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Der Schimmelreiter

Zitate und Textstellen

  • »Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der alten Frau Senator Feddersen, kund geworden, während ich, an ihren Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, ob von den ›Leipziger‹ oder von ›Pappes Hamburger Lesefrüchten‹«.
    – Ich-Erzähler äußere Rahmenhandlung – S. 9

    Diese Textstelle markiert den Beginn der Novelle und auch den Beginn der äußeren Rahmenhandlung, in den die darauf folgende innere Rahmenhandlung und schließlich die Binnenhandlung eingebettet ist. Sie distanziert das nun Folgende, verweist es zurück in die Vergangenheit von mindestens »einem halben Jahrhundert« und nennt als den Ursprung der Erinnerung, auf der die Novelle basiert, zwei mögliche Zeitschriften. Somit erklärt diese Textstelle auch den Erzählanlass, die Lektüre einer so beeindruckenden Erzählung, dass sie auch nach so langer Zeit nicht vergessen werden konnte.

    Da die Erinnerung jedoch so weit zurückreicht, dass nicht einmal mehr die genaue Quelle der Geschichte benannt werden kann, wird hier auch gleich deutlich, dass der Wahrheitsgehalt des Folgenden nicht belegt werden kann. Der sich hier erinnernde Ich-Erzähler erweist sich also als unzuverlässiger Erzähler.

    Der Verweis auf die im Lehnstuhl sitzende Urgroßmutter erweckt das Bild der mündlich überlieferten, vor allem weiblichen Erzähltradition alter Sagen und Legenden. Sie scheint jedoch zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr bestanden zu haben, denn der Urenkel liest die Geschichte in einer Zeitschrift. Dennoch beglaubigt diese Verankerung das Folgende mit einer so konkreten Lektüresituation auch. Die Eingangsszene weist autobiografische Anteile auf, da es sich bei der erwähnten Urgroßmutter um Storms eigene Urgroßmutter, Elsabe Feddersen aus Husum, handelte. Und auch er las die Geschichte »Der gespenstige Reiter«, die viel später Grundlage des »Schimmelreiter« werden sollte, in einer der genannten Zeitschriften (vgl. Kuhn, S. 175).

  • »Wer war das? Was wollte der? – Und jetzt fiel mir bei, ich hatte keinen Hufschlag, kein Keuchen des Pferdes vernommen; und Roß und Reiter waren doch hart an mir vorbeigefahren!«
    – Ich-Erzähler innere Rahmenhandlung – S. 11

    Der innere Monolog dieser Textstelle gibt die Gedanken des unbekannten Reisenden wieder, der der Ich-Erzähler der inneren Rahmenhandlung ist. Auch seine Erzählung ist, wie beim ersten Ich-Erzähler des äußeren Rahmens, eine schriftlich festgehaltene Erinnerung. Er erzählt hier von seiner unerklärlichen Begegnung mit dem unheimlichen Schimmelreiter auf einem nächtlichen Deich während einer Sturmnacht in Friesland. Wichtige Motive der folgenden Binnenhandlung wie der Deich, die Gefahren durch eine Sturmflut, der Schimmelreiter und auch das Auftauchen des Irrationalen werden hier schon vorweggenommen. Sie verbinden den inneren Rahmen und die Binnenhandlung.

    Die an sich selbst gestellten Fragen und die unerklärlichen Details der Begegnung zeigen die Verunsicherung des Ich-Erzählers auf, der sich selbst und seinen Wahrnehmungen nicht mehr trauen kann. Auch dieser Ich-Erzähler erweist sich damit als unzuverlässig, da er selbst nicht weiß, was wahr ist und was eingebildet. Seine Beobachtung, dass weder der Hufschlag noch ein Keuchen zu hören gewesen seien, lässt sogleich an eine gespensterhafte, irreale Begegnung denken. Dies bewahrheitet sich dann bei seinem späteren Besuch im Wirtshaus, in dem nach seinem Bericht sofort der Ausruf »Der Schimmelreiter« (13) erfolgt.

  • »Gegen diesen streckte der Deichgraf seine Hand: ›Unser Schulmeister‹, sagte er mit erhobener Stimme, ›wird von uns hier Ihnen das am besten erzählen können; freilich nur in seiner Weise und nicht so richtig, wie zu Haus meine alte Wirtschafterin Antje Vollmers es beschaffen würde.‹«
    – Deichgraf in der inneren Rahmenhandlung im Wirtshaus – S. 13

    Mit diesen Worten fordert der Deichgraf in der inneren Rahmenhandlung in der Zeit zwischen 1820 bis 1830 im Wirtshaus den Schulmeister auf, die Geschichte vom Aufstieg und Fall Hauke Haiens zu erzählen. Dies markiert den Beginn der Binnenhandlung mit dem Schulmeister als zumeist auktorialem Er-Erzähler.

    Mit dem Hinweis auf Antje Vollmers, die die Geschichte ganz anders erzählen würde, wird allerdings auch die Glaubwürdigkeit dieses Erzählers und die Authentizität der Fakten seiner Erzählung von Hauke Haien in Frage gestellt. Da seine Lebensgeschichte lange zurückliegt und mündlich tradiert wird, ist sie Veränderungen unterworfen, je nachdem, wer sie wiedergibt. Mit der angesprochenen Wirtschafterin tritt zudem die weibliche Erzähltradition auf, die in der Novelle mehr mit der magischen, dem Irrationalen und dem Aberglauben zugeneigten Weltsicht in Verbindung steht. So sagt auch der Schulmeister selbst »›aber es ist viel Aberglaube dazwischen, und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen‹« (14). »Damit konkurrieren von Beginn an zwei Versionen der Geschichte um die Wahrheit des Erzählten« (Ehlers, 41). Hier wird also das »wie« des Erzählens selbst thematisiert.

  • »Er lag trotz Sturm und Wetter weit draußen am Deich mutterseelenallein; und wenn die Möwen gackerten, wenn die Wasser gegen den Deich tobten und beim Zurückrollen ganze Fetzen von der Grasdecke mit ins Meer hinabrissen, dann hätte man Haukes zorniges Lachen hören können. ›Ihr könnt nichts Rechtes‹, schrie er in den Lärm hinaus, ›sowie die Menschen auch nichts können!‹«
    – Schulmeister als Erzähler der Binnenhandlung – S. 18

    Die Textstelle beschreibt eine Episode aus der Jugend Hauke Haiens. Statt seine Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen, ist er selbst im Herbst, um den Allerheiligentag herum, wenn die Herbststürme toben, alleine auf dem Deich unterwegs, um den Anprall der Wellen am Deich zu beobachten und sich Gedanken um neue, abgeflachte und widerständigere Deichprofile zu machen. Dabei ist er sich der Gefahr, die von den entfesselten Elementen ausgeht, gar nicht bewusst, ja er sucht sie gar und fordert sie heraus.

    Seine Worte zeigen auch die Hybris, die bereits seit seiner Jugend ein Charakterzug Haukes ist. Nicht nur empfindet er sich seinen Mitmenschen an Wissen und Talent überlegen, sein Überlegenheitsgefühl erstreckt sich auch auf die unberechenbaren Kräfte der Natur, auf das Meer, das für die Menschen an der Küste immer als Gefahr, ja als dämonische Kraft verstanden wird, gegen die man sich verteidigen und schützen muss. Während seine Mitmenschen dies beispielsweise mit Ritualen aus einem magische Weltverständnis tun (vgl. das Eingraben eines lebendigen Hundes in einen neugebauten Deich), setzt Hauke hier ganz auf sein rational-technisches Weltverständnis, mit dem er meint, den Kräften der Natur Einhalt gebieten, ja sie bezähmen und sich Untertan machen zu können.

      In Storms Novelle schließen die abergläubischen Küstenbewohner noch an die Tradition der älteren magisch-religiösen Naturdeutung an, während der Held ein Vertreter der neueren Naturauffassung ist. Er stellt sich den Naturgewalten entgegen und entwickelt eigene Handlungsstrategien zu ihrer Eindämmung (Ehlers, S. 78).
  • »Ole Peters lachte. ›Ja, Marten Fedders, das ist nun so bei uns, und davon ist nichts abzukratzen: der alte wurde Deichgraf von seines Vaters, der neue von seines Weibes wegen.‹ Das Gelächter, das jetzt um den Tisch lief, zeigte, welchen Beifall das geprägte Wort gefunden hatte.«
    – Ole Peters / Der Schulmeister – S. 66

    Diese Worte von Ole Peters markieren die erste Verleumdung Hauke Haiens noch während der ersten Jahre seiner Amtszeit als Deichgraf. Und diese Herabsetzung, dass er Deichgraf nicht aufgrund seiner sich bereits von Jugend auf zeigenden großen mathematischen Begabung und technischer Kompetenz geworden sei, sondern nur durch seine Heirat mit Elke und deren Übertragung ihres Besitzes nach dem Tode ihres Vaters auf ihn, verfolgt ihn sein ganzes weiteres Leben. Und sie wird vom ganzen Dorf übernommen und verbreitet.

    Tatsächlich markiert der Aufstieg Hauke Haiens vom Sohn eines Kleinbauern zum Kleinknecht und schließlich zum Deichgrafen einen Wandel in der hierarchisch, ständisch geordneten Gesellschaftsstruktur. Denn bisher war der Titel des Deichgrafen mitsamt dem dazu nötigen Besitz ererbt und ging, wie im Falle des Vaters von Elke, Tede Volkers, vom Vater auf den Sohn über, selbst wenn dieser nicht die Eignung oder Kompetenz dafür aufwies. Hauke jedoch ist Angehöriger einer neuen frühbürgerlichen Generation, die sich den Aufstieg selbst erarbeitet und zeigt, dass dieses dynastische Prinzip überholt ist (vgl. Ehlers, S.72). »Tatsächlich unterbricht der soziale Aufstieg von Hauke die Tradition und signalisiert das Ende des alten Ordungsgefüges« (ebd.). Die Mitglieder der Dorfgemeinschaft jedoch akzeptieren diese sich wandelnde Gesellschaftsstruktur noch nicht und verfolgen Hauke deshalb mit Misstrauen und, im Falle Ole Peters, mit Neid.

    Diese Verunglimpfung durch Ole Peters, auf die Hauke mit großer Wut reagiert (»›Hunde!‹ schrie er, und seine Augen sahen grimmig zur Seite, als wolle er sie peitschen lassen«, 66), ist für Hauke der entscheidende Antrieb, seine schon lange gehegten Pläne des Neubaus eines Deiches mit einem von ihm berechneten, flacheren Profil endlich in Angriff zu nehmen. Mit diesem Lebenswerk will er sich und allen anderen endlich beweisen, dass er rechtmäßig und seiner Kompetenz wegen Deichgraf geworden sei. Aus seiner Sicht ist er sogar vor allen anderen als einziger zu diesem Amt berufen.

      Storm läßt [dabei] keinen Zweifel daran zu, daß man die Deichbaupläne vor allem als eine Folge egoistischen Strebens anzusehen hat, ganz am Rande nur als Tat für die Gemeinschaft, für die er als Deichgraf zu arbeiten hat. (Hildebrandt, S. 59)
  • »›Sie wollen bemerken, lieber Herr‹, unterbrach der Schulmeister seine Erzählung, mich freundlich mit seinen feinen Augen fixierend, ›daß ich das bisher Berichtete während meiner fast vierzigjährigen Wirksamkeit in diesem Kooge aus den Überlieferungen verständiger Leute, oder aus Erzählungen der Enkel und Urenkel solcher zusammengefunden habe; was ich, damit Sie dieses mit dem endlichen Verlauf in Einklang zu bringen vermögen, Ihnen jetzt vorzutragen habe, das war derzeit und ist auch jetzt noch das Geschwätz des ganzen Marschdorfes, sobald nur um Allerheiligen die Spinnräder an zu schnurren fangen.»
    – Schulmeister, innerer Rahmen – S. 73

    Bei diesen Worten des Schulmeisters handelt es sich um die vierte Unterbrechung seiner Erzählung der Geschichte Hauke Haiens. Sie befindet sich in der Mitte der Novelle, kurz vor der Schlüsselepisode der Ereignisse auf Jevershallig, mit dem das Eintreten von Elementen des Unheimlichen und Irrationalen in der Geschichte offenbar wird.

    Auch der Schulmeister teilt seine Erzählung in zwei Teile, indem er hier über die Quellen seiner Erzählung reflektiert. So unterscheidet er zwischen den »Überlieferungen verständiger Leute« (73), womit Menschen gemeint sind, die wie er selbst dem Rationalen anhängen, und sich in der faktenbasierten Erzählweise des ersten Teils der Binnenhandlung widerspiegelt. Dagegen fließen in den nun folgenden zweiten Teil der Lebensgeschichte auch der Aberglaube, die Legendenbildung um Hauke Haiens Wirken und seinen Fall ein, was im weiteren dann zu seiner Rückkehr als Deichgespenst führt, die der Anlass für die Erzählung des Schulmeisters an diesem Abend ist.

    Auch referiert der Schulmeister hier auf die Tradition des weiblich geprägten mündlichen Erzählens, in dem er als Quelle für das »Geschwätz des Marschdorfes« den Aberglauben und die Aspekte des Irreal-Unheimlichen die Spinnstuben an langen, dunklen Winterabenden angibt. »Die Spinnstuben-Erzählung ist das Urbild der oralen Tradition von Literatur; Storms Dichtung ist ihr zutiefst verpflichtet« (Kuhn, S. 193).

  • »Und da, Frau, hab ich dem Burschen in die dargebotne braune Hand, die fast wie eine Klaue aussah, eingeschlagen. So haben wir den Schimmel, und ich denk auch, wohlfeil genug! Wunderlich nur war es, als ich mit den Pferden wegritt, hört ich bald hinter mir ein Lachen, und als ich den Kopf wandte, sah ich den Slovaken; der stand noch sperrbeinig, die Arme auf dem Rücken, und lachte wie ein Teufel hinter mir drein.«
    – Hauke Haien – S. 81

    Mit diesen Worten erzählt Hauke Haien seiner Frau Elke vom Kauf des Schimmels. Die Szene steht direkt nach den unheimlichen Geschehnissen auf Jevershallig und wird mit den Worten eingeleitet: »Nachdem aber der Mond zurückgegangen, und die Nächte dunkel geworden waren, geschah ein Anderes« (78). Schon dies verweist auch das Folgende in die Sphäre des Dunklen, Unheimlichen. Tatsächlich ist es der seltsame Schimmel, der in Verbindung mit den Vorkommnissen auf der Hallig zu Haukes Dämonisierung und damit seiner weiteren Isolierung von der Dorfgemeinschaft beiträgt.

    Er selbst erfährt davon jedoch nichts. Auch ist er der Einzige, dem die Ereignisse rund um den Kauf des Schimmels und das Tier selbst nicht merkwürdig, ja angsteinflößend vorkommen. Während beispielsweise Elke bei seinem Anblick erschrickt, lacht Hauke darüber nur und freut sich über den guten Handel, den er mit dem Pferd gemacht zu haben glaubt.

    Die Szene hat alle Aspekte des traditionellen Teufelspaktes. Darauf verweist das Äußere des Verkäufers, seine klauenhafte Hand, in die Hauke einschlägt, um den Handel zu besiegeln. Auch sein teuflisches Lachen, das er Hauke noch hinterherschickt, als der Handel beschlossen ist, scheint auf eine böse Vorahnung zu verweisen.
    Von nun an gehört der Schimmel zu Hauke, lässt sich nur von ihm reiten und versetzt alle anderen, auch die Arbeiter am neuen Deich, in Angst und Schrecken durch sein ungestümes Verhalten. Sie sind es auch, die ihm das erste Mal den Namen »Schimmelreiter« geben (vgl. 91), der mit ihm von da ab und über seinen Tod hinaus verbunden bleiben wird.

  • »Der Schimmel ging in stolzem Galopp; vor seinen Ohren aber summte es: ›Hauke-Haienkoog! Hauke-Haienkoog!‹ In seinen Gedanken wuchs fast der neue Deich zu einem achten Weltwunder, in ganz Friesland war nichts seines Gleichen! Und er ließ den Schimmel tanzen; ihm war, er stünde inmitten aller Friesen; er überragte sie um Kopfeshöhe, und seine Blicke flogen scharf und mitleidig über sie hin.«
    – Schulmeister als Erzähler der Binnenhandlung – S. 105

    Diese Szene spielt sich kurz nach Fertigstellung des neuen Deiches ab. Hauke Haien reitet über den neuen Deich und ärgert sich darüber, dass der durch die Eindeichung entstandene neue Koog aus fruchtbarem Weideland der neue »›Carolinenkoog‹« (104) , nach einer Prinzessin, benannt worden war und nicht nach ihm, dem man ihn doch eigentlich verdanke. Da hört er hier tätige Arbeiter das erste Mal vom »Hauke-Haienkoog« (ebd.) sprechen. Dies löst diesen Überschwang der Gefühle in ihm aus. Deutlich wird hier die Hybris, die Hauke Haien auszeichnet. Er stellt nicht nur sein Werk über alle, sondern eng damit verbunden auch seine Person. Er sieht sich als allen anderen überlegen und hat nur Verurteilung und Mitleid für sie übrig. Diese vermeintliche Überlegenheit lässt er seine Mitmenschen spüren und sie ist auch ein Grund für seine sozialen Konflikte mit der Dorfgemeinschaft.

    Deutlich wird auch, dass der lange erträumte Deichneubau keineswegs nur ein Werk für die Gemeinschaft, zu ihrem Schutz vor den Sturmfluten und zur Verbesserung ihrer Lebensqualität durch ein neues, dem Meer abgerungenes Stück fruchtbaren Weidelandes ist. Dahinter stehen deutlich egoistische Motive. Hauke will sich und allen anderen mit dem Deich etwas beweisen. Er ist seine Art der Selbstverwirklichung, sein Vermächtnis und Denkmal für seine Größe noch über seine Lebenszeit hinaus, daher ist es ihm auch so wichtig, dass Deich und Koog seinen Namen tragen.

    Letztlich liegt in dieser Hybris, diesem übersteigerten Ehrgeiz auch der Grund für seinen Fall und sein Scheitern, sowohl in sozialer Hinsicht gegenüber seiner Dorfgemeinschaft, als auch existenziell, gegenüber der Natur und den Elementen. »In seiner Selbstüberhöhung entfernt er sich von seiner eigentlichen Aufgabe als Deichgraf, der Allgemeinheit zu dienen, und stellt sich über andere« (Ehlers, S. 70).

  • »Das Kind klammerte sich angstvoll an seinen Vater und deckte dessen Hand über sein Gesichtlein: ›Die Seeteufel!‹ raunte es zitternd zwischen seine Finger; ›die Seeteufel!‹ Er schüttelte den Kopf: ›Nein, Wienke, weder Wasserweiber noch Seeteufel; so etwas gibt es nicht; wer hat dir davon gesagt?‹ Sie sah mit stumpfem Blicke zu ihm herauf; aber sie antwortete nicht. Er strich ihr zärtlich über die Wangen: ›Sieh nur wieder hin!‹ sagte er, ›das sind nur arme hungrige Vögel! Sieh nur, wie jetzt der große seine Flügel breitet; die holen sich die Fische, die in die rauchenden Spalten kommen.‹«
    – Der Schulmeister / Hauke und Wienke – S. 114

    Diese Szene zwischen Hauke und seiner kleinen Tochter Wienke zeigt das innige Verhältnis, das die beiden zueinander haben und spricht von der großen Liebe, die Hauke für die Tochter empfindet. Kurz zuvor fand das viele Jahre aufgeschobene klärende Gespräch zwischen Hauke und Elke statt, in dem sie einander eingestanden haben, was beide schon längst wussten, aber nicht aussprechen konnten; dass ihre Tochter geistig behindert ist und sich nicht wie andere Kinder entwickelt. Hauke ist es in diesen bitteren Momenten, der sofort ausspricht, wie sehr er Wienke trotz dieser Einsicht liebe und dass er ihre Zuneigung um alle Schätze in seinem Leben nicht missen möchte (vgl. 111). Er ruft auch Elke dazu auf, die Tochter weiterhin so zu lieben, wie sie es tue.

    Als er nun am zugefrorenen Wattenmeer mit ihr steht und aus den Rissen im Eis dieselben furchteinflößenden dampfenden Gestalten aufsteigen, die er bereits in seiner Jugend beobachtet hat, zeigt sich ein weiteres Mal die ganz auf das rational-erklärbar ausgerichtete Geisteshaltung Haukes. Schon in seiner Jugend, als er beim Anblick der rauchenden Wesen noch an die »furchtbaren norwegischen Seegespenster« (20) denken musste, hatte er sich davon keine Angst machen lassen: »›Ihr sollt mich nicht vertreiben!‹« (ebd.) hatte er ihnen damals zugerufen. Nun erklärt er Wienke, dass das, was sie für Seeteufel hält, »arme hungrige Vögel« (114) seien. Es gäbe weder Seeteufel noch Wasserweiber. Dies ist ein Hinweis auf Trien’ Jans, die ganz in der magisch-vormodernen, abergläubischen Welt lebt und Wienke die Legende vom Wasserweib erzählt hat. Im Gegensatz zu ihr ist »[Hauke] in seinem rationalen Weltbild [...] der Aufklärung verpflichtet. Er steht für eine Weltsicht, die sich gegenüber Bereichen abschottet, die nicht den Prinzipien von Vernunft und rationaler Erklärbarkeit folgen« (Ehlers, S. 78).

  • »›Aber unser Schulmeister hat Ihnen wohl schön was weis gemacht; er gehört zu den Aufklärern!‹ – ›Er scheint ein verständiger Mann!‹ ›Ja, ja, gewiß; aber Sie können Ihren eigenen Augen doch nicht mißtrauen und drüben an der anderen Seite, ich sagte es ja voraus, ist der Deich gebrochen!‹«
    – Deichgraf und Ich-Erzähler des inneren Rahmens – S. 136

    Dieser Dialog zwischen dem Deichgraf und dem Ich-Erzähler der inneren Rahmenhandlung steht am Ende des inneren Rahmens, nachdem der Schulmeister die Lebensgeschichte Hauke Haiens mit dessen tragischem Tod beendet hat.
    Der Deichgraf betont damit noch einmal, dass die Wiedergabe der Geschichte sich verändert, je nachdem, wer sie erzählt. Indem er den Schulmeister aus »Aufklärer« bezeichnet, stellt er klar, dass er daher die Geschichte Hauke Haiens eher aus einer ähnlich rational-aufgeklärten Weltsicht erzählt hat, wie sie dem Protagonisten eigen war. Damit hat er dem unbekannten Reisenden also »weisgemacht«, dass alles Unerklärliche und Unheimliche an der Geschichte nicht existieren würde.

    Da der Reisende selbst aber den Schimmelreiter, also Hauke Haien als Deichgespenst gesehen und damit den Bericht des Schulmeisters erst angestoßen hat, verweist er ihn darauf, doch den eigenen Augen zu trauen. Der Schimmelreiter erscheint der Legende nach dann als Wiedergänger auf dem Deich, wenn Gefahr droht. Daher war sein Auftauchen ein Hinweis darauf, dass in dieser Sturmnacht der Deich brechen könnte. Daher sagt der Deichgraf auch, nachdem die Berichterstatter auf dem Deich mit der Nachricht vom erneuten Auftauchen des Reiters ins Wirtshaus gekommen sind: »›Wir müssen draußen nachsehn, wo das Unheil hin will!‹« (56) »Der Deichgraf schlägt sich auf die Seite des Augenscheins. Der zentrale Konflikt der Erzählung und der Auslöser der Katastrophe – Haiens ›Verblendung‹ angesichts des Schadens im Deich – werden damit noch einmal thematisiert« (Kuhn, S.199).

Veröffentlicht am 24. Januar 2024. Zuletzt aktualisiert am 24. Januar 2024.