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Der Schimmelreiter

Binnenhandlung – 2. Teil: Jugend von Hauke Hauke Haien – Die Deiche (S. 16-21)

Zusammenfassung

In seiner Jugendzeit schickt der Vater den Sohn Hauke auf den Deich, wo er von Ostern bis Herbst mit Deichbauarbeiten beschäftigt ist. Der Vater möchte ihn durch die harte körperliche Arbeit von seinen Studien abbringen und ihn so auf die Arbeit als Kleinbauer vorbereiten.

Doch Hauke setzt seine Studien dennoch fort, hat sein Buch des Euklid auch bei den Arbeiten am Deich mit dabei und stellt vor Ort Berechnungen und Überlegungen dazu an, wie ein sicherer Deich nach modernen Berechnungen gebaut sein müsste. Er sitzt dazu stundenlang bei jedem Wetter auf dem Deich und beobachtet, wie die Wellen auf dem Deich aufschlagen. Er hat dabei kein Auge für die Natur um sich herum, sondern ist ganz in Gedanken und Berechnungen vertieft. So wird ihm schon in jungen Jahren klar, dass die nach traditionellem Muster gebauten Deiche zu steil sind und daher den Sturmfluten nicht standhalten können. Er stellt seinem Vater gegenüber diese alte Bauweise der Deiche in Frage und kündigt ihm bereits an, dass die Deiche anders werden müssten. Der Vater fühlt sich dadurch provoziert und überfordert, doch Hauke antwortet ihm nur, dass er dereinst als zukünftiger Deichgraf für eine veränderte Bauweise der Deiche sorgen wolle. In kleinen Modellen aus Kleierde knetet er Deichmodelle mit dem neuen, abgeflachten Profil, das langhaltende Deiche seiner Meinung nach haben müssten.

Auch bei den Unwettern und Springfluten im Herbst, um den Allerheiligentag herum, bleibt Hauke lieber alleine auf dem Deich, statt im Haus. Dabei stellt er sowohl das Können aller seiner Mitmenschen als auch die Kräfte der Natur in Frage, wenn er in die aufgewühlten Wellen ruft: »Ihr könnt nichts Rechtes [...] sowie die Menschen auch nichts können« (18). Von Gleichaltrigen sondert Hauke sich ab und wird von diesen als Außenseiter betrachtet.

Im Winter werden auf dem gefrorenen Wattenmeer im offenen Haff vom Meer angetriebene Leichen gefunden, die den Dorfbewohnern wie »Seeteufel« erscheinen und sie erschrecken. Hauke zeigt zwar keine Reaktion, ist jedoch insgeheim von den Erzählungen einer Frau aus dem Dorf, die die Leichen gesehen hat, fasziniert. Auch die »Seegespenster« (20), die er an Winterabenden als Rauchwolken aus den Rissen im gefrorenen Watt aufsteigen sieht und für die Geister der Ertrunkenen hält, ziehen ihn zwar an, lassen ihn aber dennoch unbeeindruckt. Auch von ihnen will er sich nicht vertreiben lassen und will ihnen widerstehen. Viel später erklärt er seiner kleinen Tochter, dass es sich bei den unheimlichen Gestalten nur um Krähen handeln würde, die auf der Jagd nach Fischen seien.

In der zweiten Unterbrechung der Erzählung unterstreicht der Schulmeister die Klugheit des späteren Deichgrafen Hauke Haien, der sich nicht von Spukgestalten hat beeindrucken lassen. Gleichzeitig hat sowohl der Reisende als auch der im Wirtshaus anwesende Deichgraf den Eindruck, dass wieder ein hagerer Reiter auf einem Schimmel am Fenster vorbeigehuscht sei.

Analyse

In seiner Jugend sind schon deutlich jene Wesenszüge bei Hauke zu beobachten, die sein späteres Wirken als Deichgraf prägen werden, ebenso seine Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen und den Elementen.

Er ist ein Einzelgänger, der bewusst die Einsamkeit in der Natur, draußen am Deich und am Meer, sucht. Allerdings hat er dabei kein Auge für die Schönheit oder Einzigartigkeit der ihn umgebenden Natur. Er nimmt alles mit seinem analytischen Verstand und wie durch die Brille seines Euklid wahr, den er immer und überall dabei hat. »Er hörte weder das Klatschen des Wassers noch das Geschrei der Möwen und Strandvögel, die um ihn flogen [...]; er sah auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde Wasserwüste sich die Nacht ausbreitete« (16/17). Sein Blick auf die Natur ist rein rational und so nimmt er schon jetzt wahr, dass die Wasserseite des Deiches zu steil ist, die Wellen daher zu hart aufschlagen und den Deich so leicht beschädigen und er bei einer Sturmflut nicht standhalten würde. Schon jetzt hat er andere Deichprofile mit einem »sanfteren Abfall« vor Augen und wirft seinem Vater vor: »›unsere Deiche sind nichts wert!‹« (17)

Sprachlich zeigt sich in dieser Passage die große rhythmische Kraft der Sprache Storms, der mit vielen Alliterationen das atmosphärisch dichte Bild des bedrohlichen, aufgewühlten nächtlichen Meeres zeichnet. Hier sind Anklänge an den Lyriker Storm zu sehen, die Gattung, die er als sein eigentliches Hauptwerk verstand. Auch zeigt sich, dass Storm bewusst auch zu seiner Zeit schon veraltete Ausdrücke verwendete, um die zeitliche Distanzierung der Geschichte in das 18. Jahrhundert überzeugend zu gestalten. So ist das Wort »ingleichen« (16) statt »ebenso« auch zu Storms Zeit nicht mehr üblich und klingt altertümlich (vgl. Kuhn, S. 180). »Man kann davon sprechen, daß Storm eine archaisierende, altertümelnde Stiltendenz hatte« (Hildebrandt, S. 37).

Bei den motivischen Bezügen im Text fällt auf, dass sie häufig über Vorausdeutungen miteinander verbunden sind. So schwingt im Vorwurf des Vaters an den Sohn, der auch spät abends und bei Sturm noch auf dem Deich geblieben ist: »›Was treibst du draußen? Du hättest ja versaufen können‹« (17) und auf seine Reaktion auf Haukes Antwort, er sei ja nicht »versoffen«: »›Nein‹, erwiderte nach einer Weile der Alte und sah ihm wie abwesend ins Gesicht, – ›diesmal noch nicht‹« (ebd.) bereits eine Vorausdeutung auf Hakes späteren Tod in der Sturmflut mit. Ebenso in der Andeutung, dass er die Äquinoktialstürme um den Allerheiligentag erwartete, »wie heut die Kinder das Christfest« (18); diese ironische Brechung verweist auf Haukes Tod in eben einer der Sturmfluten um den Allerheiligentag.
Die häufige Nennung von religiös konnotierten Zeitangaben im Text wie »Martini« (18, der Tag des heiligen Martin am 11. November) und den »Allerheiligentag« (1. November) ist nicht nur wegen ihrer Verbindung mit den großen Sturmfluten im Herbst wichtig, sondern auch in Bezug auf das Erzählen; »das Datum [markiert] den Beginn der Arbeit bei künstlichem Licht, so in den Spinnstuben [...]; es begann die Jahreszeit des Märchen- und Geschichtenerzählens, die Zeit also der ›mündlichen Überlieferung‹« (Kuhn, S. 180).

Neben seiner mathematischen Begabung werden zwei weitere prägende Wesenszüge bei Hauke erkennbar. Dies ist zum einen sein Ehrgeiz, mit dem er weit nach oben strebt und den sozialen Aufstieg bis zum Deichgraf schaffen will. Auf die eigentlich ironische Bemerkung des Vaters, er könne ja einst als Deichgraf alles besser machen, antwortet der Sohn nur mit einem bestätigenden »›Ja, Vater!‹« (18). Zum anderen ist es ein Gefühl der Überlegenheit, der Hybris, die er allen seinen Mitmenschen und selbst den entfesselten Kräften der Elemente, in diesem Fall dem stürmischen Meer, gegenüber, empfindet. Dies zeigt sich, als er bei einem Sturm »mutterseelenallein« am Deich steht und mit »zornige[m] Lachen in die Wellen schreit: »›Ihr könnt nichts Rechtes‹, schrie er in den Lärm hinaus, ›sowie die Menschen auch nichts können!‹« (ebd.). Für Hauke ist die Natur eine bedrohliche Kraft, die er bezähmen und mit rationalem, technischem Wissen bekämpfen muss:

    In seiner kämpferischen und herausfordernden Art verkörpert der Held den sich neu entwickelnden Typus des autonomen, auf sich selbst setzenden Individuums, das sich der Natur mit seinem Wissen entgegenstellt (Ehlers, S. 76).

In der Episode mit den im Februar angetriebenen, vom Meer verunstalteten Leichen, zeigt sich die die Novelle durchziehende Verbindung von Meer und Tod. Zudem tritt hier auch schon die Farbe Weiß auf, die ebenfalls symbolisch für den Tod steht: »Es war, als liege die ganze Welt in weißem Tod« (19). Dies zeigt sich dann später an den weißen Tieren – dem Angorakater, dem Schimmel und der Möwe –, die alle mit dem Tod in Verbindung stehen und zum Teil dämonisiert werden. Haukes Reaktion zeigt kein Erschrecken, vielmehr wissenschaftliche Neugier.

Ähnliches zeigt sich, als Hauke aus den Rissen im gefrorenen Watt unheimliche Nebelgestalten auftauchen sieht, die ihn an die »furchtbaren norwegischen Seegespenster« (20) denken lassen. Auch ihnen widersteht er, empfindet keine Furcht und lässt sich nicht vertreiben. Es zeigt sich hier schon, dass er für den Aberglauben, die Sagen und Mythen, mit denen seine Mitmenschen den unerklärlichen oder bedrohlichen Seiten der Natur begegnen, kein Empfinden hat und seine Beziehung zur Natur rein analytischer Art, sein Umgang mit ihr kämpferisch ist. Hier ist das Unheimliche das erste Mal in der Binnenhandlung aufgetreten, doch Hauke reagiert mit Skepsis und Nüchternheit. Diese Szene spiegelt eine fast identische Szene am gefrorenen Watt, in der Hauke später diese Naturphänomene ebenso analytisch seiner kleinen, sich fürchtenden Tochter Wienke erklärt (vgl. 114).

In der folgenden zweiten Unterbrechung der Erzählung des Schulmeisters stoßen auch in der Rahmenhandlung das Unheimliche und der Aberglaube auf den Willen zur rationalen-analytischen Weltsicht, die der Schulmeister vertritt. Während der Reisende wieder den Eindruck hat: »mir war es, als hätte ich den hageren Reiter auf seinem Schimmel vorbeisausen gesehen« (21), versucht der Schulmeister die sich erschreckenden Anwesenden zu beruhigen. Auch verteidigt er Hauke: »Der Hauke war weder ein Narr noch ein Dummkopf« (ebd.) und positioniert sich damit eindeutig auf Seiten des nüchternen Rationalisten und gegen den Aberglauben.

Veröffentlicht am 30. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2023.