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Der Richter und sein Henker

Kapitel 19-21

Zusammenfassung

Lutz berichtet am nächsten Tag, dass Schmied als Privatmann gegen die zahlreichen Verbrechen Gastmanns ermittelt hatte und von ihm aus diesem Grund getötet wurde. Er erklärt den Fall Schmied für aufgeklärt und abgeschlossen. Bärlach schweigt zu dieser Bestandsaufnahme.

Am Abend lädt Bärlach Tschanz in seine Wohnung zu einem üppigen Menü ein. Während des Essens teilt Bärlach Tschanz mit, dass dieser Schmieds Mörder sei und legt ihm anschließend detailliert seine Motive offen. Zudem gibt er zu, Tschanz dazu benutzt zu haben, Gastmann zur Strecke zu bringen. Er hat sich als Richter Gastmanns aufgespielt und dazu als Henker Tschanz für seine Zwecke genutzt.

Am nächsten Morgen findet man Tschanz tot in seinem Wagen vor, der von einem Zug erfasst wurde. Der todkranke Bärlach begibt sich in die Hände seines Arztes.

Analyse

Die Geschichte scheint jetzt wie in einem klassischen Kriminalroman zu einem Abschluss gebracht worden zu sein: Der Mörder des Polizisten Schmied steht fest und heißt Gastmann. Zumindest ist es für Lutz und von Schwendi in ihrer Naivität »bewiesen, daß Gastmann auch Schmied ermorden ließ« (S. 108), sodass sie den Fall für »abgeschlossen« (ebd.) halten. Lutz meint sogar, Tschanz für seine Tat, die aus Notwehr geschah, noch »befördern« (ebd.) zu müssen. Mit dieser Fehleinschätzung der beiden Personen von hohem Rang und Namen führt Dürrenmatt die Dummheit und Inkompetenz der führenden gesellschaftspolitischen Klasse nochmals vor und gibt sie damit der Lächerlichkeit preis.

Bei den Leserinnen und Lesern hinterlässt diese Lösung einen faden Beigeschmack, da es fraglich bleibt, ob der Fall tatsächlich gelöst ist. Gastmann ist von Tschanz zwar getötet, aber nicht nach Recht und Gesetz verurteilt worden. Der Täter Tschanz, der zwei Morde begangen hat – was nur Bärlach und den Leserinnen und Lesern bekannt ist –, wurde ebenso nicht vor ein ordentliches Gericht gestellt. Zu guter Letzt gibt es noch einen Kommissar, der aus eigennützigen Gründen die Rechtsordnung verlassen und an seinem Gegner eine Art Selbstjustiz verübt hat. So kann nicht die Rede davon sein, dass die Gerechtigkeit gesiegt hat und die Welt nun wieder in Ordnung ist.

Die letzte Szene des festlichen Abendessens zwischen Bärlach und Tschanz dient Dürrenmatt dazu, seinen Leserinnen und Lesern anhand einer logisch aufgebauten Indizienkette also noch eine Entlarvung des Täters zu liefern. Dadurch kommt auch das heimtückische Spiel Bärlachs, mit dem er Tschanz in seine »furchtbarste Waffe verwandelt« (S. 116) hatte, um seinen Gegner zur Strecke zu bringen, vollends zum Vorschein.

Zwar krank, aber »gierig die Speisen dieser Welt in sich hineinschlingend« (S. 111), präsentiert sich Bärlach nun als »Tiger, der mit seinem Opfer spielt« (S. 113). Mithilfe grotesk-komischer Elemente und des Spiels aus Licht und Schatten, die Dürrenmatt in dieser Szene geschickt einsetzt, entwickelt er eine monströse Fressorgie, die das Opfer einschüchtern soll. Durch das Kerzenlicht entstehen Schattenbilder an der Wand, die Bärlachs Gestalt »zweimal vergrößert« (S. 111) widerspiegeln.

In dieser bedrohlichen Szenerie, die an eine Henkersmahlzeit erinnert, sagt Bärlach Tschanz nun auf den Kopf zu: »Du bist Schmieds Mörder« (S. 112), um ihm dann anhand seiner Indizienkette die Beweise zu liefern.
Hatte Bärlach gegenüber Gastmann zwar damals in Konstantinopel noch behauptet, man könne die Menschen nicht wie Schachfiguren behandeln, ging er bei seinem Plan nun selbst strategisch wie ein »unerbittlicher Schachspieler« (S. 114) vor: »Alles, was ich tat, geschah mit der Absicht, dich in äußerste Verzweiflung zu treiben« (S. 116), um Gastmann, den »Teufel in Menschengestalt« (ebd.), zu vernichten.
Bärlach erweist sich hier als hinterlistiger Stratege, der sich nicht davor scheut, mit den Mitteln der Manipulation und Täuschung Menschen für seine egoistischen Zwecke einzuspannen. Zuerst setzte er wie ein Jäger, Schmied, »ein edles Tier« (S. 116), »auf eine wilde Bestie« (ebd.) an. Als dies scheiterte, hetzte er »wie Tiere« (ebd.) Tschanz und Gastmann aufeinander. Der Mörder Tschanz erkennt jetzt endlich, dass er zu einem heimtückischen Spiel missbraucht wurde: »Dann waren Sie der Richter, und ich der Henker.« (S. 117)

Schließlich nimmt Bärlach sich noch die Freiheit heraus und überführt Tschanz als Täter nicht der Gerichtsbarkeit. Damit treibt er ihn letztendlich in den Selbstmord.

Zum Schluss wird klar, dass es dem Kommissar nie um die Aufklärung des Mordfalles an seinem Kollegen Schmied ging, sondern ihm in erster Linie daran gelegen war, seinen Kontrahenten Gastmann zu vernichten. Da er dieses Ziel nur mit rechtswidrigen Mitteln erreicht hat, gleicht er im Grunde genommen demjenigen, den er verfolgt hat, denn er hat sich vor dem geltenden Recht selbst schuldig gemacht.

Bärlach musste somit zum Verbrecher werden, um das Verbrechen zu bekämpfen. Die Schuldigen sind zwar bestraft worden, aber damit kann die Ordnung dieser Welt nicht wiederhergestellt werden. Ganz im Sinne Dürrenmatts bleibt bei den Leserinnen und Lesern die irritierende Einsicht zurück, dass sich das Recht und die Gerechtigkeit in der Absurdität dieser Welt, die durch das Prinzip des Zufalls gekennzeichnet ist, auch schnell in ihr Gegenteil verkehren lassen.

Veröffentlicht am 3. März 2024. Zuletzt aktualisiert am 3. März 2024.