensten Stellen in der Geschichte wieder. Der Autor nutzt sie überwiegend dazu, entsprechende Stimmungsbilder zu erzeugen, die jeweils zur Szenerie seiner Handlung passen. Hier kommt deutlich zum Vorschein, dass Dürrenmatt auch ein begabter Maler und Zeichner war: mit diesen detaillierten Beschreibungen schuf er regelrecht literarische Gemälde.

Durch die bedrohliche Äußerung, die der Kommissar gegenüber Tschanz macht, der sofort am Tatort erscheint: »Aber wenn ich ihn auch nicht sah, kaum seinen Atem hörte, ich weiß, wer es gewesen ist. Ich weiß es; ich weiß es« (S. 97), entsteht bei Tschanz ein hoher Handlungsdruck, da er merkt, dass die Schlinge um seinen Hals immer enger wird.

So schreitet er tatsächlich zur Tat und kündigt seine Absichten vorher noch Anna, der Ex-Freundin seines Kollegen Schmied, an: »Fräulein Anna, […], heute werde ich Ulrichs Mörder stellen.« (S. 101) Dies verbindet er gleichzeitig mit der Bitte, sie solle ihm dann doch »das gleiche wie Ihrem verstorbenen Bräutigam sein« (S. 102). Hier kommt der krankhafte Charakter von Tschanz endgültig zum Vorschein. Der Besitz der Verlobten ist der letzte Mosaikstein, der ihm noch fehlt, um mit der beneideten Person – dem Kollegen Schmied – endgültig zu verschmelzen. Nachdem er die Zusicherung von Anna bekommen hat, ist er praktisch am Ziel seiner Wünsche, sodass er sich zu Gastmann begibt und ihn erschießt.

Der Schlagabtausch zwischen Bärlach und Gastmann läuft nun auch auf seinen Höhepunkt zu. Im Taxi, das Bärlach bestellt hat, um zur Kur zu fahren, sitzt unverhofft Gastmann, der ihm rät, das Spiel endlich aufzugeben und seine »Niederlage einzusehen« (S. 99). Bärlach kommt auf die Schuldfrage zu sprechen, die er für sich als Vorwand nimmt, dieses Spiel nicht aufgeben zu können: »Du bist in jener Nacht in der Türkei schuldig geworden, weil du die Wette geboten hast, Gastmann, und ich, weil ich sie angenommen habe.« (S. 99) In seinen Augen muss Bärlach zwangsläufig weitermachen, sodass er sich endlich seiner eigenen Schuld entledigen kann. Dazu ist er bereit, jegliche Grenzen der bestehenden Rechtsordnung zu überschreiten, womit er praktisch neue Schuld auf sich lädt und in die Fußstapfen seines Widersachers tritt: »Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.« (S. 100) Hier kündigt er an, wenn es sein muss, sich auch außerhalb von Recht und Ordnung zu bewegen, damit die Gerechtigkeit endlich zu ihrem Recht kommt. Bärlach ist bereit, Selbstjustiz zu üben und die gesetzlichen Regeln zu übertreten, um den Verbrecher endlich zu überführen. Nun wird nochmals besonders deutlich, dass Dürrenmatt mit der Setzung dieser moralisch-ethischen Thematik dem klassischen Kriminalroman eine zusätzliche tiefere Dimension verliehen hat.

Das Streitgespräch gipfelt in der pathetisch, fast biblisch anmutenden Prophezeiung, die Bärlach Gastmann entgegnet: »Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben, Der Henker, den ich auserkoren habe, wird heute zu dir kommen. Er wird dich töten, denn das muß nun eben einmal in Gottes Namen sein.« (S. 100)

Veröffentlicht am 3. März 2024. Zuletzt aktualisiert am 3. März 2024.