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Der Schimmelreiter

Interpretation

Rationalität – Irrationales

Die Literatur des Realismus war stark auf die Wirklichkeit ausgerichtet, Elemente des Irrealen oder Phantastischen hatten hier weit weniger Platz als beispielsweise in der Romantik. Zumindest aber mussten sie immer in einer Weise eingebunden werden, dass der Fokus auf der konkreten gesellschaftlichen Realität und der Wirklichkeit nicht gestört wurde. In Storms Spätwerk, zu dem »Der Schimmelreiter« gehört, öffnet sich diese Konzentration auf die Wirklichkeit etwas, so dass auch Elemente des Phantastischen, Irrealen und Unheimlichen darin einen Platz einnehmen.

Die Novelle ist durchzogen vom Gegensatz zwischen Rationalität und Elementen des Irrationalen, sowohl in der inneren Rahmenerzählung, wie auch in der Binnenhandlung.

In der Rahmenerzählung scheint zunächst das Übernatürliche zu überwiegen, jedoch bleibt alles bewusst im Wagen, Uneindeutigen. Durch die Begegnung des Reisenden mit dem unheimlichen, scheinbar übernatürlichen Reiter, treten zwar Elemente des Irrealen in die Erzählung ein, jedoch ist sich der Ich-Erzähler selbst nicht sicher, ob er seinen Augen trauen kann oder doch einer Sinnestäuschung erlegen ist (»mir war, als streifte mich der fliegende Mantel [...]. Dann war’s, als säh ich plötzlich ihren Schatten an der Binnenseite des Deiches [...]« (11)). Im Gasthaus angekommen, sind alle Anwesenden nach dem Bericht des Reisenden sofort davon überzeugt, dass es sich bei dem unheimlichen Reiter um den »Schimmelreiter« handele, der vor einem erneuten Unheil in der Sturmnacht warnen wolle. Einzig der alte Schulmeister, der das Erzählen seiner Geschichte übernimmt und der vom Deichgraf als »Aufklärer[n]« (136) bezeichnet wird, weist darauf hin: »Es ist viel Aberglaube dazwischen, und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen« (14). Die fünf Unterbrechungen seiner Erzählung nutzt der Schulmeister auch immer, um über das Erzählen selbst zu reflektieren und das Phantastische und Spukhafte in der Binnengeschichte zu relativieren.

    Er erreicht dann im Laufe seiner Darstellung, daß das Übernatürliche immer mehr zurücktritt. So haben die Rahmenabschnitte für den aufgeschlossenen Leser die Aufgabe, alles Abergläubische im Laufe des Erzählprozesses immer weiter zurückzudrängen – ganz im Sinne des aufgeklärten Schulmeisters und damit auch Storms« (Hildebrandt, S. 90).

Bereits nach der 3. Unterbrechung, als der Deichgraf und alle anderen Anwesenden das Wirtshaus verlassen, um nach dem Unheil zu sehen, dass das Auftauchen des Schimmelreiters ankündigt, setzt der Schulmeister seine Erzählung fort in seiner Bibliothek, »deren Fenster [...] mit dunklen Wollteppichen verhangen waren« (56). So bleibt sowohl das Unwetter als auch der mit ihm verbundene Spuk draußen.

Gleichzeitig nehmen Elemente des Übernatürlichen und Unheimlichen in der Binnenerzählung, in der Mitte der Novelle und nach der 4. Unterbrechung durch den Schulmeister, ab der Episode um die Vorgänge auf Jevershallig zu.

Nach dem Ende seiner Erzählung äußert der Schulmeister zwar seinen Unmut darüber, »einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und Nachtgespenst zu machen« (135). Er lässt jedoch auch die Anleihen am Aberglauben stehen, wie etwa die Überlieferung, dass das Pferdegerippe nach dem Tod von Hauke Haien und seinem Pferd wieder auf Jevershallig zu sehen gewesen sei (vgl. 135).

Die Schlussbemerkung des Deichgrafs an den Reisenden, doch seinen eigenen Augen zu trauen, denn der Deich sei in der Sturmnacht ja tatsächlich gebrochen, wie es das Auftauchen des Schimmelreiters angekündigt habe, lässt das Verhältni zwischen Rationalem und Irrationalem wieder ganz in der Schwebe und im Unklaren. Es bleibt Aufgabe des Lesers, über das Verhältnis und den Wahrheitsgehalt dessen, was wirklich geschehen ist oder sein könnte, nachzudenken.

Auch die Binnenhandlung ist stark vom Konflikt zwischen der rationalen, aufgeklärten Weltsicht, für die der Protagonist Hauke Haien steht, und irrationalen Elementen geprägt. Diese treten schon in Erlebnissen in seiner Jugend auf, wenn er bei einem Spaziergang im zugefrorenen Watt den aus den Rissen im Eis aufsteigenden Rauch die »furchtbaren norwegischen Seegespenster« (29) zu erkennen meint. Später in seinem Leben erklärt der Deichgraf Hauke Haien seiner kleinen Tochter, die sich vor ebendiesen »Seeteufeln« fürchtet, dass es sich dabei nur um »arme hungrige Vögel« handeln würde (114).

Weitere Elemente des Unheimlichen sind beispielsweise die Verfluchung Haukes durch die alte Trien`Jans, nachdem er ihren geliebten Angorakater getötet hat (24) und die Geschichte des als Deichopfer in den Deich eingebauten Kindes, die Elke ihrem Mann wie zur Warnung vor dem Aberglauben der Dorfgemeinschaft erzählt (70). Vor allem im zweiten Teil der Erzählung dringt mit den unerklärlichen Ereignissen auf Jevershallig und dem darauffolgenden Kauf des Schimmels zunehmend das Motiv des Unheimlichen, Phantastischen in die Erzählung ein. Sie tragen vor allem dazu bei, den Protagonisten Hauke Haien immer mehr zu dämonisieren und von der Dorfgemeinschaft zu isolieren. Denn Hauke bildet mit seiner rein auf Rationales ausgerichteten, aufgeklärten Weltsicht einen großen Gegensatz zu fast allen Dorfbewohnern, deren magische Weltsicht noch weitgehend auf Aberglauben und Ritualen basiert. Ein besonders hervorgehobenes Beispiel dafür ist Trien` Jans, die einen besonderen Zugang zu alten Sagen, Legen und Bräuchen hat und dadurch auch über ein tieferes Wissen zu verfügen scheint, wie ihre Vorhersage der kommenden  Sturmflut auf dem Sterbebett nahelegt (vgl. 122). Auf diese folgt dann »allerlei Unheil und seltsame[s] Geschmeiß« (122), das über Nordfriesland kommt. Lediglich Haukes Frau Elke, deren ebenfalls großes mathematisches Talent immer wieder betont wird, teilt seine nüchterne Grundeinstellung. 

Sowohl der Protagonist der Binnenhandlung, Hauke Haien, als auch der die Binnenhandlung erzählende Schulmeister, vertreten beide eine stark rationale, aufgeklärte Position. Dadurch wird das Irrationale auf den ersten Blick eher als nicht glaubwürdig entwertet. Ganz aufgelöst wird das Unheimliche jedoch nicht. Es besteht durch die Begegnung des unvoreingenommenen Reisenden mit dem Schimmelreiter im inneren Rahmen fort, der Deichbruch in der Sturmnacht scheint die alte Sage noch zu bestätigen. Die Aussage der Novelle dazu bleibt also ambivalent: »Theodor Storm zeigt [...] stets das Nebeneinander von Aberglauben und Rationalität, Spuk und Zweifel, Furcht vor Geheimnisvollem und rationale Erklärung« (Hildebrandt, S. 97).

Gesellschaftlicher Wandel – Sozialer Aufstieg Hauke Haiens

Die Novelle kann auch als Geschichte des sozialen Aufstiegs eines ehrgeizigen, einzelgängerischen Menschen gesehen werden, der der Idee des Fortschritts und der technischen Machbarkeit zur Verbesserung der Lebensumstände anhängt und schließlich am Widerstand der konservativ-rückständigen Dorfgesellschaft sowie an seiner eigenen Hybris und Selbstüberschätzung scheitert und untergeht.

Hintergrund für dieses Deutungsmuster ist auch Storms eigene Zeit, in der er die Novelle verfasst hat; die Gründerzeit mit ihrer rasanten technischen Entwicklung in der Industrialisierung und einem großen Fortschrittsglauben, mit dem oft gerade die einfache Bevölkerung in ländlichen Gebieten nicht Schritt halten konnte. Hauke kann vor diesem Hintergrund als gründerzeitlicher Rationalist gedeutet werden, der seine Vision vom Fortschritt gegen die Widerstände der rückständigen Dorfgesellschaft, die ihn umgibt, durchkämpft. 

    Die Hauptfigur verkörpert den Typus des frühbürgerlichen, nach Autonomie strebenden Individuums. Ihr Anspruch auf Selbstbestimmung im Handeln und Denken ist Ausdruck eines historischen Wandels von einer Ständeordnung zu einer frühbürgerlichen Gesellschaft. (Ehlers, S. 72)

So sind am Beispiel der Figur Hauke Haiens in dieser Gesellschaft, die Storm ja weiter zurück in die Vergangenheit, in die Jahre vor und nach 1750 gelegt hat, bereits soziale Umbrüche zu erkennen. Denn war bisher das Amt des Deichgrafen immer an ein Erbe dieses Titel im Zusammenspiel mit ausreichend Grundbesitz gebunden, gelangt Hauke als erster Deichgraf durch sein Können, seine Kompetenz und seine Verbindung mit Elke in dieses Amt. Er hat sich also zu einem großen Teil selbst aus der relativen Armut des Kleinbauern emporgekämpft und sich in seiner Lehrzeit beim alten Deichgrafen entsprechend hervorgetan. Dies verändert bereits die zuvor streng hierarchisiert aufgebaute Ständegesellschaft und macht Hauke von Anfang an zu einer Außenseiterfigur, was durch sein oft verschlossenes, auch herrisches und überhebliches Verhalten noch verstärkt wird. »Tatsächlich unterbricht der soziale Aufstieg von Hauke die Tradition und signalisiert das Ende der alten Ordnung« (Ehlers, S. 72).

Gerade aber seine schon früh zu Tage tretenden Charakterzüge des Einzelgängers, der eine stille Abneigung gegen die meisten der ihn umgebenden Menschen spürt, denen er sich, wie auch den Kräften der Natur, eigentlich geistig überlegen fühlt, lässt diesen Typus des Gründerzeitmenschen negativ erscheinen. Storm zeichnet den Helden Hauke Haien also durchaus kritisch. Gerade in seinem Scheitern sowohl an den gesellschaftlichen Widerständen, als auch an der eigenen Selbstüberschätzung wird dies sehr deutlich. Noch kurz vor seinem Tod in der Sturmnacht spürt er Stolz beim Anblick seines neuen Deiches; »Der Hauke-Haiendeich, wie ihn die Leute nannten, der mochte jetzt beweisen, wie man Deiche bauen müsse!« (129).

Letztendlich scheitert Hauke jedoch an seiner mangelnden Kooperationsfähigkeit mit der Dorfgesellschaft, deren traditionelles, abergläubisches Denken ihm verschlossen ist und an seiner Hybris, in der er sich nicht nur allen anderen Menschen, sondern, in seinem Glauben an die technische Machbarkeit, auch den eigentlich nicht bezähmbaren Kräften des Meeres überlegen fühlt.

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.