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Homo faber

Interpretationsansätze

Reisen als Medium der Identitätsfindung

Die gesamte Romanhandlung strukturieren Reisen, denn alle Hauptfiguren sind in der Gegenwart oder waren in ihrer Vergangenheit unterwegs. Insofern kommt diesem Motiv eine besondere Bedeutung zu.

Der Hauptprotagonist Faber ist gebürtiger Schweizer, versteht sich jedoch selbst als Weltbürger, da das internationale Parkett sein Zuhause ist. Er fliegt um den Erdball, kommt innerlich jedoch nicht von der Stelle, da er keinen emotionalen Zugang zu sich selbst hat.

Frisch wählt in seinem Roman nun das Medium des Reisens, um den inneren Entwicklungsprozess eines Menschen zu sich selbst darzustellen. Die Reisen und damit auch die Orte, an denen sein Ich-Erzähler Faber sich aufhält, sind eng mit seinem inneren Seelenzustand verbunden, sodass sie als Bewusstseinsreisen verstanden werden können, die ihn schließlich zu sich selbst führen. Herbert, Marcel und Sabeth sind die Figuren, die Faber auf der Reise begleiten, denn sie geleiten ihn jeweils in eine andere Welt: Herbert in seine Vergangenheit, Marcel in den Dschungel und Sabeth in die Jugend und Liebe. Sie können als eine Art Götterboten des Hermes verstanden werden, dem Gott aus der Unterwelt, der einerseits als Gott der Reisenden gilt, andererseits die Seelen der Verstorbenen in den Hades geleitet. Bezeichnend ist auch, dass der Autor seinen Hauptprotagonisten Faber mit einer Schreibmaschine ausgestattet hat, die von ihrem Hersteller, dem Schweizer Unternehmen Paillard, als »Hermes-Baby« (S. 161) bezeichnet wurde. Sie kam 1935 auf den Markt und war als kompakte Reiseschreibmaschine mit einem geringen Gewicht insbesondere bei Autorinnen und Autoren sehr beliebt.   

Faber arbeitet als Techniker in einer internationalen Organisation (UNESCO), sodass das Reisen in seinem Beruf zum alltäglichen Geschäft gehört. Sein bevorzugtes Reisemittel ist das Flugzeug, sodass Frisch ihn schon zu Beginn der Geschichte in ein Flugzeug platziert und ihn aus der modernen, hochtechnisierten Welt nach Südamerika fliegen lässt. Mit dem Flugzeug, das als Symbol für technischen Fortschritt und Schnelligkeit gilt, kann die größtmögliche Distanz zur Erde hergestellt werden, was Faber sehr entgegenkommt, denn er ist ein Distanzmensch und meidet die Nähe zu Menschen. Hanna kommentiert dazu einmal treffend, dass der Techniker versuche, die Welt durch Tempo zu verdünnen, damit er sie nicht erleben muss (S. 169).

Dadurch, dass die Super-Constellation, so der Name des Flugzeugtyps, in der Wüste notlanden muss, bekommt das Weltbild Fabers einen ersten Riss: Die Technik hat versagt. Ab diesem Moment verliert Fabers Leben im Verlauf der Geschichte Stück für Stück seine Struktur und Orientierung. Nun, durch den Absturz in die Wüste hineinkatapultiert, fühlt Faber sich wie in einem Totenreich. Sein weiterer Weg führt ihn dann mit Herbert in den Dschungel Guatemalas, um Joachim, seinen alten Jugendfreund, wiederzusehen. An diesem Ort begegnen ihm, wie in der Wüstenlandschaft, weitere Hinweise auf den Tod, beispielsweise in Form der Aas fressenden Zopiloten, die einen toten Esel zerpflücken. Es erfasst ihn das Gefühl des Ekels angesichts dieser unkontrollierbaren Natur, die ihn umgibt (S. 52f.). Der Umstand, dass sie Joachim erhängt auf der Plantage vorfinden, ist ein weiteres Indiz dafür, dass sein innerer Zustand sich zusehends verschlechtert.

Wieder zurück in der zivilisierten Welt New Yorks trifft Faber die Entscheidung, nicht mit dem Flieger, sondern mit dem Schiff nach Europa zu reisen. Es lässt sich annehmen, dass diese spontane Wahl des Verkehrsmittels auch darauf basiert, dass sein Glaube an die Technik mit dem erlebten Flugzeugabsturz eingebrochen ist. Seine Geliebte Ivy unterstellt ihm deshalb sogar eine Flugangst, die Faber hier gerne als Grund annimmt, um endlich seine Ruhe vor ihr zu haben. Er selbst streitet diese Angst ab. 

Mit Sabeth, die er auf dem Schiff kennenlernt, noch nicht wissend, dass sie seine Tochter ist, reist er anschließend durch Frankreich, Italien und Griechenland. Frisch hat Griechenland bewusst als die letzte Station ihrer gemeinsamen Reise gewählt, denn es ist die Heimat des antiken Mythos. Im Licht des Südens, in dem das Orakel von Delphi die Menschen zur Selbsterkenntnis führt, werden Faber nun die Augen geöffnet.

Hier geschieht das zentrale Ereignis, durch das der endgültige innere Wandel Fabers herbeigeführt wird: der Unfall Sabeths, der mit ihrem Tod endet. Bei dem Versuch ihrer Rettung muss Faber sich mit einem Lastwagen und Eselskarren fortbewegen, deren Langsamkeit ihm zu schaffen macht. Dies symbolisiert zum Ende hin, dass Faber im Laufe seiner Reisen immer mehr Bodenhaftung bekommen hat, sodass auch in seinem Inneren eine Entschleunigung eingetreten ist. 

Faber nimmt nach Sabeths Tod seine Arbeit und das Reisen wieder auf. Auffällig ist, dass er sich dabei noch einmal auf seinen alten Wegen bewegt, was dem Autor dazu dient, den inneren Bewusstwerdungsprozess und das damit in Zusammenhang stehende veränderte Verhalten seines Hauptprotagonisten zu verdeutlichen – ein in der Literaturgeschichte weit verbreitetes, weit zurückreichendes und unter dem Begriff des Doppelweges oder doppelten Kursus rubriziertes strukturelles Motiv. Faber verabschiedet sich von seinem alten Leben und ist bereit, ein neues zu beginnen. In New York nimmt Faber wahr, dass er auf der Party mit seinen Kolleginnen und Kollegen nichts mehr zu suchen hat. Er empfindet sie als oberflächlich, weil die Menschen sich nichts mehr zu sagen haben. Beim nochmaligen Besuch im Dschungel wird ihm bewusst, dass Freundschaft nun zu einem wichtigen Bestandteil in seinem Leben geworden ist. In den Straßen Kubas spürt er wieder  Lebenslust und geht in den sozialen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung. In Düsseldorf wird ihm bei der Filmvorführung bewusst, dass das Leben nicht rückholbar ist, sondern einzigartig. In sein altes Leben passt Faber nun nicht mehr hinein, er hat es längst abgestreift und beschlossen, sein neues Leben in Athen zu beginnen, wo er schließlich in seinen letzten Tagen den Frieden mit sich selbst findet.

Das Motiv der Blindheit

Dem Motiv der Blindheit kommt im Roman eine zentrale Bedeu­tung zu. Schon bei seinem ersten Flug, zu Beginn der Geschichte, fühlt Faber sich wie ein Blinder, denn durch das Schneegestöber kann er Manhattan nicht mehr sehen (S. 7). Dies kann als eine Vorausdeutung verstanden werden, dass Faber ständig der Kritik ausgesetzt ist, er sei blind, sogar »stockblind« (S. 144), wie Hanna ihm einmal vorwirft. Er selbst setzt jedoch dagegen, dass er nicht blind sei, sondern als Techniker die Dinge sehe, wie sie sind. Das heißt, er hat für alle Phänomene eine technisch-rationale Begründung bereitliegen (S. 24).

Die Menschen um ihn herum scheinen in der Tat »anders« zu sehen als er: Herbert empfindet die Betrachtung der Wüstenlandschaft als ein »Erlebnis« (S. 24), und Sabeth verliert sich vor Freude in der Betrachtung von Kunstwerken (S. 111). Der Hauptprotagonist wundert sich über dieses innere Erleben, da er weder beim Anblick der Natur noch der Kunst innerlich berührt wird.

Sabeth stützt sich auf einen Ausspruch ihrer Mutter: »jeder Mensch könne ein Kunstwerk erleben, bloß der Bildungsspießer nicht.« (S. 110) Und immerhin nähert sich Faber der Kunstbetrachtung etwas an, wenn er eine Flötenbläserin bei einer »Geburt der Venus« entzückend findet und noch in seinem Bericht den »Kopf einer schlafenden Erinnye« als »meine Entdeckung« bezeichnet, die einen tiefen Eindruck auf ihn macht. Anstatt sich um die exakte Bestimmung des Kunstwerks nach Herkunft und Epoche zu bemühen, fragt er nach dem Inhalt der Träume der schlafenden Frau, versetzt sich also, seinen sachlichen Standpunkt verlassend, in die künstlerische Fiktion. Als Sabeth ihn auf einen von ihm unwillentlich hervorgebrachten Beleuchtungseffekt aufmerksam macht, der die Figur noch lebendiger erscheinen lässt, und den sie sich nun im Wechsel vorführen, fällt er, anstatt seinen eigenen Beobachtungen Ausdruck zu verleihen, in seine alte Rolle des Rationalisten zurück: Der Schatten mache etwas aus, in der Tat, was ihn aber nicht verwundere; »eine Belichtungssache« (S. 111).

Im Verlauf der Geschichte wird immer deutlicher, dass von zwei unterschiedlichen Arten des Sehens die Rede ist: Faber schaut mit einem technisch-rationalistischen Blick auf die Welt, während Sabeth, Hanna und auch Marcel die Dinge aus einem künstlerisch-ästhetischen Blickwinkel betrachten. Durch seinen rein »technischen Blick« versperrt Faber sich den Zugang zum unmittelbaren Erleben. Bezeichnend ist, dass Faber mit seiner Kamera ständig Filmaufnahmen macht, denn mit diesem technischen Gerät hält er die Welt auf Abstand und behindert sich selbst dabei, den Augenblick in seiner Unmittelbarkeit zu erleben.

Um das unterschiedliche Sehen nochmals zu verdeutlichen, stellt der Autor seinem Protagonisten die Figur Armin gegenüber, die tatsächlich blind ist. Es handelt sich um einen Freund Hannas aus ihrer Vergangenheit, den sie als junges Mädchen sehr bewundert hat. Denn obwohl Armin blind ist, besitzt er eine magische Vorstellungskraft, so als sehe er alles (S. 184). Dieser Mann verfügt sozusagen über einen »magischen Blick«, der aus seinem Inneren kommt. Wenn also in der Geschichte von Fabers Blindheit die Rede ist, wird zum einen auf das Fehlen dieses Blickes angespielt.

Zum anderen lässt das Motiv der Blindheit jedoch noch eine zweite Deutung zu, denn Frisch stellt in Verbindung mit dem Inzest den Bezug zur griechischen Sage des Königs Ödipus her. Ödipus war ebenfalls wie Faber sehend blind, da er, unwissend über die tatsächlichen Verwandtschafts­verhältnisse, seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete. Als ihm das Ausmaß seiner Tat klar wurde, stach er sich die Augen aus. Faber wird sich am Ende des Romans ebenso über seine Schuld bewusst. Die Filmszenen, die er von Sabeth gedreht hat, muss er sich nun aufgrund der Verwechslung der Filmspulen nochmals unfreiwillig ansehen. Dadurch werden ihm unwiderruflich die Augen darüber geöffnet, dass er sich in eine schwere Schuld verstrickt hat. Da er jetzt nichts mehr zu sehen hat, wünscht er sich sehnlichst, seine Augen loszuwerden (S. 192). 

Schuld und Verantwortung

Fabers Schreibmotivation beruht auf der zentralen Frage, die er sich selbst stellt: »Was ist denn meine Schuld?« (S. 123) Mit der Anfertigung eines Berichts versucht er vor allem eine Erklärung für sein Verhalten zu finden und sich auf eine Weise zu rechtfertigen, die ihm die  Befreiung von dem Gedanken einer Schuld am Tod seiner Tochter erlaubt. So befindet er sich am Anfang des Romans permanent in einer Verteidigungshaltung, die dazu dient, sein altes Ich zu schützen. Erst an zweiter Stelle schreibt er auch für Hanna, die Mutter seiner Tochter. Es liegt ihm daran, ihr gegenüber sein Gewissen zu erleichtern, indem er ihr eine plausible Erklärung liefert, wie es zum Inzest und schließlich zum Tod der gemeinsamen Tochter kommen konnte.

Doch schon bald ahnt er, dass die Wurzeln seiner Schuld weiter zurückliegen als gedacht, nämlich in der damaligen Beziehung zu Hanna. Die Begegnungen mit Herbert, Sabeth und Hanna führen den fast 50-jährigen Faber weit in seine Vergangenheit zurück, die er gedanklich nun nochmals aufrollt und zur Gegenwart in Beziehung setzt. Da er aber blind gegen sich selbst ist, ist er es auch gegenüber den Zusammenhängen, die daraus entstehen. Faber verharrt in seinem starren Bild von sich selbst, sodass er nicht in der Lage ist, die Zeichen zu deuten, die unweigerlich zur Katastrophe führen.   

Als Hanna ihm damals ihre Schwangerschaft verkündet, setzt er in den Gesprächen, die sie führen, eindeutige Signale, dass er nicht bereit ist, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Er empfindet keine Vaterfreude und zieht es vor, nach Bagdad zu gehen, um seine Karriere weiter zu verfolgen. Es ist jedoch eine entscheidende falsche Formulierung vonseiten Fabers, die Hanna letztendlich dazu veranlasst, sich von ihm zu trennen. Er sagt »dein Kind« anstatt »unser Kind« (S. 47f.).

Faber hat sich damals seiner Vaterrolle entzogen und damit gewissenlos gehandelt. Sie gehen auseinander und vereinbaren einen Schwangerschaftsabbruch, Hanna hält sich jedoch nicht an die Abmachung. So wird sie alleinerziehende Mutter und entwickelt einen Absolutheitsanspruch auf ihr Kind, womit sie sich letztendlich auch schuldig macht. Gefangen in ihrer Mutterrolle, verschweigt sie Faber seine Tochter und enthält Sabeth ihren Vater. Auch sie handelt also unverantwortlich und trägt letztendlich eine Mitschuld daran, dass es zwischen Vater und Tochter zum Inzest kommt.

Faber verkennt von Anfang an alle Zeichen, die darauf hindeuten könnten, dass Sabeth seine Tochter sein könnte. In seinem Unterbewusstsein scheint Faber schon auf der Schiffsreise zu ahnen, dass es so ist, er verdrängt diesen Gedanken jedoch immer wieder (S. 78). Zu seiner Sicherheit stellt er sogar eine genaue Berechnung auf, die ihm beweist, dass sie nur Joachims Tochter sein kann, aber frei nach dem Motto: »Was nicht passt, wird passend gemacht« (S. 121). So gesteht er sich den Inzest viel zu spät ein und macht sich ein weiteres Mal schuldig. Zudem verschweigt er den Ärzten zu guter Letzt den Sturz Sabeths; letztendlich ist dies der Grund ihres Todes.

Zum Schluss des Romans, als Faber schon kurz vor seiner Operation steht, lenkt der Autor die Aufmerksamkeit seiner Leserschaft nochmals auf die Wurzeln des Konflikts und die Frage nach der Schuld. In den letzten Gesprächen zwischen Faber und Hanna wird deutlich, dass Hanna sich ihrer Schuld bewusst geworden ist, denn sie bittet ihn weinend um Verzeihung. Faber kann sie jedoch nicht verstehen und begreift immer noch nicht, warum seine Formulierung »dein Kind, statt unser Kind« der eigentliche Auslöser gewesen sein soll, der zur Katastrophe führte (S. 202).    

Veröffentlicht am 18. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. Juli 2023.