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Der Schimmelreiter

Binnenhandlung – 4. Teil: Aufstieg zum Deichgraf – Das Projekt des neuen Deiches (S. 57-73)

Zusammenfassung

Nach dem Tod des Vaters bewirtschaftet Hauke dessen Erbe als Kleinbauer, doch in seinem Herzen wächst die Überzeugung, dass nur er der richtige Mann sei, um der nächste Deichgraf zu werden, ja, dass er als Einziger dazu berufen sei. Da er sich bereits durch seine Mitarbeit in der Verwaltung des alten Deichgrafen im Dorf keine Freunde gemacht hatte und sein Ansehen nun durch den Einfluss seines Widersachers Ole Peters noch weiter sinkt, sieht er sich zunehmend von Neid und Missgunst seiner Mitmenschen umgeben. Er nimmt an, dass sie seinen Aufstieg zum Deichgrafen verhindern wollten und ihm negativ gesinnt seien. Sein Verhältnis zur Dorfgemeinschaft ist daher von »Ehrsucht und [...] Haß« (57) geprägt.

Auf einer Hochzeit, auf der Hauke und Elke beide eingeladen sind, verloben sie sich heimlich. Elke bittet Hauke jedoch, auf sie zu warten, da eine Hochzeit nicht möglich sei, solange ihr Vater, der Deichgraf, noch lebe.

Bald nach der heimlichen Verlobung, nach Ostern desselben Jahres, stirbt der alte Deichgraf tatsächlich und wird mit einer großen Begräbnisfeier und allen Ehren von der Dorfgemeinschaft verabschiedet. Elke richtet einen großen Leichenschmaus aus, in dessen Rahmen auch über die Nachfolge des Deichgrafen gesprochen wird. Der Pastor und der alte Deichbevollmächtige Jewe Manners sprechen sich gegenüber dem Oberdeichgrafen für Hauke Haien aus, da dieser es gewesen sei, der bereits die letzten Jahre über die eigentlichen Amtsgeschäfte des Deichgrafen geführt habe, auch wenn er mit gerade 24 Jahren noch sehr jung für dieses Amt sei. Alle guten Vorschläge und Verbesserungen seien von ihm gekommen. Als jedoch der Einwand aufkommt, dass Hauke dafür zu wenig eigenen Grundbesitz habe, schaltet sich Elke in das Gespräch ein und offenbart, dass sie mit Hauke bereits heimlich verlobt sei und vorhabe, ihrem zukünftigen Mann noch vor der Hochzeit ihre Güter zu übertragen. Damit wendet sie die Entscheidung zu Haukes Gunsten und er wird zum nächsten Deichgrafen berufen.

Mehrere Jahre später setzt die Erzählung des Schulmeisters nach einem Zeitsprung wieder ein. Elke und Hauke leben ein ruhiges, von sehr viel Arbeit erfülltes, aber glückliches Leben, in dem sie sich nur selten sehen. Währenddessen werden die Besitzer der Marsch- und Geestgemeinde immer aufgebrachter gegen den neuen Deichgrafen, der nun alle Versäumnisse seines Vorgängers aufholen möchte und ihnen dadurch hohen Aufwand und hohe Kosten durch immer neue Deichreparaturen aufnötigt. Bei einer ihrer Versammlungen in der Dorfwirtschaft bringt Ole Peters dabei das Wort vom neuen Deichgraf in Umlauf, der nur durch seine Frau zum Deichgraf geworden sei, nicht wie seine Vorgänger durch ein Erbe. Da dieses Gerücht auch Hauke erreicht, werden die Abneigung und die Wut gegen die Dorfgemeinschaft in ihm immer größer. Er lässt sich auch von den beruhigenden Worten seiner Frau Elke davon nicht abbringen, die ihm aufzeigt, dass nur der Deichgraf werde, der dieses Amt auch ausfüllen könne.

In dieser Situation zunehmender Anfeindung und Isolation entscheidet sich Hauke nach siebenjähriger Amtszeit, endlich das Deichbauprojekt in Angriff zu nehmen, das er schon seit seiner Jugend vor Augen hatte. Er möchte einen neuen Deich bauen, neu auch in der Bauweise; nicht so steil wie die traditionellen alten Deiche, sondern mit einem flacheren Profil. Dadurch ergebe sich auch ein Koog von neuem fruchtbaren Weideland, von tausend Demat, für die Gemeinde. Allerdings wird sich Hauke auch gleichzeitig bewusst, dass er selbst bereits einen ansehnlichen Anteil an dem neu zu gewinnenden Land besitzt, sowohl aus seinem und Elkes Erbe, als auch aus noch hinzugekauften Anteilen, beispielsweise von seinem Widersacher Ole Peters.

Seine Frau Elke erkennt sofort, dass sich Haukes soziale Situation im Dorf durch diese großen Pläne noch verschärfen wird, da sich ein großer Teil der Menschen gegen ihn stellen und ihm niemand für seine große Mühe, die das Projekt kosten wird, danken wird. Sie warnt ihn davor und erzählt ihm auch die Legende, nach der in einen Deich, der an dieser schwierigen Stelle halten solle, »was Lebigs« (70) hineingeworfen werden müsse. So sei in einen Deich auf der anderen Seite vor hundert Jahren ein Kind eingebaut worden (vgl. ebd.). Auch Elke gegenüber betont Hauke, dass er mit diesem Projekt, trotz der hohen Kosten und aller auf ihn zukommenden Schwierigkeiten, vor allem allen anderen beweisen wolle, dass er mit Recht Deichgraf geworden sei.

Die Arbeitsbelastung Haukes zur Vorbereitung des Antrages für den neuen Deichbau und die Eindeichung des Vorlandes wächst nun noch mehr an, so dass er auch für Elke kaum noch Zeit hat und sich von allen anderen Menschen mehr und mehr isoliert. Schließlich ist der Antrag fertig und wird per Bote in die Stadt zum Oberdeichgrafen geschickt.

In der vierten Unterbrechung seiner Erzählung weist der alte Schulmeister darauf hin, dass er das bisher Erzählte aus den mündlichen Überlieferungen »verständiger Leute« (73) übernommen habe. Das nun Kommende aber sei eher Aberglaube und »Geschwätz des ganzen Marschdorfes« (73), das vor allem in den Spinnstuben und den dunklen langen Winternächtet verbreitet werde.

Analyse

Nach dem Tod des Vaters, als Hauke seinen eigenen Betrieb führt, nehmen in ihm auch die problematischen Charakterzüge zu; die Überzeugung, vor allen herausgehoben und als einziger zum Amt des Deichgrafen bestimmt zu sein (vgl. 57) und in Verbindung damit nicht nur ein Überlegenheitsgefühl allen anderen Gegenüber, sondern auch »Ehrsucht und [...] Haß« (ebd.). Er ist seinen Mitmenschen, unter denen er auch aufgrund seines eigenen Verhaltens und seiner herausgehobenen Stellung beim Deichgrafen, keine Freunde und kaum Vertraute hat, misstrauisch und feindlich gesinnt: »Da faßte ihn ein Groll gegen diese Menschen, [...] denn sie wollten ihn vom Amte drängen, zu dem von Allen nur er berufen war« (ebd.).

Die Verlobung mit Elke und die Verbindung mit ihr, die kurz nach dem Tod des alten Deichgrafen von Elke offiziell bekannt gemacht wird, bietet ihm die Möglichkeit, aus seiner selbstgewählten Isolation und seiner menschenfeindlichen Außenseiterposition auszubrechen. Sie ist es, die sich vor dem Oberdeichgraf und den Deich-Gevollmächtigten auf der Trauerfeier für ihren Vater zu ihm bekennt und ihm durch die Überschreibung ihres Besitzes noch vor der Hochzeit den Weg ins Deichgrafenamt erst ermöglicht. Denn trotzdem Hauke durch das Erbe seines Vaters nun einen größeren Besitz als früher hat, ist es noch immer viel zu wenig, als dass er damit zum Deichgrafen ernannt werden könnte, obwohl seine Kenntnisse, Qualifikationen und Verdienste von allen im Dorf anerkannt werden: »Was in den letzten Jahren Gutes für Deiche und Siele und dergleichen vom Deichgrafenamt in Vorschlag kam, das war von ihm« (63).

Elke ist klug, voraussehend und selbstbewusst genug, für Hauke einzutreten und, durch seinen Aufstieg zum Deichgrafen mit nur 24 Jahren, auch sich selbst die Möglichkeit zu eröffnen, den reichsten Mann im Dorf zu heiraten (vgl. 64). Dieser neue, mit den bisherigen Traditionen des ererbten Titels brechende soziale Aufstieg eines Kleinbauern zum Deichgraf ist jedoch von Beginn an eine schwere Hypothek für Hauke, da es seine Anerkennung in der Dorfgemeinschaft sehr erschwert und mit den später durch Ole Peters verbreiteten Verleumdungen ganz unmöglich macht.

Der Zeitpunkt der bald nach der Trauerfeier erfolgenden Ernennung zum Deichgrafen und die Hochzeit mit Elke sind jedoch zunächst einmal die Höhepunkte im Leben Haukes, sowohl beruflicher, als auch privater Art, mit denen sich ihm die Chance eröffnet, »aus der Isolierung herauszutreten und ein anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Die Verbindung mit Elke verstärkt diese Möglichkeit, denn sie verfügt über die Kraft, ihm dabei behilflich zu sein, seine verhärtete Haltung zu überwinden. Ihre Fürsorge könnte sein Leben verändern« (Hildebrandt, S. 56).

Diese Phase währt jedoch nur ein paar Jahre, in denen sich Hauke um alles Liegengebliebene und um das Gemeinwohl kümmert. Sie wird unterbrochen von der Verleumdung Ole Peters, die Haukes Qualifikation und Eignung für das Deichgrafenamt in Frage stellt und seine Karriere nur auf das Erbe seiner Frau zurückführt. »›Der alte wurde Deichgraf von seines Vaters, der neue von seines Weibes wegen‹« (66). Der dadurch in Hauke wieder aufgerufene Haß und Groll gegen seine unwissenden, undankbaren und von ihm verachteten Mitmenschen ist es schließlich, der ihn zurück zum Traum seiner Kindheit führt, zu seinem Lebensprojekt, der Konstruktion eines neuartigen, beständigen Deiches mit abgeflachtem Profil.

Von Anfang an ist dieses Projekt mit sehr viel mehr Absichten und Emotionen verbunden, als nur der des Gemeinwohls; die Dorfbewohner vor neuen Sturmfluten auf lange Zeit hinaus zu schützen. Der Auslöser ist seine Absicht, sein Können und seine Qualifikation als Deichgraf allen zu beweisen und damit die Gerüchte um ihn zu entkräften: »›Sieben Jahre im Amt; sie sollen nicht mehr sagen, daß ich nur Deichgraf bin von meines Weibes wegen!‹« (68) Und auch der eigene finanzielle Nutzen des Projektes steht Hauke von Beginn an vor Augen; denn er selbst besitzt, sowohl durch Erbe als auch durch die von Ole Peters gekauften Anteile, bereits einen großen Teil des Weidelandes, dass man durch die Eindeichung dem Meer abringen würde (vgl. 68/69).

Elke sieht sofort die damit einhergehenden Probleme mit der Dorfgemeinschaft und auch die existenzielle Gefahr, in die Hauke sich damit bringt. Sie warnt Hauke vor seinem unüberlegten Handeln: »›Das ist ein Werk auf Tod und Leben; und fast Alle werden dir entgegen sein, man wird dir deine Müh und Sorg nicht danken!‹« (70) Auch die Geschichte vom Deichopfer, die sie Hauke erzählt, ist eine Warnung, deren Sprengkraft sich später noch erweisen wird, als Hauke das tatsächlich wieder geplante Deichopfer an seinem Deich verhindert und damit den letzten Rest an Achtung und Verständnis seiner Mitmenschen verliert. »Storm läßt keinen Zweifel daran zu, daß man die Deichbaupläne vor allem als eine Folge egoistischen Strebens anzusehen hat, ganz am Rande nur als Tat für die Gemeinschaft, für die er als Deichgraf zu arbeiten hat« (Hildebrandt, S. 59).

Die vierte Unterbrechung in der Geschichte des Schulmeisters erfolgt vor einer entscheidenden Wendung in der Lebensgeschichte Hauke Haiens; die Deichbaupläne sind eingereicht, der erste große Schritt zur Realisierung des Lebenswerks von Hauke ist getan. Es schließt sich die Episode um die Ereignisse auf Jevershallig und den Kauf des Schimmels an, womit eine entscheidende Veränderung sowohl in der Geschichte als auch im Leben Haukes einhergeht; die Elemente des Phantastischen und Unheimlichen treten nun offen in der Geschichte hervor. Daher ist der Schulmeister in seinen Bemerkungen, mit denen er die Geschichte unterbricht, darum bemüht, das irrationale Element in der Geschichte, die nun folgt, zu relativieren und es in den Bereich des »Geschwätz[es]« und der vor allem weiblich konnotierten mündlichen Erzähltradition zu verweisen (»sobald nur um Allerheiligen die Spinnräder an zu schnurren fangen« (73)). Er distanziert sich von all der damit verbundenen Phantastik und dem Aberglauben, der dahinter steht, denn er hat sich bemüht, für den ersten, mehr auf Fakten basierenden Teil der Erzählung die »Überlieferungen verständiger Leute« zu sammeln und warnt den Reisenden, das nun Folgende mit Vorsicht aufzunehmen. Unübersehbar stoßen hier also zwei verschiedene »Wirklichkeitsprinzipien« (Deupmann, S. 111) aufeinander. So stellt sich hier deutlich auch der »Konflikt zwischen Schriftlichkeit [...] und Mündlichkeit [...] wieder ein, ein Konflikt der unverkennbar auch eine Geschlechterkomponente hat« (ebd.).

Veröffentlicht am 4. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 4. Januar 2024.