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Der Schimmelreiter

Binnenhandlung – 5. Teil: Jevershallig, Deichbau und Kauf des Schimmels (S. 73-121)

Zusammenfassung

Nach der vierten Unterbrechung der Erzählung des Schulmeisters wendet sich dieser nun einem anderen Schauplatz der Novelle zu. An einem Abend Ende März beobachten Carsten, der Dienstjunge des Deichgrafen und der Knecht, Iven Johns vom Deich vor dem Anwesen von Hauke Haien mysteriöse Vorgänge auf der gegenüberliegenden kleinen Jevershallig. Diese kleine Insel ist verlassen, es liegen dort nur die Knochen ertrunkener Schafe sowie das Gerippe eines Pferdes. In dieser Nacht aber sehen die beiden ein großes Pferd auf der Hallig gehen. Am nächsten Abend treffen sie sich wieder und Carsten fährt mit einem Boot zur Insel, um die Vorgänge dort zu überprüfen. Er findet wie erwartet nur das Pferdegerippe und die Knochen der Schafe. Währenddessen sieht jedoch der Knecht vom Ufer aus weiterhin das gespenstische Pferd auf der Insel grasen. Es ist ihnen beiden unerklärlich und unheimlich und sie beschließen, davon nicht weiter zu sprechen.

Kurze Zeit später kauft Hauke einem heruntergekommenen Vagabunden ein vernachlässigtes, abgemagertes Pferd, einen Schimmel, ab. Der fahrende Händler lacht nach dem abgeschlossenen Handel »wie ein Teufel« (81) hinter Hauke her, seine Hand ähnelt einer Klaue. Das Tier wirkt auch auf Elke nicht Vertrauen erweckend, der Dienstjunge Carsten erschrickt besonders bei seinem Anblick. Hauke päppelt das Pferd eigenhändig wieder auf und pflegt es selbst, schon nach wenigen Wochen zeigt sich, dass es sich um einen schönen, jungen Schimmel handelt. Er entwickelt eine besondere Beziehung zu seinem Herrn und lässt sich auch nur von diesem reiten. Den Bediensteten am Hof ist der Schimmel schon jetzt unheimlich, so sagt der Knecht Iven von ihm »den Schimmel reit der Teufel« (83).
Der Dienstjunge Carsten stellt schließlich die Verbindung zwischen dem merkwürdigen Schimmel und dem unheimlichen Pferdeskelett auf Jevershallig her; er erzählt Iven, dass das von ihnen beobachtete Pferdegerippe auf der Hallig verschwunden sei, seit der Schimmel in den Stall von Hauke Haien gekommen sei. Er war sogar selbst auf der Insel, um es zu überprüfen. Und so verbreitet er von nun ab das Gerücht, dass der Schimmel des Deichgrafen das wieder lebendig gewordene Pferdeskelett von Jevershallig sei. Daher käme auch die besondere Behandlung des Pferdes durch den Deichgraf und das enge Verhältnis zwischen dem Pferd und seinem Herrn.

Trotzdem der Knecht Iven diese Geschichte als »Altem-Weiberglauben« (84) abtut, glaubt Carsten fest daran und kündigt aus Angst vor dem unheimlichen Tier sogar seinen Dienst bei Hauke und fängt um Allerheiligen als Knecht bei Ole Peters an. Von hier aus verbreiten sich die Gerüchte um das Teufelspferd des Deichgrafen und ihn selbst, der mit dem Teufel im Bund stehe, über das gesamte Dorf.

Ende März kommt die Genehmigung des Antrages von Hauke Haien für einen neuen Deichbau und »Befehl zur neuen Eindeichung« (84) von der Oberdeichgrafschaft. Hauke erklärt den Deichgevollmächtigen bei einer Besprechung im Wirtshaus seine Pläne, die anfallende Arbeit und die geplanten Kosten. Vor allem auch, warum der Deich nun ein neues, abgeflachtes Profil zur Seeseite hin haben solle, das bei Sturmfluten beständiger sei, da es den hohen Wellen keinen Angriffspunkt biete, wie es bei den traditionell steil gebauten alten Deichen der Fall sei. Der alte Deich ist vor dreißig Jahren das letzte Mal während einer Sturmflut gebrochen, der neue soll auch bei Sturmfluten noch ”hundert und aber hundert Jahre stehen« (85/86). Dennoch regt sich unter den Anwesenden Widerstand, vor allem wegen der hohen Kosten, dem schwierig zu beschaffenden Material wie Sand und Marscherde und der vielen Arbeit, die der neue Deich für die Dorfgemeinschaft bedeutet. Auch eine neue Schleuse zur Entwässerung des neu gewonnenen Landes muss angelegt werden. Der alte Jewe Manners, Pate von Elke, ist einer der wenigen, der Haukes Projekt uneingeschränkt unterstützt und auch die anderen Gevollmächtigten zur Ruhe und Einsatz für das Projekt aufruft.
Bei einer weiteren Versammlung der Anteilsbesitzer des neu einzudeichenden Kooges zeigt sich ein weiteres Mal die Spaltung, die das neue Deichbauprojekt zwischen den Dorfbewohnern auslöst. So sind diejenigen, die Anteile am neuen Weideland besitzen eher für das Projekt, wenn sie auch mit hohen Kosten belastet werden, während jene, die ihre Anteile, wie auch Ole Peters, vor Bekanntgabe des neuen Deichbaus schon verkauft hatten, nun sich zwar an den Kosten beteiligen müssen, aber keinen direkten Vorteil mehr daraus ziehen können.

Ole Peters verleumdet Hauke Haien bei dieser Sitzung ein weiteres Mal, da er ihm vorwirft, ihm absichtlich seinen Anteil am neu einzudeichenden Weideland abgekauft zu haben, wohl wissend, was dieser nach dem neuen Deichbau einmal wert sein würde. Er wirft ihm vor, den neuen Deich vor allem aus dem Motiv der persönlichen Bereicherung zu planen, wogegen sich Hauke vor allen Anwesenden scharf verwehrt und sich verteidigt. Er gibt bei dieser Gelegenheit auch zu, dass es das erste Gerücht, das Ole gegen ihn in die Welt gesetzt hatte, war, nämlich dass er nur durch den Besitz seiner Ehefrau zum Deichgraf geworden sei, das seinen Ehrgeiz zu diesem großen neuen Projekt angestachelt hatte.

Schließlich beginnen um Pfingsten herum doch die Bauarbeiten am neuen Deich. Hauke beaufsichtigt sie persönlich und ist dabei sowohl zu sich selbst als auch zu den Arbeitern hart. Diese haben vor ihm, den sie nun das erste Mal auch »Schimmelreiter« (91) nennen, und seinem Pferd immer mehr Furcht. Dazu tragen auch die Gerüchte um den Teufelspakt um den Schimmel bei, von denen Hauke allerdings nichts weiß.
Während dieser Zeit wird in der Ehe von Hauke und Elke nach neun Jahren doch noch das ersehnte Kind geboren, die kleine Wienke. Zwar ist die Freude darüber groß, doch Elke liegt nach der Geburt im Kindbettfieber und schwebt in Lebensgefahr. In seiner Verzweiflung richtet Hauke ein Gebet an Gott und bittet ihn darum, ihm seine Frau nicht zu nehmen. Dieses Gebet wird von der Dienstmagd, die einem radikalen Pietistenkreis angehört, mitangehört und durch seine Worte an Gott: »Ich weiß ja wohl, du kannst nicht allezeit, wie du willst, auch du nicht« erschreckt, verbreitet sie das Gerücht, Hauke sei ein Gotttesleugner, da er Gottes Allmacht bestritten habe (vgl. 95).
Erst nach Tagen verbessert sich Elkes Zustand und sie überlebt das Kindbettfieber.
Hauke erfährt von den neuen Gerüchten um ihn, die ihn als von Gott Gefallenen verunglimpfen, der den »Feind Gottes« (96) suche, teilt sie jedoch mit niemandem. Sie tragen jedoch dazu bei, dass er sich immer mehr von seinen Mitmenschen isoliert und hart und ungerecht auch gegenüber seinen Dienstboten wird. Nur die Liebe zu seiner Familie bleibt immer die gleiche.

Im Frühling beginnen die Deichbauarbeiten wieder und kommen über den Sommer hinweg gut und ohne Störung durch Unwetter voran. Für Hauke jedoch ist die Situation nun noch schwieriger geworden, da sein alter Vertrauter, der Deich-Gevollmächtigte Jewe Manners im Winter gestorben ist und sein Rivale Ole Peters dessen Posten übernommen hat und ihm nun Widerstand leistet, wo immer sich die Möglichkeit dazu bietet. Im November sind die Deicharbeiten soweit abgeschlossen, dass nur noch die Stelle zwischen dem alten Deich und dem neuen Koog geschlossen werden muss, in die der Priel, ein gefährlicher Wasserlauf im Wattenmeer, hineinströmt. Hauke beaufsichtigt die letzten Arbeitsschritte, um das Werk endlich und noch vor Einbruch des Winters zu vollenden. Da versuchen die Arbeiter, wie es die alte Legende will, einen lebenden Hund in den Deich zu stoßen, damit etwas Lebendiges diesen haltbarer machen solle. Hauke verstößt gegen diesen Aberglauben und rettet den Hund. Damit vertieft sich die Feindschaft der Arbeiter ihm gegenüber noch, ein Freund des verstorbenen Jewe Manners hatte ihn noch gewarnt, dass er keine Freunde unter den Arbeitern habe (vgl. 101). Nur auf seinen Zuspruch hin nehmen die Arbeiter an doch wieder ihre Aufgabe am Deich auf. So kann der Deich tatsächlich am darauffolgenden Tag beendet werden.

Einige Wochen darauf findet ein großes Festmahl im Haus des Deichgrafen zur Feier der Fertigstellung des Deichbauprojekts statt. Bei der anschließenden Besichtigungsfahrt wird bereits klar, dass das sanft abfallende neue Profil des neuen Deiches auch einen sanfteren Anschlag der Meereswellen bedingt, so wie Hauke es vorhergesagt und geplant hat. Der Deichgraf erhält viel Lob von allen Seiten. Als er einige Zeit darauf von dem neuen Koog, der eigentlich auf den Namen »der neue Carolinenkoog« (104) getauft wurde, als »Hauke-Haienkoog« (ebd.) sprechen hört, ist er außer sich vor Stolz und empfindet seinen Deich als ein »achte[s] Weltwunder« (104).

Tatsächlich bewährt sich das neue Bauwerk auch in den ersten drei Jahren seines Bestehens und die Teilnehmer werden nun zu Eigentümern ihrer Anteile am neuen Koog.
Im Haus des Deichgrafen herrscht ein friedliches, glückliches Leben. Elke hat die alte Trien`Jans, die ehemalige Dienstmagd ihres Großvaters, zu sich ins Haus geholt, da sie in ihrer Hütte am Außendeich mit ihren 80 Jahren nicht mehr länger alleine leben konnte. Sie bringt die Lachmöwe Claus mit ins Haus, die, wie der gerettete Hund Perle, ein Spielkamerad für die kleine Wienke wird. Nach und nach freundet sich Trien`Jans auch mit der kleinen Wienke an, deren geistige Behinderung sie als Strafe Gottes für Hauke betrachtet, der ihr einst den geliebten Angorakater erschlagen hat. Auch zwischen Hauke und Elke wird nun das erste Mal offen ausgesprochen, dass die Entwicklung der Tochter nicht altersgemäß ist und sie wohl geistig behindert ist. Elke fasst dies als großes Unglück auf und gibt sich die Schuld dafür, während Hauke ganz von der Liebe zu seiner kleinen Tochter erfüllt ist; »um alle Schätze in der Welt wollt ich das nicht missen« (111), und Hauke rät auch seiner Frau, ihr Kind einfach weiterhin zu lieben.

Die alte Trien`Jans erzählt der kleinen Wienke Geschichten und Sagen, in denen eben jener Aberglaube und jene Magie mitschwingt, die Hauke so verabscheut. So erzählt sie ihr eines Tages die Geschichte vom Wasserweib, das in der Haffschleuse gefangen war und nicht wieder zurück ins Meer konnte. Sie erklärt ihr, dass dies »Undinger« (113), also Gespenster seien, die nicht beten und auch nicht selig werden können. Hauke ermahnt sie daraufhin, diese Märchen dem Kind nicht zu erzählen.
Bei einem Spaziergang von Hauke mit Wienke in das winterlich gefrorene Watt sehen sie wieder rauchenden Nebel aus den Spalten im Eis aufsteigen, die Hauke schon in seiner Jugend gesehen und die ihn an die Seegespenster erinnert haben. Nun hält Wienke die Gestalten erschrocken für Seeteufel, aber Hauke erklärt ihr, dass es nur hungrige Vögel seien, die Fische aus den Spalten im Eis fangen.

Im neuen Jahr erkrankt Hauke schwer am »Marschfieber« (115), übersteht es nur knapp und ist nach überstandener Krankheit auch im März noch schwach und ohne den üblichen Elan. Als er nach Monaten das erste Mal auf seinem Schimmel ausreitet und den Deich auf mögliche Schäden überprüft, sieht er mit großem Erschrecken an der Stelle, wo der neue Koog auf den alten Deich trifft, an der Stelle, wo früher der Priel auf den alten Deich getroffen war, ein Gewirr aus Mäusegänge sowie eine Aushöhlung im alten Deich. Er erkennt, dass eine sofortige Reparatur und Stärkung des alten Deichs notwendig ist, sowie eine Umleitung des gefährlichen Priels. Sonst würde der alte Deich einer neuen starken Sturmflut wie der von 1655 nicht widerstehen können; als einzige Lösung in dieser Situation steht ihm die Opferung des von ihm neu erschlossenen Hauke-Haienkoogs und die Durchstechung seines neuen Deichs mit Schrecken vor Augen.

In dieser Situation berät sich Hauke mit den Deich-Gevollmächtigten, die jedoch nicht gewillt sind, wieder umfangreiche, teure und aufwendige Arbeiten am alten Deich auszuführen, wo noch immer nicht die Kosten für den neuen Deich gedeckt sind. Vor allem Ole Peters beschwichtigt die Sorgen Haukes und spielt die Schwere der Schäden herunter. Er rät Hauke, sich am nächsten Tag alles noch einmal in Ruhe anzusehen.
Hauke spürt in seiner Schwäche und Mattigkeit noch die Nachwirkungen der Krankheit, zieht deshalb auch Elke nicht ins Vertrauen, die mit ihrem klugen Geist die Dinge klarer hätte sehen können. Am nächsten Tag erscheint ihm im fast senkrecht herabstrahlenden Sonnenlicht die Situation nicht mehr so schlimm wie gedacht. Er kann den gefährlichen Priel bei den veränderten Lichtverhältnissen nicht mehr erkennen und so gibt er sich mit der von den Gevollmächtigten geratenen oberflächlichen Deichreparatur und dem Stopfen der Mäusegänge zufrieden.

Dennoch spürt er weiter eine große Unruhe, die Gefahr, in die eine Sturmflut die gesamte Dorfgemeinschaft durch den nur unzureichend geflickten alten Deich stürzen würde, ist ihm bewusst. Gerade deshalb vermeidet er es oft, überhaupt an dieser Stelle am Deich vorbeizukommen, um »die unheimliche Stelle [nicht] aufs Neue [...] betrachten [zu müssen]« (120). Auch kann er mit niemandem, auch nicht mit Elke, über seine Besorgnis und seine Selbstvorwürfe sprechen. Mit dem beginnenden Herbst kommt der gefährliche Priel und damit die Bedrohung für den alten Deich dann unübersehbar zurück.

Der fünfte und letzte Einschub des Schulmeisters in seine Erzählung bestätigt, dass es sich bei dem Jahr, von dessen Ereignissen er gerade spricht, um das Jahr 1756 handelt, das niemand in der Gegend je vergessen wird, aufgrund der nun noch zu erzählenden Geschehnisse.

Analyse

Die Episode der unheimlichen Vorgänge auf der Jevershallig in Sichtweite des Deichgrafenanwesens bilden eine Schlüsselstelle der Geschichte und sind auch strukturell der Mittelpunkt der Novelle. Obwohl der Schulmeister sich in seiner Unterbrechung von diesen Elementen des Irrealen distanziert hat, gibt er ihnen in seiner Geschichte doch Raum.

Zum ersten Mal ändert sich hier der Handlungsraum, er wird vom Deich und dem dahinterliegenden Marschland ausgeweitet auf die vor der Küste liegende Jevershallig. Sie wurde bisher nur in Zusammenhang mit Trien’ Jans erwähnt, deren Sohn im Meer vor der Insel ertrunken ist. Aber auch der gefährliche Priel und die Nordwestwinde stehen mit der Insel in Verbindung. Nun aber geht dort eine »lebige Kreatur« (74) um; die Wiederholung des dialektalen Ausdrucks »lebig« stellt sie in direkten Zusammenhang mit dem getöteten Angorakater und dem Aberglauben des Deichopfers. Schon an dieser Stelle sprechen die beiden sie beobachtenden, Carsten und Iven, von der Verbindung von Schimmel und Teufel: »›Da geht ein Pferd – ein Schimmel – das muß der Teufel reiten‹« (74), die später auf den Schimmel von Hauke übertragen wird. Hier findet eine

    folgenreiche Verknüpfung der bisher dargestellten Lebensgeschichte von Hauke Haien mit dem Motiv des Teufelspaktes und des Unheimlichen statt, die den weiteren Handlungsverlauf bestimmt und den Helden am Ende zu einer gespenstischen Erscheinung macht. (Ehlers, S. 82)

Auch die Perspektive wechselt in diesem Abschnitt der Erzählung; sie ist nun auf Carsten und Iven verengt, die selbst nicht einordnen können, was sie dort sehen, ob sie ihren Sinnen trauen können, ob es sich um einen Spuk oder Realität handelt. Sie schwanken zwischen dem Glauben an alte Legenden, nach denen sich die Knochen erheben können und so tun, als ob sie »lebig« (75) wären und der Einsicht, dass dies doch nur »Altweiberglaube« (ebd.) sei. Auch hier bleibt also die Beantwortung der Frage nach Realität und Irrealität des Wahrgenommenen in der Schwebe. Der auktoriale Erzähler geht hier über in das »figurengebundene Sehen« (Ehlers, S. 83), das »Einblick in die inneren Vorgänge von Figuren« (ebd.) ermöglicht. In den abschließenden Worten des Jungen Carsten: »›Von hier aus geht’s wie lebig, und drüben liegen nur die Knochen‹« (78) schwingt das Motiv der Täuschung, des Trügerischen mit, die später auch bei Haukes fataler Fehleinschätzung des beschädigten Deiches eine Rolle spielt. Wie auch schon in der Eingangsszene der inneren Rahmenhandlung, in der auch der Reisende nicht sicher sein kann, was wirklich da ist und was seinem Auge nur so erscheint.
Nun hängt die Frage des Realen oder Irrealen auch vom jeweiligen Standpunkt ab; auf der Insel hat Carsten nur die Knochen gefunden, doch vom Deich aus sieht Iven die ganze Zeit das Pferd auf der Hallig umgehen. Wobei nie beides zugleich von einer Figur gesehen werden kann.

    Aus der Nähe erscheint der Gegenstand wirklich, aus der Ferne gespensterhaft und unwirklich. Die Wahrnehmung bildet keine verlässliche Basis für das Sehen und Erkennen dessen, was in der Welt ist. [...] Das Unheimliche fasziniert und zugleich geht eine bedrohliche Wirkung von ihm aus, die aus dem Nicht-Verstehen und Nicht-Erkennen von Zusammenhängen herrührt (Ehlers, S. 85).

Unmittelbar an diese Ereignisse schließt sich der Kauf des Schimmels durch Hauke an, beide Ereignisse stehen in direktem Zusammenhang und sind von großer Bedeutung für den Fortgang von Haukes Leben und Wirken als Deichgraf. Dass sich die Atmosphäre verändert hat, zeigt sich auch daran, dass diese Episode von Beginn an der Sphäre des Dunklen, Unheimlichen zugeordnet wird: »Nachdem aber der Mond zurückgegangen, und die Nächte dunkel geworden waren, geschah ein Anderes» (78).

Das Äußere des von Hauke günstig erstandenen Schimmels jagt allen, die ihn sehen, sofort einen Schrecken ein, außer Hauke spüren alle die Atmosphäre des Unheimlichen, das ihn umgibt: »›So eins ist noch nie in unserem Stall gewesen!‹« (79) Die erste Begegnung mit dem Schimmel und Elke findet, wie viele wichtige Ereignisse in der Familie, wieder unter der großen Esche statt (vgl. 79).

Der von Hauke berichtete Kauf des Schimmels von einem abgerissenen, reisenden Händler trägt alle Anzeichen des Teufelspaktes in sich; vom merkwürdigen Äußeren des Verkäufers, über dessen klauenartiger Hand, in die Hauke einschlägt, um den Kauf zu besiegeln, bis zum teuflischen Lachen, das der Händler nach Verkauf des Tieres Hauke noch hinterherschickt (vgl. 81). Auch dies scheint zwar Elke, nicht aber Hauke zu verunsichern. Das enge Verhältnis von Hauke zu seinem Tier, um das er sich stets persönlich kümmert und das gerade in seiner alle erschreckenden Wildheit nur Hauke als Reiter akzeptiert, legt schon bald eine Verbindung der beiden nahe, die allen anderen merkwürdig, wenn nicht gar beunruhigend erscheint. Als aber der Dienstjunge Carsten bemerkt, dass die Knochen auf Jevershallig nicht mehr da sind und das neue merkwürdige Pferd, ebenfalls ein Schimmel, wie damals die Erscheinung im Mondlicht, mit ihm in Verbindung bringt, beginnt die endgültige Dämonisierung Haukes, sein Abgleiten in die Welt des Unheimlichen, die ihn schließlich nach seinem Tod zum Wiedergänger macht. Dazu trägt vor allem auch bei, dass Carsten kurz danach als Knecht zu Ole Peters wechselt und dort allen die Geschichte vom »Teufelspferd des Deichgrafen« (84) erzählt, »die gegen den Deichgrafen einen Groll im Herzen oder die an derartigen Dingen ihr Gefallen hatten« (84).

    Aus der realen Figur Hauke Haien wird nun der Schimmelreiter, eine Gestalt, die im Pakt mit dem Bösen steht und von der Unheil ausgeht. Mit dieser Dämonisierung versuchen die Dorfbewohner, sich das Unheimliche erklärbar zu machen (Ehlers, S. 88).

Das von Hauke geplante und inzwischen auch genehmigte Projekt eines Deichneubaus versetzt das Dorf in Aufruhr. Dazu trägt die Voreingenommenheit der Dorfbewohner gegen Neuerungen wie das von Hauke vorhergesehene neue, flachere Profil bei, zu dessen genauerem Verständnis vielen der Sachverstand und die mathematischen Kenntnisse fehlen. Vor allem aber sind es die Kosten und die Frage der Materialbeschaffung für eine aus ihrer Sicht »unnütze Arbeit« (85), die die Menschen gegen Hauke aufbringen, von dem sie sich, in Verbund mit dem Oberdeichgrafen, ohnehin bereits gegängelt und finanziell unter Druck gesetzt fühlen. Bis auf Jewe Manners kann Hauke kaum auf Unterstützung hoffen. Dazu trägt die Legende vom Teufelspferd und seinem Bund mit dem Teufel ebenso bei wie eine weitere Verleumdung von Ole Peters, nach der Hauke den neuen Deich vor allem aus eigennützigen Motiven bauen ließe und sich selbst schon im Vorfeld die meisten Abteile am neu einzudeichenden Weideland gesichert habe (vgl. 90). Als dann die Arbeiten, die Hauke gegen alle Widerstände durchgesetzt hat, doch beginnen, kontrolliert Hauke vor Ort alle Vorgänge mit großer Härte, sein Schimmel verbreitet Angst und Furcht, die Arbeiter begegnen ihm mit Scheu und Widerwillen und warnen sich bei seinem Auftauchen: »›Der Schimmelreiter kommt‹« (91/92). Hauke selbst, der ja jeglichen Aberglaube ablehnt, weiß von den Gerüchten um seinen angeblichen Bund mit dem Teufel nichts.

Von den während des Deichbaus geschehenden Ereignissen sind vor allem die Geburt der kleinen Tochter Wienke und die nachfolgende schwere Erkrankung Elkes am Kindbettfieber bedeutsam. Die Aussage über das sonst gesunde Kind: »Nur sein Geschrei war wunderlich verhohlen und hatte der Wehmutter nicht gefallen wollen« (93), deutet bereits einen Schatten an, der über dieses in Haukes Familie herbeigesehnte frohe Ereignis fällt und das sich später mit der offenkundig werdenden geistigen Behinderung Wienkes bestätigt. Der erste Hinweis darauf steht wieder in Zusammenhang mit der Esche, auf deren Ast der Vater Wienke, die auch als »stilles Kind« (98) bezeichnet wird, setzt und sie schaukeln lässt: »Die Mutter stand mit lachenden Augen in der Haustür; das Kind aber lachte nicht, seine Augen [...] schauten ein wenig stumpf ins Weite, und die kleinen Hände griffen nicht nach dem Stöckchen, das der Vater ihr hinhielt« (98).

Vor allem aber die schwere Erkrankung, die Elke an den Rand des Todes führt, erschüttert Hauke tief und führt ihn dazu, an ihrem Krankenbett ein Gebet an Gott zu richten, um um ihre Rettung zu bitten. Der Zweifel, der sich in seinen Worten ausdrückt: »›Ich weiß ja wohl, du kannst nicht allzeit, wie du willst, auch du nicht‹« (94), verbreitet sich über die Magd, die einem Kreis von radikalen Pietisten anhängt. Dies verstärkt eine weitere Dämonisierung, da sie das Gerücht in Umlauf bringt, Hauke zweifle an der Allmacht Gottes und sei ein »Gottesleugner« (95). Die Isolation Haukes in der Dorfgemeinschaft verstärkt sich immer mehr, nur noch zu seiner Frau und seinem Kind hat er ein enges Vertrauensverhältnis. Dies hat auch zur Folge, dass sein Umgang mit den anderen Menschen noch herrischer wird. Gleichzeitig verschärft sich seine problematische Stellung in der Gemeinschaft noch durch den Aufstieg Ole Peters zum Deich-Gevollmächtigten, der sich ihm bei allen Gelegenheiten mit »heimliche[m] Widerhalten« und »unnötige[n] Einwände[n]« (97) entgegenstellt.

Die härteste Konfrontation zwischen dem Deichgrafen und den Deicharbeitern während der lange andauernden Deichbauarbeiten geschieht bei dem schon von Elke vorhergesagten Brauch des Deichopfers. Genau am Übergang vom neuen zum alten Deich, an der Schlucht, »auf deren Grund an der Nordseite das Meerwasser durch den Priel in den neuen Koog hineinschoß« (99), soll der kleine gelbe Hund als Deichopfer begraben werden, um dem Brauch zu gehorchen, denn »›soll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein!‹« (101) Hauke unterbricht dieses Brauchtum der Menschen mit Gewalt, schlägt alle Warnungen in den Wind und rettet den Hund, dabei erscheint er den Arbeiten mit seinem zornigen Auftreten auf seinem Schimmel wie der Leibhaftige: »und sie hatten eine abergläubische Furcht vor ihm« (101).

Nach der Tötung des Angorakaters in einem Wutanfall ist der Hund nun nach dem Schimmel das zweite Tier, das von Hauke gerettet wird. Auf Ebene seiner sozialen Stellung in der Dorfgemeinschaft symbolisiert die Verhinderung des Deichopfers jedoch seinen endgültigen Ausschluss aus der Gemeinschaft und zeigt zwei unversöhnliche Weltbilder auf, die hier aufeinanderprallen. Hauke setzt ganz auf das rational Erfassbare und Erklärbare und möchte die Probleme seiner Welt, wie beispielsweise die bedrohliche Macht des Meeres, mit Technik eindämmen und beherrschen.

    Damit gerät er in einen Gegensatz zu anderen Küstenbewohnern, die rückwärtsgewandt denken und deren Verhältnis zur Natur sich auf Religiosität und magische Praktiken, wie der Eindämmung von etwas Lebendigem, stützt. Sie deuten die Natur anders als Hauke. Sie nehmen die Natur als zeichenhaft wahr. (Ehlers, S. 76)

Hauke fehlt dafür jegliches Verständnis und so gibt es zwischen ihm und den meisten seiner Mitmenschen keine gelingende Kommunikation. Aus Sicht der Deicharbeiter hat Hauke der Natur mit seinem Eingreifen in das Ritual des Deichopfers das vorenthalten, was ihr zusteht, dafür, dass der Mensch durch die Errichtung des Deiches in sie eingreift und dem Meer Land entreißt. Sein Niedergang und Fall ist aus Sicht dieses magischen Naturverständnisses von diesem Zeitpunkt an vorprogrammiert.

Dazu trägt entscheidend auch sein Wesenszug der Selbstüberhöhung und des egoistischen Stolzes auf sein Werk bei, das er ganz mit seiner Person in Verbindung bringt und für seinen Nachruhm einsetzen will. Dies zeigt sich, als er das erste Mal den eigentlich nicht korrekten Namen »Hauke-Haienkoog« für das von ihm eingedeichte Weideland hört: »In seinen Gedanken wuchs fast der neue Deich zu einem achten Weltwunder, in ganz Friesland war nichts seines Gleichen! [...] Ihm war, als stünde er inmitten aller Friesen; er überragte sie um Kopfeshöhe, und seine Blicke flogen scharf und mitleidig über sie hin« (104). Die hier zutage tretende Hybris des Protagonisten, die auch lautmalerisch durch die vielen verwendeten Alliterationen unterstützt wird, zeigt seine Veränderung an und macht klar, dass seine Motive zur Errichtung dieses Deiches inzwischen ganz andere sind, als die des Gemeinwohls und des Schutzes des Marschlandes vor Sturmfluten.

Das von Hauke und auch Elke so vehement abgelehnte Magische und Phantastische kommt dann durch die alte Trien’ Jans ins Haus des Deichgrafen. Dies wird schon deutlich durch die Gegenstände, die sie mitbringt; »ein längst zur Ruhe gestelltes Spinnrad« (106); das Spinnrad steht symbolisch für das mündlich tradierte und vor allem weiblich konnotierte Erzählen an dunklen Winterabenden nach Allerheiligen. Daneben ein Schemel, der mit dem weißen Fell des von Hauke getöteten Angorakaters (ebd.), wie eine Erinnerung an diese ewige Schuld Haukes und auch ein lebendiges weißes Tier; die Möwe Claus. Auch dass ihre Stube nach Nordwest, der Himmelsrichtung der gefährlichen Winde und Sturmfluten gerichtet ist und sie als erstes nach dem Blick auf Jeverssand sucht, der Hallig, vor der ihr Sohn ertrunken ist und der seit der Episode mit dem lebendig gewordenen Pferdeskelett in der Novelle als der Ort des Unheimlichen fungiert, weist darauf hin.

Vor allem aber wird ihr Einfluss an ihrem Verhältnis zur kleinen Wienke deutlich. In ihren Augen ist deren geistige Behinderung eine Strafe Gottes (vgl. 107) und steht im Zusammenhang mit dem Fluch, den sie nach dem Tod ihres Katers gegen Hauke ausgesprochen hat. Sie erzählt der kleinen Wienke die Sagen und Legenden, die Hauke als »Mären« (113) und Aberglauben so strikt ablehnt, wie beispielsweise die Sage vom Wasserweib, das sich im Haff verfangen hat und nicht wieder zurück ins Meer kann. Dies kann »als Bild der ›gefesselten Natur‹, d.h. einer von technischer Rationalität gefangenen und beherrschten Natur aufgefasst werden« (Ehlers, S. 80). Damit bringt sie das Mädchen in Kontakt mit der magisch-religösen Weltsicht, für die sie steht. Trien’ Jans »rückt [...] an die prominente Stelle der eigentlichen Gegenspielerin Hauke Haiens: Sie personifiziert die (weibliche) naturmagische Sphäre, gegen die sich Haien mit Rationalität und Berechnung wendet» (Kuhn, S. 188).

Dies zeigt sich auch im gemeinsamen Ausflug Haukes mit Wienke an das gefrorene Wattenmeer, wo aus den Spalten im Eis dieselben unheimlichen Nebelgestalten aufsteigen, die Hauke schon in seiner Jugend beobachtet hat (vgl. 20). Damals hat Hauke bei ihrem Anblick noch an die norwegischen Seegespenster denken müssen, wenn er sich ihnen auch kämpferisch entgegengestellt hat. Nun ist es Wienke, die bei ihrem Anblick an »Seeteufel« (114) denken muss und sich ängstigt. In der Erklärung Haukes, dass es weder Wasserweiber noch Seeteufel gebe und es sich nur um hungrige große Vögel handle, zeigt sich der nüchterne Blick des Rationalisten, der jegliche magische, spukhafte Weltsicht ablehnt (vgl. ebd.). In seiner anhänglichen Liebe und Fürsorge für Wienke, über deren Besonderheit er sich inzwischen mit Elke ausgesprochen und über die er sie getröstet hat, zeigt sich die andere Seite Haukes, die er Zeit seines Lebens auch hat.

Als Hauke im Frühjahr, eben von langer Krankheit genesen, die Schäden am Deich und das erneute Auftreten des alten, gefährlichen Priels erkennt, weiß er sofort, welche Gefahr davon bei einer erneuten schweren Sturmflut ausgehen würde. Er sieht vorher, dass der alte Deich brechen und nur um den Preis einer Durchstechung seines Lebenswerkes, des neuen Deichs, zu retten wäre. Die Erkenntnis trifft ihn so heftig, dass er das erste Mal nicht mit Elke die ganze Schwierigkeit dessen, was er da auf sich zukommen sieht, bespricht. Stattdessen hat er, auch dies zum ersten Mal, das Bedürfnis, sich an die anderen Verantwortlichen für den Deich aus der Dorfgemeinschaft zu wenden: »Hauke Haien, der sonst Alles bei sich selber abgeschlossen hatte, drängte es jetzt, ein Wort von Jenen zu erhalten, die er sonst kaum eines Anteils wert gehalten hatte« (117/118).

Bei jenen stößt er jedoch erneut auf »zähe[n] Widerstand« (119) aufgrund der Kosten, die noch immer vom neuen Deich zu tragen sind und des Unwillens, nun bereits neue Arbeiten in Angriff zu nehmen. Es ist seine Schwäche, die noch von seiner schweren Erkrankung resultiert, die ihn auf den Rat Ole Peters hören und ihn die Situation vor Ort am nächsten Tag noch einmal überprüfen lässt.

Doch hier lässt sich Hauke dann täuschen, er »suchte nach dem Bett des Prieles, das ihn gestern so erschreckt hatte; aber bei dem vom Zenit herabschießenden Sonnenlichte fand er es anfänglich nicht einmal [...] die Schatten der gestrigen Dämmerung mußten ihn getäuscht haben« (119). Diese Szene nimmt das Motiv der Täuschung, der Unklarheit der eigenen Sinneseindrücke sowohl aus der inneren Rahmenhandlung mit der Erscheinung des unheimlichen Reiters als auch bei der Beobachtung der Ereignisse auf Jevershallig wieder auf. Und in dieser Bereitschaft, sich aus seiner augenblicklichen Schwäche täuschen und blenden zu lassen, obwohl er eigentlich die Gefahr, in der die Dorfgemeinschaft durch den beschädigten Deich schwebt, erkannt hat, liegt auch Haukes Schuld an den kommenden Ereignissen begründet. Daher meidet er auch das Gespräch mit Elke, da er »die klare Einsicht und de[n] kräftige[n] Geist« (119), die sie auszeichnet, fürchtet.

Hauke versucht seine Gewissensbisse, die Schuld, die er auf sich zukommen sieht, im Laufe des Jahres immer weiter zu verdrängen. Er vermeidet es, überhaupt an der nur oberflächlich geflickten Stelle vorbeizukommen; »er hatte es sich nicht zumuten können, die unheimliche Stelle aufs Neue zu betrachten« (120). Bis er schließlich im Herbst wieder und deutlicher als zuvor »das gespenstische neue Bett des Prieles« sieht; »so sehr er seine Augen anstrengte, es wollte nicht mehr weichen« (121). Erst in diesem Augenblick erkennt er, dass es nun zu spät ist und er nichts mehr tun kann, um das kommende Unheil abzuwenden. Genau in dem Moment, als er auf andere hört und nicht einsame, auf sich allein gestellte Entscheidungen trifft, beginnt das Scheitern und der Fall Hauke Haiens. »Der Deichgraf, der sich nun endlich wieder als Teil der Gemeinschaft fühlt, hat – wie sich herausstellen wird – versagt und schwere Schuld auf sich geladen« (Hildebrandt, S. 64).

Die fünfte und letzte Unterbrechung der Erzählung durch den Schulmeister untermauert noch einmal die Authentizität des Erzählten, indem er das Jahr der großen Sturmflut und den genauen Zeitpunkt angibt (vgl. 121).

Veröffentlicht am 4. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 4. Januar 2024.