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Der Schimmelreiter

Historischer Hintergrund und Epoche

Theodor Storm arbeitete bereits seit 1885 am »Schimmelreiter«, als er an seinen Freund Erich Schmidt vom alten mächtigen Deichsagenstoff berichtete, der sich nun in ihm rühre, für dessen Ausgestaltung es aber noch vieler Studien bedürfe (vgl. Lowsky, S. 20).
Und tatsächlich betrieb der Autor für dieses große Werk eine sehr umfangreiche Recherche und Quellenstudien. Diese betrafen beispielsweise Bücher über die Technik des Deichbaus und die Geschichte des Deichwesens wie auch bekannte historische Vertreter wie den Deichgrafen Johann Claussen Rollwagen (1563-1623) oder den Mathematiker Hans Momsen (1735-1811), der auch im Buch vom Schulmeister als Vergleichsfigur für Hauke Haien genannt wird (vgl. 16). Auch über die Technik der flachen Deichprofile, die der Deichbaumeister Jean Henri Desmercieres (1687-1778) einführte, betrieb Storm umfangreiche Recherchen. Er besuchte vor Ort den Bauinspektor und Deich-Fachmann Christian Eckermann in Heide, um seine wissenschaftliche Expertise in die Novelle einfließen zu lassen.
Storm beschäftigte sich mit alten Sagen und Legenden seiner friesischen Heimat. Die wichtigste Quelle für die Handlung der Novelle war aber die ihr zugrundeliegende Sage »Der gespenstige Reiter«, abgedruckt in der Zeitschrift »Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes. Gesammelt von J.J.C. Pappe«, die 1838 in der Zeitschrift »Danziger Dampfboot« abgedruckt war (vgl. Lowsky, S. 21). Dabei handelte es sich allerdings nicht um eine norddeutsche Sage, sie war vielmehr an der Weichsel angesiedelt. Auch verlegte Storm sie ins 18. Jahrhundert. Storm erinnerte sich zwar sein ganzes Leben an diese Geschichte, die er in seiner Jugend gelesen hatte, aber nicht mehr an den Titel der Zeitschrift, in der sie abgedruckt gewesen war. Erst 1949 entdeckte Karl Hoppe die Quelle wieder, die nun genau zugeordnet werden kann (vgl. Ehlers, S. 53). Von ihr hat Storm sowohl die Rahmentechnik als auch wichtige Motive.

Die literarische Epoche, in der sich die Novelle »Der Schimmelreiter« verorten lässt, ist der literarische bzw. poetische Realismus, von dem man von etwa 1830 bis 1890 spricht.
Der politische und gesellschaftliche Hintergrund dieser Epoche wurde zunächst von der gescheiterten Märzrevolution in Deutschland von 1848 geprägt, in der sich die Hoffnungen des liberalen Bürgertums auf mehr politische Freiheit und eine staatliche Einheit Deutschlands nicht erfüllten. Eine Folge davon waren eine resignative Haltung im Bürgertum und ein gedanklicher Rückzug in die historisch entfernte Vergangenheit.

Prägend für diese Epoche im Umbruch waren außerdem die rasante technische Entwicklung und der Fortschrittsglaube im Zuge der industriellen Revolution der Gründerzeit und ihre gesellschaftlich umwälzenden Auswirkungen. So standen beispielsweise die sich verstärkenden sozialen Probleme als negative Folge der Industrialisierung, die Ausbeutung der Arbeiter im beginnenden Kapitalismus, dem Optimismus durch den Glauben an den Fortschritt in Wissenschaft, Technik und Medizin und die technische Machbarkeit entgegen. Auch die Geisteshaltung des Determinismus, basierend beispielsweise auf den Erkenntnissen Charles Darwins, nach denen der Mensch nur ein Produkt der Evolution und damit wie die Tierwelt von den Regeln der Physiologie bestimmt ist, trug zu einer fatalistischen, am Sinn der Existenz zweifelnden Geisteshaltung bei. Diese neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse standen auch dem christlichen Weltbild entgegen. Gleichzeitig kam die bis dahin festgefügte Ständegesellschaft ins Wanken, durch Bevölkerungswachstum und Stadtflucht ergaben sich neue gesellschaftliche Schichten.

Im Fokus der literarischen Epoche des poetischen bzw. bürgerlichen Realismus in Deutschland steht die Wirklichkeit, wie sie der Mensch in seiner alltäglichen Umgebung erfährt und ihre objektive Darstellung. Allerdings ist das Ziel nicht eine möglichst detaillierte Abbildung der Wirklichkeit, wie dies dann im Naturalismus geschieht. Vor allem findet keine Darstellung des Hässlichen in seinen Ausformungen wie Krankheit, Elend, Tod statt, wie es für die nachfolgende Literaturepoche typisch war, auch keine direkte Darstellung von Sexualität. Das Ziel der Auseinandersetzung mit der empirischen Wirklichkeit als Grundlage des Lebens ist vielmehr ihre »Deutung und [die] Herstellung von Zusammenhängen, die an der Oberfläche nicht erkennbar sind« (Ehlers, S. 111). Dies wird durch Idealisierung bzw. Verklärung der Wirklichkeit erreicht, worunter allerdings keine Beschönigung der Realität zu verstehen ist, vielmehr soll durch die Poetisierung und künstlerische Umformung das sichtbar gemacht werden, was hinter der Oberfläche des Wahrnehmbaren unsichtbar bleibt:

    Gefordert wird eine Versöhnung zwischen der tatsächlichen, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit und dem, was hinter den Dingen steht, zwischen der als mangelhaft erlebten Wirklichkeit und einer idealen, wünschenswerten, d.h. einer Wirklichkeit, wie sie sein sollte. (Ehlers, 112)

Gerade bei Storm zeigt sich dieser Ansatz, in dem er die Wirklichkeit durch verschiedene Erzählperspektiven bricht und damit verschiedene subjektive Blickwinkel und Erinnerungen zulässt. Auch trägt er durch die Rahmenhandlung, teilweise auch doppelte Rahmungen wie im »Schimmelreiter«, dazu bei, dass Ereignisse der Vergangenheit distanziert werden und durch unzuverlässige Erzähler, die über das »wie« des Erzählens reflektieren, keine Sicherheit mehr über das Erzählte besteht (vgl. Ehlers, S. 111). Realistische Detailtreue der Darstellung findet so aus einer subjektiven oder auch multiperspektivischen Haltung statt, meist eingebettet in die Welt des Bürgertums. Dabei braucht die geforderte Authentizität der Darstellung gerade den Künstler, um das Schöne hervorzubringen: »Der Künstler soll in der Banalität des Alltäglichen das Besondere ausmachen, es hervorheben und überzeichnen« (Murrenhoff, in Paulsen, S. 114).

Dabei ist das Irreale, das Nicht-Erklärbare dennoch nicht verschwunden aus der realistischen Literatur. Bei Storm tritt das Irreale, Phantastische oder Unheimliche gerade dann in seinen Novellen auf, wenn das Dahinter der alltäglichen Realität, das eine tiefergehende oder andere Wirklichkeit aufscheinen lässt, dargestellt werden soll. Als Gegenpol zur technisierten, durchrationalisierten Zeit mit ihrem unerschütterlichen Fortschrittsglauben tritt hier das Mythische, das längst vergessen Geglaubte, das Unerklärliche wieder auf und zeigt die trotz aller modernen Entwicklung gefährdete und brüchige Wirklichkeit des menschlichen Lebens.

Wichtige Themen in der Literatur des Realismus sind beispielsweise der zunehmende Konflikt zwischen dem Einzelnen und den bürgerlichen Normen der Mittelschicht, zwischen dem Individuum und den gesellschaftlichen Erwartungen und Beschränkungen. Krisen der Familie und der Ehe im Bürgertum sind Spiegel dieser Entwicklungen, die von den Autoren des Realismus oft aufgegriffen werden. Im Mittelpunkt steht dabei jedoch immer das einzelne Individuum, an dessen psychologisch ausgearbeiteten Beschreibung des Innenlebens die Konflikte sich widerspiegeln. Trotz realistischer Wiedergabe der Wirklichkeit zielt der poetische Realismus daher vor allem auf die Darstellung der inneren und damit subjektiven Wirklichkeit des einzelnen Individuums und allgemein menschlicher Themen im konkreten historischen Rahmen, statt auf konkrete politische Ansätze zur Lösung drängender sozialer Probleme. Hier wird auch die psychologische Komponente des literarischen Realismus sichtbar.

Die wichtigste Gattung im Realismus ist neben dem Roman – dem Gesellschafts- und Entwicklungsroman ebenso wie dem historischen Roman – die Novelle. Dabei berufen sich die realistischen Autoren bei der Definition der literarischen Form der Novelle zwar immer noch auf Goethes Anspruch einer »sich ereignenden unerhörten Begebenheit« (Paulsen, S. 118), die den Kern der Novelle ausmache, doch der poetische Realismus hat mit Paul Heyse auch einen eigenen Theoretiker der Novelle hervorgebracht. Seine »Falkentheorie« wurde prägend für zahlreiche der im Realismus entstandenen Novellen. Danach soll im Mittelpunkt der straffen und geradlinigen aufgebauten Novelle ein »symbolisches Leitmotiv wie [der] Falke [...] in der neunten Geschichte des fünften Tages bei Boccaccio im Decamerone« (Rothmann, S. 203) stehen.
Theodor Storm, der selbst über 50 Novellen verfasste, legte diese Definitionen der Gattung Novelle in seiner Umsetzung etwas freier aus. So schrieb er 1883 in einem Brief an seinen Schriftstellerkollegen Gottfried Keller, »den Boccaccioschen Falken laß ich unbekümmert fliegen und verliere mich romantisch zwischen Wald und Heidekraut vergangener Zeiten« (Hildebrandt, S. 10).
Dabei sah Storm grundsätzlich eine enge Verwandtschaft der Form der Novelle mit der des Dramas gegeben, er bezeichnete die Form der Novelle gar als »Schwester des Dramas«, was später selbst Bestandteil gänger Novellentheorien wurde (Hildebrandt, S. 11). Diese Zuspitzung des stringent komponierten Dramatischen wird auch im »Schimmelreiter« sichtbar.
Bereits mit seiner ersten Novelle, »Immensee« (1850), gelang ihm der Durchbruch, fast alle sind in der weiten Landschaft der windumtosten Nordsee oder der kleinen Küstenstädte dort angesiedelt. »Der Schimmelreiter« als letzte Novelle Storms steht bereits an der Schwelle des Romans, sowohl was ihren Umfang, als auch die innere Entwicklung des Protagonisten und seine inneren und äußeren Konflikte betrifft.

Andere Vertreter und wichtige Werke des poetischen Realismus sind:
Theodor Fontane: »Effi Briest« (1884), »Irrungen und Wirrungen« (1888), »Der Stechlin« (1997).
Gottfried Keller: »Der grüne Heinrich« (1854), »Die Leute von Seldwyla« (1856), »Romeo und Julia auf dem Dorfe« (1856), »Kleider machen Leute« (1874).
Conrad Ferdinand Meyer: »Das Amulett« (1873), »Der Heilige« (1879).
Wilhelm Raabe: »Der Hungerpastor« (1864).
Jeremias Gotthelf: »Uli der Knecht« (1846), »Die schwarze Spinne« (1842).
Gustav Freytag: »Soll und Haben« (1855).
Paul Heyse: »L’Arrabbiata« (1854).

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.