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Homo faber

Historischer Hintergrund und Epoche

Als Max Frischs Roman »Homo faber« 1957 veröffentlicht wurde, befand sich die Welt, zwölf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wieder in einer angespannten politischen Lage. Die beiden Großmächte USA und UdSSR standen sich kompromisslos im sogenannten »Kalten Krieg« einander gegenüber, der vor allem durch die Hochrüstung mit atomaren Waffen gekennzeichnet war.

Die beiden Machtblöcke lieferten sich einen Wettlauf, der insbesondere auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik zu spüren war. Sein Kennzeichen war der uneingeschränkte Glaube an den Fortschritt der Menschheit durch die alleinige Macht der Technik. Wenige Tage vor der Veröffentlichung des Romans »Homo Faber« schickte die UdSSR ihr erstes bemanntes Raumfahrzeug »Sputnik« ins All, was die Großmacht USA in ihrem Glauben, die technologisch führende Nation zu sein, erschütterte.

Trotz der bedrohlichen weltpolitischen Lage blickte die deutsche Bevölkerung wieder mit Optimismus in die Zukunft. Langsam hatte sie sich im Frieden eingerichtet, und durch die soziale Marktwirtschaft wuchs der anfänglich bescheidene Wohlstand zum sogenannten »Wirtschaftswunder« heran. Die Autoindustrie boomte, das Einkommen stieg, und erste Reisen waren wieder möglich. Dabei galt die USA, das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, als das Traumland der Deutschen schlechthin. Der amerikanische Lebensstil, »the American Way of Life«, hielt Einzug in die Gesellschaft, was sich in der Mode (Jeans), Musik (Rock ‘n’ Roll/Elvis Presley) und bei den Konsumgütern (Zigaretten, Whisky) widerspiegelte.

Mit diesem wirtschaftlichen Aufstieg schritt innerhalb der deutschen Gesellschaft gleichzeitig die Verdrängung ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit voran. Dass die Welt unter dem nationalsozialistischen Terror vor nicht allzu langer Zeit im Krieg und Chaos versank – davon wollten die Deutschen jetzt nichts mehr wissen. Das praktische und nützliche Denken sowie das »Nach vorne schauen« wurden in der Nachkriegszeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vorgezogen.

So warb die Partei der CDU/CU auch erfolgreich für eine optimistische Sicht in die Zukunft und gewann am 15. September 1957 mit den Slogans »Wohlstand für alle« und »Keine Experimente« zum dritten Mal nach dem Krieg die Bundestagswahlen mit ihrem Kandidaten Konrad Adenauer. Durch diesen Wahlsieg ging es in den sogenannten »Restaurationsjahren« auch politisch für die BRD weiter aufwärts. Deutschland war mittlerweile Mitglied des Europarats sowie der NATO und bekam 1956 wieder eine Bundeswehr, deren Wiederbewaffnung im Jahr 1957 beschlossen wurde.

Kennzeichen der Literatur, die in diesem politischen Klima der 50er-Jahre entstand, war vor allem ihre Zeitkritik. Themen wie die atomare Aufrüstung, die Wohlstandsgesellschaft, der uneingeschränkte Technikglaube und auch die Schuldverdrängung der Deutschen wurden von den Kunstschaffenden aufgegriffen und standen im Kreuzfeuer der Kritik. Insbesondere fand sich in den Geisteswissenschaften eine massive Technikkritik, die auch von Max Frisch geteilt wurde. Die philosophischen Schriften, sowohl von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung, 1947) als auch von Martin Heidegger (Die Frage nach der Technik, 1954), übten einen starken Einfluss auf den Autor in dieser Zeit aus.

Anhand seiner Figuren und ihren Beziehungen zueinander greift Max Frisch die genannten Themen im Laufe seiner Geschichte auf. In der Beziehung zwischen Hanna und Faber wird die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen ins Bild gerückt. Anhand des Umgangs damit werden auch Verdrängungsstrategien, die Faber dabei an den Tag legt, deutlich. Zudem lassen die Äußerungen der Figur Herbert Henckes erkennen, wie sehr im Bewusstsein der Deutschen noch immer die Ideologie des nationalsozialistischen Regimes verankert ist. Es ist nicht nur die Beschreibung der Frauenfigur Ivy als typische Amerikanerin, sondern auch die Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten Marcel und Faber, mit der Frisch die Thematik des amerikanischen Lebensstils in seine Geschichte mit einbringt. Zu guter Letzt zeigt er mit den internationalen Schauplätzen, die er als Kulisse für seinen Roman verwendet, seiner Leserschaft, dass die Welt sich wieder geöffnet hat: Es darf und kann wieder gereist werden.

Der Roman »Homo Faber« gilt als Klassiker der Beschreibung eines modernen Menschen, denn es ist Max Frisch, der hier zum ersten Mal mit seiner Figur Walter Faber einen Prototyp von ihm kreiert. In seinem Charakter bündeln sich die Gegensatzpaare, wie Ratio und Gefühl, Mann und Frau, Moderne und Antike sowie Kunst und Technik, mit denen er die Auseinandersetzungen widerspiegelt, mit denen heute die Menschheit noch immer beschäftigt ist. Insofern haftet dem Roman eine gewisse Zeitlosigkeit an, sodass er sogar immer noch als Schullektüre verwendet wird.

Veröffentlicht am 18. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. Juli 2023.