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Auerhaus

Entstehung und Quellen

Der Autor Bjerg stellt seinem Roman »Auerhaus«, der im Jahr 2015 veröffentlicht wurde,  folgenden Vorspruch voran: »Alle Personen sind erfunden, alle Handlungen verjährt.« (S. 5)          Damit gibt er den Lesenden einen ersten Hinweis, dass die Geschichte in der Zeit schon weit zurückliegt.

Die Handlung des Romans ist in den zeitgeschichtlichen Hintergrund der 80er-Jahre eingebettet, der jedoch vom Autor nicht explizit thematisiert und ausgeweitet wird. Durch spezifische Begriffe, kurze Anspielungen oder kleine Episoden, die aus dieser Zeit stammen, gelingt es ihm, den Lesenden schnell zu vermitteln, um welche Zeit es sich handelt.

Deutschland hatte seit Anfang der 70er-Jahre mit dem Linksterrorismus zu kämpfen. Zur ersten Generation der »Rote Armee Fraktion« (RAF) gehörten Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die zu den zentralen Drahtziehern der Vereinigung zählten. Sie hielten das Land mit Banküberfällen, Bomben- und Mordanschlägen gegen führende Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft in Atem. Im Roman findet sich eine Anspielung auf die beiden führenden Köpfe der RAF (S. 213 f.). 

Zur Verfolgung der Terroristen wurden überall im Land Fahndungsplakate mit den Mitgliedern der Vereinigung aufgehängt. Im »Auerhaus« findet sich ein solches Plakat in der Küche über der Spüle. Die Jugendlichen haben es allerdings zweckentfremdet, indem sie die Gesichter der Terroristen mit ihren eigenen Fotos oder mit Fotos schon verstorbener Prominenter überklebt haben (S. 176).

Ein weiteres gesellschaftspolitisches Thema war der rasante Aufstieg einer neuen Partei »Die Grünen«. Mit der Bundestagswahl kam Helmut Kohl als Bundeskanzler an die Macht. Gleichzeitig zogen am 6. März 1983 zum ersten Mal »Die Grünen« in den Deutschen Bundestag ein und brachten mit ihren Thematiken der Ökologie und Umwelt frischen Wind in die politische Landschaft. 

Besonders auf dem Land bildeten sich zahlreiche Wohngemeinschaften, deren Mitglieder »Ökos« genannt wurden, da sie sich besonders in der Umweltpolitik engagierten. Im Roman findet sich ein Hinweis auf die ökologische Thematik, denn Harry hat sich einen Cadillac Eldorado gekauft, der besonders viel Benzin verbraucht. Die Jugendlichen nennen das Auto aus diesem Grund »Gluckgluck« und machen sich dabei über die »Ökos« lustig (S.133).  

In den 70er-Jahren stand die Chancengleichheit in der Bildung stark im Fokus der öffentlichen Diskussionen. Es kam in diesem Bereich zu zahlreichen Reformen, denn insbesondere Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien sollte der Zugang zu Bildung erleichtert werden. Die Mädchen profitierten jedoch am meisten vom Prozess der Chancengleichheit. Sie drängten jetzt verstärkt in die weiterführenden Schulen, sodass bereits Ende der 70er-Jahre diesbezüglich ein Anstieg der Abiturientenquoten verzeichnet werden konnte. 

Auch diese Thematik findet sich im Roman wieder, denn die Hauptprotagonisten Höppner und Frieder kommen aus einer sozialen Unterschicht. Frieders Eltern sind Bauern, und Höppners Mutter ist Verkäuferin in einem Supermarkt. Diese beiden sind die Ersten aus ihren Familien, die das Abitur machen können. 

Dass sie durch ihren sozialen Status jedoch immer noch benachteiligt sind, wird allein durch den Namen des Gymnasiums deutlich, welches sie besuchen. Es heißt nämlich »Gymnasium Am Stadtrand« und wird nur von Schülerinnen und Schülern aus den umliegenden Dörfern besucht. Des Weiteren werden alle Lehrenden, die sich an den guten Gymnasien etwas zuschulden haben kommen lassen, an diese Schule zwangsversetzt. (S. 36).

Die Lesben- und Schwulenbewegung trat in den 80er-Jahren in der Öffentlichkeit in den Vordergrund, was sich besonders in den Großstädten wie Berlin und Köln durch die Gründung zahlreicher Organisationen und Vereine bemerkbar machte. Mit der Figur Harry, der wegen seines Coming-outs von seinem Vater mit Prügel und einem Rausschmiss aus dem Elternhaus bestraft wird, gelingt es dem Autor, den Lesenden die damalige gesellschaftliche Atmosphäre bezüglich dieser Thematik authentisch zu vermitteln (S.110 f.).

In Bezug auf die Kommunikation steckte die Technik in den 80er-Jahren im Vergleich zur heutigen Zeit noch in den Kinderschuhen. Die junge Generation war noch nicht im Besitz eines Computers mit Internetanschluss, eines Fernsehers oder eines Smartphones. Außer einem Kassettenrecorder haben die Jugendlichen im Auerhaus keine technischen Geräte. Wollen sie beispielsweise telefonieren, müssen sie zur Telefonzelle gehen, die direkt vor dem Auerhaus steht (S. 66). Aus diesem Grund hat die direkte Kommunikation im Roman eine hohe Bedeutung. An mehreren Stellen wird betont, wie wichtig den Jugendlichen das gemeinsame Gespräch ist. Es gehört für sie zu einem »richtigen Leben« dazu (S. 61).

In den 80er-Jahren waren Männer ab ihrer Volljährigkeit noch verpflichtet, einen Wehrdienst bei der Bundeswehr abzuleisten. Wer aus Gewissensgründen den Dienst mit der Waffe verweigerte, konnte nach einer bestandenen mündlichen Gewissensprüfung vor einer Kommission vom Wehrdienst befreit werden. 1983 wurde diese Prüfung abgeschafft. Es war nun möglich, eine ausführliche, schriftliche Begründung über die Gründe der Verweigerung einzureichen.

Als Wehrdienstersatz war ein sogenannter Zivildienst zu leisten, der am häufigsten in sozialen Einrichtungen verrichtet wurde. Zudem bestand noch die Möglichkeit, seinen Wohnort nach West-Berlin zu verlegen, um nicht zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Berlin stand nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis 1990 unter dem Viermächte-Status, das heißt, die Verwaltung Berlins lag in den Händen der vier Siegermächte. Aus diesem Grund unterlagen Männer mit Wohnsitz in West-Berlin nicht der Wehrpflicht.

Im Roman wird an zahlreichen Stellen anhand der Problematik des Ich-Erzählers auf diese Situation hingewiesen. Höppner schildert den möglichen Ablauf einer Gewissensprüfung (S. 134 f.). Des Weiteren berichtet er ausführlich von seiner Musterung im Kreiswehrersatzamt (S. 151 f.). Später zieht er nach West-Berlin, um dem Wehrdienst zu entkommen.

Der Roman »Auerhaus« kann der Gattung der Gegenwartsliteratur zugeordnet werden, unter der jede Art von Literatur, die ab 1990 in Deutschland entstanden ist, zusammengefasst wird. Es handelt sich somit nicht um eine spezifische Epoche, sondern es ist eher der zeitliche Rahmen, der hier für eine entsprechende Zuordnung dient. In den Romanen der Gegenwart finden sich daher unterschiedlichste Themen und Motive. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoller, anhand des behandelten Sujets eine entsprechende Einordnung vorzunehmen.

Der Autor steht mit seiner gewählten Thematik im Roman »Auerhaus« in der Tradition des Adoleszenzromans, denn es geht im weitesten Sinne um die Entwicklung von Heranwachsenden vom Kindes- und Jugendalter hinein in das Erwachsenwerden. Der Begriff Adoleszenz kommt aus dem Lateinischen, und das Verb »adolescere« bedeutet übersetzt »heranwachsen«. 

Kennzeichen dieser Literatur ist die Beschreibung einer spezifischen Lebensphase von Heranwachsenden, die sich in einem Spannungsfeld zwischen individueller Selbstentfaltung und den gesetzten gesellschaftlichen Normen befinden, in dem sie sich behaupten müssen. Themen wie die Selbstfindung, die Abgrenzung zur älteren Generation, der Suizid, das Infragestellen gesellschaftlicher Normen, Liebe und Sexualität, Fragen zur beruflichen Zukunft sowie zur Sinnhaftigkeit des Lebens stehen hier im Mittelpunkt.

Es gibt in der Geschichte »Auerhaus« thematisch zahlreiche Parallelen zum sehr erfolgreichen Roman »Tschick« (2010) von Wolfgang Herrndorf. Mit den genannten Themen reiht sich das Werk »Auerhaus« jedoch auch in die Tradition der frühen Adoleszenzromane ein, die Anfang der vorletzten Jahrhundertwende entstanden sind, wie »Frühlings Erwachen« (1891) von Franz Wedekind, »Freund Hein« (1902) von Emil Strauß und »Unterm Rad« (1906) von Hermann Hesse. 

Veröffentlicht am 10. Februar 2023. Zuletzt aktualisiert am 10. Februar 2023.