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Der Schimmelreiter

Binnenhandlung – 6. Teil: Sturmflut und Tod (S. 121-134)

Zusammenfassung

Im Herbst liegt die fast neunzigjährige Trin`Jans im Hause des Deichgrafen im Sterben. In ihren letzten Stunden kann sie noch einmal aus ihrem Bett aus dem Fenster auf das Meer und in Richtung der Jevershallig blicken, wo ihr Sohn einst ertrunken ist. In einer letzten Vision sieht die Sterbende eine Sturmflut nahen und fleht Gott um Gnade für die Menschen an (vgl. 122). Wienke beobachtet ihr Sterben mit Grauen und auch Hauke erschrickt über ihre Warnung und fragt sich, ob denn die Sterbenden Propheten seien (vgl. ebd.).
Bald nach ihrem Tod kommt es tatsächlich zu allerhand seltsamen Vorfällen, die die Menschen als Anzeichen drohenden Unheils für Nordfriesland deuten. So fällt im Hochsommer »groß Geschmeiß« (123) wie Schnee vom Himmel, der goldene Wetterhahn wird von einem Wirbelwind von der Turmspitze geweht, rotköpfige Raupenwürmer fallen über das Land her und auch Blut sei wie Regen vom Himmel gefallen (vgl. 123), so erzählen es sich die abergläubischen Menschen und sie bringen das sich ankündigende Unheil auch in Verbindung mit dem Schimmel des Deichgrafen. Hauke und seine Frau lehnen all dieses abergläubische Geschwätz ab.

Kurz vor Allerheiligen zieht ein starkes Unwetter auf, Hauke macht sich bereit, sowohl sein Haus zu sichern, als auch alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen am Deich zu ergreifen. Er stellt Deichwachen auf und verstärkt schwache Stellen am Deich mit Pfählen und Säcken. Schließlich springt der Wind um auf Nordwest, was die Gefährlichkeit der Sturmflut noch erhöht, da nun gewaltige Wassermassen in die Nordsee und gegen die Deiche gedrückt werden. Hauke reitet mit seinem Schimmel, der sich wie wild gebärdet, in den Sturm, um die Situation an den Deichen persönlich zu überprüfen und auch zu sehen, ob sein neuer Deich, wie von ihm vorgesagt, allen Sturmfluten trotzen kann. Auf dem Weg zum Deich gerät die Möwe Claus, der Spielgefährte seiner Tochter, unter die Hufe des dahinjagenden Schimmels und wird zertreten. Währenddessen bringen sich die Menschen aus dem Marschdorf mit ihrem Vieh und ihrem Hab und Gut in Sicherheit und flüchten in Richtung des höher gelegenen Geestdorfes. Hauke beruhigt sich in Gedanken an seine Familie damit, dass sie sicher in ihrem Haus auf der Werft sei, bis wohin das Wasser noch nie gestiegen sei.
Es deutet sich eine riesige Sturmflut an, wie sie noch nie gesehen wurde, Hauke sieht nur noch »Berge von Wasser« von seinem Schimmel und hört das Meer als »Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der Wildnis« (129). Als er seinen neuen Deich sieht, spürt er Stolz darüber, dass dieser der Sturmflut standhält, bis er mit einem Mal erkennt, dass die Arbeiter, die er zur Bewachung des alten Deichs abgestellt hat, dabei sind den neuen Deich zu durchstechen. Damit würde der neu dem Meer abgerungene Hauke-Haienkoog, wie Hauke es bereits bei der Besichtigung der Deichschäden gefürchtet hatte, geflutet, der alte Deich dadurch aber entlastet. Den Befehl dazu hat Ole Peters unabgesprochen gegeben. Hauke befiehlt mit rasender Wut den Arbeitern, sofort damit aufzuhören und zurück an ihre Plätze zu gehen. Noch während dieser Auseinandersetzung kommt der Ruf, dass der alte Deich tatsächlich gebrochen sei. Die Arbeiter geben Hauke dafür die Schuld und er erkennt, dass sein Eingreifen tatsächlich die letzte Chance, den alten Deich noch zu retten, verhindert hat. Auch wird ihm nun mit aller Macht die Schuld bewusst, die er durch sein Zögern und Einlenken im Sommer auf sich geladen hat, als er nicht darauf bestanden hat, die von ihm als dringend notwendig erkannten Deichreparaturen auch durchzuführen. »Herr Gott, ja ich bekenn es [...], ich habe meines Amtes schlecht gewaltet!« (132) ruft Hauke in diesem Moment aus.

Der alte Deich bricht nun Stück für Stück auseinander und stürzt ins Meer, das Wasser flutet den alten Koog und damit auch das Dorf und die Marsch. Gerade als er erneut Stolz über den in all dem Inferno haltenden neuen »Hauke-Haiendeich« (ebd.) empfindet und den beruhigenden Anblick des auf seinem Hof noch immer leuchtenden Lichtes sieht, erkennt er seine Frau und sein Kind, die in einem Wagen mitten im Sturm ihm entgegenfahren und vor seinen Augen in den reißenden Fluten versinken. Verzweifelt darüber, alles verloren zu haben, stürzt sich Hauke Haien mitsamt seinem Schimmel seiner Familie hinterher in die Flut und ruft Gott an, sein Opfer anzunehmen und dafür die »Andern« (ebd.) zu verschonen. Mit dem Tod Hauke Haiens und seiner Familie in der Sturmflut von 1756 endet die Binnenhandlung.

Analyse

In der Todesszene von Trien’ Jans zeigt sich in ihrer Vision der herannahenden Sturmflut noch einmal die Kraft des magisch-religiösen Weltbildes, für das sie steht. Hauke, der dies immer als überkommenen Aberglauben abgelehnt hat, erschrickt darüber. Nach seiner Krankheit und seinen Gewissensbissen über den wider besseren Wissens nur notdürftig geflickten alten Deich hat er etwas von seiner alten, auf Rationalität und technischer Überlegenheit basierenden Stärke verloren. So bezeichnet er die verstorbene Trien’ zwar abwertend als »alte Hexe« (122), kommt aber über ihre Warnung und das Anrufen von Gottes Gnade für die Menschen ins Zweifeln: »›Sind denn die Sterbenden Propheten?‹« (ebd.).

Auch das Motiv der Spiegelung, Blendung und Täuschung wiederholt sich in der Sterbeszene, denn auf einmal kann Trien’ Jans von ihrem Bett aus auch die Hallig Jeverssand sehen: »Die Spiegelung hob in diesem Augenblick das Meer wie einen flimmernden Silberstreifen über den Rand des Deiches» (121). Am Tag ihres Einzugs in die Kammer hatte sie sich noch beschwert, da sie die Insel, »›wo mein Jung mir derzeit ist zu Gott gegangen‹« (106) nicht sehen könne.

Nach dem Tod von Trien’ treten Gerüchte »von allerlei Unheil und seltsamem Geschmeiß« (122) auf, die in direktem Zusammenhang mit dem von der alten Frau vorhergesehenen Unglück zu stehen scheinen. Zwar tun Hauke und Elke all das Gerede von Blut, das wie Regen vom Himel fällt, rotköpfigen Raupenwürmern und dem goldenen Wetterhahn, der von der Turmspitze fällt (122/123) wieder als das »abergläubige Geschwätz« (124) ab, doch zieht das Dienstpersonal auch einen direkten Bezug zu Hauke: »›mit des Deichgrafs Schimmel ist’s am Ende auch nicht richtig!‹« (123)

Genau vor Allerheiligen, das den ganzen Text über mit dem Beginn der großen Stürme und Fluten in Verbindung gebracht wird, kündigt sich nun tatsächlich der große Sturm an: »›Allerheiligen‹ kommt innerhalb des Textes die Bedeutung eines Zeit-Zeichens zu, das auf die gefährlichen Nordweststürme, aber auch die Berührung zweier Bereiche, dem Wirklichen und dem Unwirklichen, verweist« (Ehlers, S. 91). Als der Wind auf Nordwest umspringt und damit weit gefährlicher wird, da nun die Wassermassen von zwei Seiten, sowohl durch den Kanal als auch zwischen Schottland und Norwegen in die Nordsee gedrückt werden (vgl. Ehlers, S. 22), zeigt sich bei Hauke noch einmal die alte Abenteuerlust an Sturmnächten, die ihm in seiner Jugend »die beste Unterhaltung« (18) waren. Auch jetzt leuchten seine grauen Augen (vgl. 125), er sieht die nahende Katastrophe noch als Herausforderung, als Kampf mit den Elementen, in dem er sich beweisen kann: »›Das ist unser Kampf!‹« (126) Im Abschied von Elke zeigen sich aber schon die Anzeichen davon, dass es der letzte Abschied sein wird: »Sie erhob langsam ihre dunklen Augen zu ihm, und ein paar Sekunden lang sahen sie sich an; doch war’s wie eine Ewigkeit« (ebd.). Auch der Schimmel, der sich wie rasend gebärdet und sein Wiehern deuten darauf hin, das »wie Trompetenschall« (ebd.) und wie ein Anklang an das letzte Gericht klingt. Auch nach dem Abschied von Eke und Hauke, als Elke ein Stoßgebet zum Himmel richtet und um Schutz für ihren Mann bittet, zeigt sich die Endzeitstimmung: »Und der Sturm setzte nicht mehr aus; es tönte und donnerte, als solle die ganze Welt in ungeheurem Hall und Schall zu Grunde gehen« (127). Mit all diesen Hinweisen mehren sich im Text die Zeichen für die baldige Katastrophe.

Dazu kommt die alte symbolträchtige Esche, mit der viele wichtige Begebenheiten der Familie des Deichgrafen in Verbindung standen und die nun im Wind knarrt, »als ob sie auseinanderstürzen solle« (126). Auch der letzte Abschied von Hauke und Elke findet unter der Esche statt; Elke scheint bereits zu spüren, dass sie einander nicht mehr wiedersehen und dass diese Sturmnacht auch sein Ende bedeuten wird. Sie personifiziert den Sturm, das Meer, die außer Kontrolle geratenen Kräfte der Natur mit einem Ungeheuer, das ihr den Mann nehmen will: »[Elke] lehnte am Stamme der Esche, deren Zweige über ihr die Luft peitschten, und starrte wie abwesend in die Nacht hinaus [...]; ihr war jetzt, als suche Alles nur ihn zu verderben, und werd jäh verstummen, wenn es ihn gefaßt habe» (127).

Mit dem Tod der Möwe, die von den Hufen des Schimmels zertrampelt wird, stirbt ein weiteres der weißen, Haukes Leben begleitenden Tiere durch seine Schuld. Sie geht dem Schimmel voraus, der schließlich durch Hauke in die Tiefe gerissen wird.

Die Beschreibung der hereinbrechenden Sturmflut ist von ungeheuer plastischer Eindringlichkeit, in der rhythmischen Kraft des Satzbaus und der poetischen Wortwahl der in langen Satzreihen aneinandergefügten Parataxen drängt der Text spannungsgeladen auf sein katastrophales Ende zu.

Das Meer und die wie entfesselt losschlagende Natur werden einmal mehr als eine dämonische, wilde und vom Menschen nicht mehr zu bändigende, zerstörerische Macht gezeichnet und personifiziert:

    Eine furchtbare Böe kam brüllend vom Meer herüber [...] nur Berge von Wasser sah er vor sich, die dräuend gegen den nächtlichen Himmel stiegen, die in der furchtbaren Dämmerung sich über einander zu türmen suchten und über einander gegen das feste Land schlugen. Mit weißen Kronen kamen sie daher, heulend, als sei in ihnen der Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der Wildnis. (128/129)

Die Farbe Weiß wird in der Novelle an mehreren Stellen und auch hier mit dem Tod assoziiert; auch Hauke ist von Todesahnungen erfüllt: »als sei hier alle Menschenmacht zu Ende; als müsse jetzt die Nacht, der Tod, das Nichts hereinbrechen« (129). Hier wird sich Hauke der Begrenzung der menschlichen Macht gegenüber der Natur bewusst, die er doch Zeit seines Lebens mit der Macht der Technik und des rationalen Geistes versucht hat, zu beherrschen und der er sich überlegen gefühlt hat. Dennoch regt sich in ihm noch einmal die Hybris und der Stolz auf sein Werk, den neuen Deich, der seinen Ruhm für die Nachwelt noch nach hundert Jahren erhalten wird: »der Hauke-Haiendeich, wie ihn die Leute nannten, der mochte jetzt beweisen, wie man Deiche bauen müsse!« (ebd.) Kurz vor dem Ende und dem Eingeständnis seines Scheiterns und seiner Schuld zeigt er noch einmal sein Überlegenheitsgefühl der Menschheit und der Natur gegenüber.

Mit dem Verbot, das er den Arbeitern erteilt, seinen neuen Deich zu durchstechen, um, wie von Ole Peters angeordnet, den alten Deich zu retten, lädt er die zweite und endgültig in die Katastrophe führende Schuld auf sich. Denn kurz danach bricht der alte Deich, wie von ihm schon vorhergesehen, als er Monate zuvor das Ausmaß der Beschädigung erkannt hatte. Auch bricht der Deich genau an der Stelle, wo der neue auf den alten Deich trifft, wo Hauke den gefährlichen Priel erkannt und sich dann mit einer augenscheinlichen Täuschung zufrieden gegeben und wo er das Deichopfer verhindert hat. Wie es die abergläubischen Arbeiter gefürchtet haben, holt sich die Natur hier nun das zurück, was Hauke ihr verweigert hatte: »eine Sündflut war’s, um Tier und Menschen zu verschlingen« (133).
Nicht nur die Arbeiter werfen Hauke sogleich seine Schuld am Deichbruch vor (vgl. 131), auch Hauke erkennt sie in diesem Moment:

    Es schoß ihm heiß zu Herzen, er wußte es nur zu gut [...]. Er allein hatte die Schwäche des alten Deichs erkannt; er hätte trotz alledem das neue Werk betreiben müssen: ›Herr Gott, ja ich bekenn es‹, rief er plötzlich laut in den Sturm hinaus, ›ich habe meines Amtes schlecht gewartet!‹ (132)

Sein selbstgewählter Sturz in die Tiefe, nachdem er den Tod seiner Familie mitansehen musste und ihm alles »wie entseelt« (134) erscheint, wirkt wie ein Opfertod. Durch das Mittel der erlebten Rede in dieser Passage kommt der Leser den inneren Gedanken Haukes noch einmal ganz nah. In den letzten Worten Hauke Haiens: »›Herr Gott, nimm mich, verschon die Andern!‹« (ebd.) spiegeln sich die letzten Worte der sterbenden Trien’ Jans in ihrer Vision der Sturmflut (vgl. 122).

    Im Augenblick seines Scheiterns unternimmt Hauke Haien den Versuch, sich mit der Gemeinschaft, von der er sich eine Zeitlang in egoistischer Weise abzuheben trachtete, zu versöhnen und seine Schuld wiedergutzumachen. Wie eine Ironie des Schicksals mag es anmuten, daß er den Menschen an der nordfriesischen Küste im weiteren Verlauf gerade mit dem Werk dient, mit dessen Vollendung er sich aus der Masse herausheben wollte; dem Hauke-Haien-Deich. Hauke Haien irrt und scheitert, sein Werk aber überdauert. (Hildebrandt, S. 65)

So bleibt die Aussage der Novelle zur Bedeutung des Scheiterns von Hauke Haien ambivalent; zum einen läßt sein Scheitern und sein Untergang »Storms Zweifel am Erfolg des menschlichen Kampfes gegen übermächtige Naturkräfte erkennen« (Hildebrandt, S. 83). Er konnte seine aufgeklärte Weltsicht nicht der abergläubisch-religiös behafteten Weltsicht seiner Mitmenschen vermitteln. Andererseits hat sich seine voraussehende technische und mathematische Überlegenheit bei der Konstruktion des neuen Deiches bewährt, denn dieser steht tatsächlich auch nach 100 Jahren noch.

Veröffentlicht am 4. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 4. Januar 2024.