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Auerhaus

Interpretationssätze

  1.   Das »Auerhaus« – ein paradiesischer Ort auf Zeit

Beim »Auerhaus« handelt es sich um ein altes Bauernhaus, das sich mitten in einem kleinen Dorf auf der schwäbischen Alb befindet. Das Obergeschoss besteht aus ein paar Zimmern ohne Möbel, einer Küche mit einem Holzherd und einem Badezimmer ohne Boiler. Des Weiteren gibt es noch einen Raum ohne Fenster, den die Jugendlichen später »Darkroom« taufen. Im Erdgeschoss befinden sich die ehemalige Wasch- und Schlachteküche sowie ein kleiner Kuhstall mit einem Heuboden darüber. 

Das Haus hat keinen technischen Komfort, wie Telefon, Fernseher oder Warmwasserheizung. Zum Telefonieren müssen die Jugendlichen die Telefonzelle nutzen, die draußen vor dem Haus steht. Möchten sie baden, muss das Wasser in großen Kesseln in der Küche heiß gemacht werden.

Auch wenn dieses baufällige Gebäude auf den ersten Blick nicht gerade ideale Rahmenbedingungen zum Wohnen bietet, besitzt es für die sechs Jugendlichen alles, was sie für die Umsetzung ihres Traums vom richtigen Leben brauchen. Denn es bietet ihnen die Möglichkeit, sich ohne Einmischung von außen einen Raum zu schaffen, in dem sie selbst gestalten, handeln, denken, entscheiden und leben können. 

Im Roman ist es ein realer Ort, an dem zentrale Handlungen und Aktionen stattfinden. Darüber hinaus kann er übergeordnet auch als ein Symbol betrachtet werden, nämlich für eine Lebensphase der Jugendlichen, die sich im Übergang zwischen Schule und Beruf befinden. Da die Schule zu Ende geht, die Zukunft noch ungewiss ist und auch das Erwachsenwerden seine Probleme mit sich bringt, ist es für diesen Zeitraum bezeichnend, dass er mit viel Unsicherheit und Angst besetzt ist.

Hier ist es nur verständlich, wenn der Wunsch nach einem Sehnsuchtsort entsteht, wo man ungestört und ohne den ständigen Druck der Erwachsenen nach seinen eigenen Regeln schalten und walten kann. 

Die sechs Jugendlichen im Roman haben das Glück, in dieser Phase an genau einem solchen Ort leben zu können, an dem sie Erfahrungen sammeln und ein solidarisches, selbstbestimmtes Leben erproben können. Das alte Gebäude wird zu einer Art paradiesischer Insel, denn hier kann die unangenehme Außenwelt der Erwachsenen ausgeschaltet werden. Das Leben funktioniert nun nach eigenen Regeln und nicht nach dem vorgegebenen Muster »birth, school, work, death«. 

Dadurch dass der Ich-Erzähler die Orte außerhalb dieser Insel – das eigene Elternhaus, die Schule mit ihren Lehrern, die Kleinstadt mit ihrer hässlich gestalteten Fußgängerzone, die Psychiatrie und die Gaststätte »Zum Ochsen« – als durchweg negativ wahrnimmt und beschreibt, wird der paradiesische Charakter des »Auerhauses« nochmals hervorgehoben und verstärkt.   

Mit viel Enthusiasmus fangen die Jugendlichen an, sich das Haus nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Dabei sind die Farben, die sie zum Streichen nutzen, ein weiterer Ausdruck dafür, wie sehr sie sich einen Ort wünschen, an dem ein leichtes und unbeschwertes Lebensgefühl vorherrscht. Im Gegensatz zur tristen, grauen Welt soll ihr Leben bunt und farbig sein. Ein alter Briefkasten wird rosa angemalt. Die Zimmer werden orange gestrichen. Frieder streicht sein Zimmer in Blau und Weiß, den Farben Griechenlands, weil er eine Vorliebe für die Insel Kreta entwickelt hat.

Die Jugendlichen lassen ihren Sehnsuchtsort real werden und leben dort eine Zeit der Solidarität und Gemeinschaft. Am ersten Abend sitzen sie zusammen am Küchentisch und hören den Song »Our house«. Bauer Seidel, der kein Englisch kann, kommt hinzu und versteht nur »Auerhaus«. Der Name des Hauses ist geboren. Fortan fahren die Jugendlichen gemeinsam mit dem Rad zur Schule, treiben Sport oder sitzen abends zusammen am Küchentisch, um zu essen und miteinander zu reden.

In der weihnachtlichen Atmosphäre, in der sie zusammen Plätzchen backen, breiten sich Gefühle von Wärme und Geborgenheit aus. An Heiligabend stellt Höppner sogar fest, dass seine Herkunftsfamilie nicht mehr sein Zuhause ist: »Am 24. Dezember war ich zuhause. Das heißt, ich war bei meiner Familie. Zuhause war ich eigentlich im Auerhaus. Aber das verstanden bloß die, die auch im Auerhaus zuhause waren.« (S. 99)

Auch Frieder erlebt in dieser Zeit ein Gefühl des Glücks, das er in sein Tagebuch schreibt. Frieders Vater hat seine Eintragungen nach seinem Tod gelesen und teilt auf der Beerdigung allen Anwesenden mit: »[…] die Zeit im Auerhaus, das ist seine schönste Zeit gewesen. Das hat er in das Buch geschrieben.« (S. 231 f.)

Das »Auerhaus« schafft Raum für Begegnung und Austausch, denn die Haustür steht immer und für alle offen. Eine besondere Form der Kommunikation entwickelt sich in dieser Zeit: Wenn gerade keine Person im Haus ist, werden von den Besuchenden Zettel mit kurzen Nachrichten hinterlassen. Diese Notizen sammelt der Ich-Erzähler Höppner sorgfältig und heftet sie in einen Ordner mit Namen »Das Gedächtnis der Menschheit« ab, damit er sich später erinnern kann, wer alles im Haus ein- und ausgegangen ist.

Die Party, die die Jugendlichen an Silvester im »Auerhaus« veranstalten, setzt ein weiteres Zeichen für Offenheit und Toleranz. Denn es werden »die komplette Oberstufe«, »die halbe Psychiatrie« und »alle Schwulen zwischen München und Paris« eingeladen (S.118). Es findet keinerlei Ab- oder Ausgrenzung von einzelnen Personen oder Gruppen statt, im Gegenteil, Frieder bemüht sich sogar, die diversen Gruppierungen miteinander in Kontakt zu bringen.    

Höppner ist sich bewusst, dass diese Zeit nicht ewig andauert und hat Ängste, dass es schneller vorbei sein könnte als gedacht. Ihm ist klar, was ihm dieses neue Zuhause bedeutet und wie wertvoll es ihm ist. Er will es auf keinen Fall verlieren. Aus diesem Grund ärgert er sich sehr über Frieder, dem es egal zu sein scheint, dass er mit seinen illegalen Aktionen, wie Ladendiebstahl, die Existenz dieses Ortes für alle aufs Spiel setzt. Denn Frieder äußert: »Wenn meine Eltern das mitkriegen, schmeißen sie uns raus. Ein Dieb ist für die schlimmer als ein Selbstmörder.« (S.87 f.)

Höppner kann nicht verstehen, dass Frieder diese Gelassenheit an den Tag legt und erklärt es sich folgendermaßen: »Es ärgerte mich, dass er das so gelassen sagte. Als ob ein Rausschmiss für ihn gar nicht so schlimm wäre, weil er ja eine Alternative hatte. Sogar zwei: Suizid oder zurück in die Klapse.« (S. 88) Höppner wird sich seiner eigenen misslichen Lage bewusst, denn er hätte nur seine Herkunftsfamilie, in die er zurückgehen könnte, was er aber auf keinen Fall möchte.

Mit der Stürmung durch eine Polizeieinheit verliert das »Auerhaus« seinen paradiesischen Charakter. Die Außenwelt bricht sozusagen gewaltsam in das Idyll ein und »in zehn Sekunden« (S. 172) steht die Realität in Form von Polizisten im Raum, die mit Gewehren im Anschlag brüllen: »Hinlegen! Hände über den Kopf!« (S. 183) Hintergrund ist der Drogenhandel und -besitz, der von Harry seit einiger Zeit betrieben wird. 

Von diesem Ereignis ausgehend bekommt die Gemeinschaft des »Auerhauses« immer mehr Risse. Nach einer nächtlichen Aktion Frieders, die eine Verfolgungsjagd und eine Schießerei der Polizei zur Folge hat, wird dem Ich-Erzähler Höppner immer klarer, dass die Tage mit seiner Ersatzfamilie im »Auerhaus« nun gezählt sind. Die Unbeschwertheit ist vorbei, und die Kommunikation untereinander ist vollständig zusammengebrochen. Der einstmals paradiesische Ort hat nun endgültig seinen Glanz verloren. Wenige Zeit später löst er sich ganz auf und ist von da an nur noch Geschichte.   

  1. Füreinander da sein – Höppners Beziehung zu Frieder

Höppner und Frieder kennen sich schon seit der fünften Klasse. Als Frieder den Namen »F2M2«, den er für seinen Stiefvater erfunden hat, übernimmt, empfindet Höppner es als einen Akt der Solidarität. Von nun an ist der Freund für ihn wie ein Bruder: »Ich hatte bloß zwei Schwestern, aber wenn Frieder den Freund meiner Mutter auch F2M2 nannte, war das ein bisschen so, als ob ich noch einen Bruder hätte.« (S. 11)

Höppner bewundert seinen Freund für seine Klugheit und Intelligenz, denn er »konnte sogar das blödeste Physikzeug so erklären, dass sogar ich es verstand« (S. 29). In Höppners Vision, in der er die zukünftigen Lebenswege seiner Mitbewohnerinnen und Mitbewohner des »Auerhauses« beschreibt, sieht er ihn sogar als Professor und Anwärter für den Physik-Nobelpreis. In der Realität nennt er Frieder jedoch des Öfteren scherzhaft einen »Bauern«, so wie alle anderen, da er seinem Vater im Kuhstall helfen muss und er dadurch den Stallgeruch mit sich trägt: »Außer den Lehrern nannte ihn niemand beim Namen. Alle nannten ihn bloß ›der Bauer‹.« (S. 27) 

Als er von Frieders Suizidversuch erfährt, hört er damit jedoch auf, weil er sich fragt: »War das ein Grund, sich umzubringen?« (S. 27) Hier wird zum ersten Mal deutlich, wie sehr ihn die Tat seines Freundes mitgenommen und verunsichert hat. Als er ihn in der Psychiatrie besucht, weiß er nicht, was er mit ihm reden soll und traut sich auch nicht, ihn nach dem Grund seines Selbstmordversuchs zu fragen.

Ihre Beziehung ist damit in ein Ungleichgewicht geraten, und was früher im Umgang miteinander selbstverständlich war, hat jetzt möglicherweise eine andere Bedeutung angenommen. Höppners Handlungen und Aktionen sind von nun an weitestgehend auf den Freund ausgerichtet, denn er ist bestrebt, im Umgang mit ihm alles richtig zu machen, damit er die Tat nicht noch einmal wiederholt. Sein Freund braucht Hilfe, und er will sie ihm geben.

Bei ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang durch den Klinikpark äußert Frieder die Bitte, in die Stadt zu gehen. Höppner zeigt sich von der Situation völlig überfordert, denn er hat Angst, dem Freund könne etwas passieren. Die Angstzustände gipfeln in einer Panikattacke: »Ich bekam Panik. Die Panik explodierte in der Mitte meines Körpers und schoss mir durch die Adern bis in die Zehen und in die Ohren.« (S. 42) 

Höppner unterdrückt seine Gefühle und folgt Frieder, der sich schon auf den Weg in die Stadt gemacht hat. Er stellt den Freund nicht zur Rede: »Aber ich traute mich nicht, ihn zu beschimpfen.« (S. 44) So kann Höppner letztendlich auch die Bitte Frieders, mit ihm zusammen im Haus seines schon gestorbenen Großvaters zu leben, nicht ablehnen: »Frieder hatte mir vorgeschlagen, mit ihm zusammenzuziehen. Es war unmöglich, das abzulehnen.« (S. 53)

In der Wohngemeinschaft »Auerhaus« verschärft sich diese Problematik. Auch wenn jetzt mehrere Personen für den Freund Verantwortung tragen, ist es doch hauptsächlich Höppner, der bestrebt ist, den Freund mit Gesprächsangeboten immer wieder in der Realität zu halten. Hier wird die Kommunikation als Mittel gegen Frieders Depressionen eingesetzt. Wenn der Freund ihn zu einem Gespräch auffordert, lässt Frieder sich zwar darauf ein, er selbst macht aber nie den ersten Schritt. Er überlässt meist Höppner den aktiven Part.

Die nächtlichen Gespräche, die sie miteinander führen, ermüden Höppner oftmals, weil sie sich im Kreis drehen und zu nichts führen: »Ich wollte nicht schon wieder ein ernstes Gespräch führen. Diese Gespräche drehten sich im Kreis […].« (S. 96) Es wird deutlich, dass die Verantwortung, die sich Höppner gegenüber Frieder auferlegt hat, ihm über den Kopf wächst. 

Seine Angstzustände nehmen zu, sodass er seine Angelegenheiten vernachlässigt und verdrängt. Dass seine Zukunft schon durch eine gesellschaftliche Verpflichtung vorgezeichnet ist, nämlich durch die Ableistung des Wehrdienstes in der Bundeswehr, macht ihm sehr zu schaffen. Die Einladungen zur Musterung ignoriert er, denn er fühlt sich nicht in der Lage dazu, eine Entscheidung zu treffen.

Anfang der 80er-Jahre galt in der Bundesrepublik Deutschland für alle volljährigen Männer eine Wehrpflicht, das heißt, sie mussten einen Grundwehrdienst in der Bundeswehr ableisten. Da aber niemand gegen sein Gewissen zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden konnte, war es möglich, ihn zu verweigern. Dazu musste man einen Antrag auf Verweigerung des Kriegsdienstes stellen. Danach war vor einer Kommission eine Gewissensprüfung abzulegen, die man bestehen musste, um anschließend als Ersatz einen sogenannten Zivildienst abzuleisten.   

Höppner möchte nicht zum Wehrdienst, aber diesen zu verweigern, ist für ihn auch keine Lösung, denn das »mündliche Gewissens-Abi« (S. 134), wie er die Gewissensprüfung scherzhaft nennt, kommt für ihn nicht infrage. Es erscheint ihm unmöglich, sich den absurden Fragen der Prüfungskommission auszusetzen, um zu beweisen, dass er »kein Gewehr in die Hand nehmen konnte, ohne ganz irrsinnige Gewissensbisse zu kriegen« (S. 133). 

Diese Überprüfung von Gewissensgründen war damals schon sehr umstritten, sodass sie 1983 durch eine Gesetzesänderung aufgehoben wurde. Nun konnte ein schriftlicher Antrag eingereicht werden, in dem man ausführlich seine Gründe zur Kriegsdienstverweigerung darlegen musste.  

Um dem Dilemma des Wehr- oder Ersatzdienstes zu entgehen, gab es noch die Möglichkeit, seinen Wohnort nach Berlin zu verlegen. Die Stadt stand damals noch unter der Verwaltung der vier Siegermächte, sodass Männer nicht der Wehrpflicht unterlagen.

Doch diese Alternative scheint für Höppner auch nicht attraktiv zu sein, was in folgender Äußerung deutlich wird: »Eigentlich fand ich Berlin total scheiße. Die vielen Leute waren scheiße, die vollen Straßen waren scheiße, das Scheißwetter war scheiße, alles.« (135)

In Bezug auf seine Zukunft steckt Höppner in einer tiefen Frustration. Sein Freund Frieder erfasst seinen emotionalen Zustand nicht in seiner vollen Tragweite. Er will ihm zwar helfen und stiehlt aus diesem Grund Höppners Musterungsakte während der Gewissensprüfung. Doch bei dieser Aktion steht eher Frieders eigener Spaßfaktor im Mittelpunkt des Geschehens. Es scheint, als wäre er gar nicht in der Lage, die Gefühle seiner Mitmenschen wahrnehmen zu können.

Die Gespräche kreisen immer um seine persönliche Problematik. Frieder pocht auf sein Recht der Entscheidung, den Zeitpunkt seines Todes frei wählen zu können – niemand könne ihn davon abhalten. Mit diesem ständigen Hinweis auf seine Freiheit und Unabhängigkeit wird die Motivation Höppners, ihn vor einem nochmaligen Selbstmordversuch abhalten zu müssen, ab absurdum geführt. Denn mit dieser Haltung nimmt er die Absichten seines Freundes, ihm helfen zu wollen, nicht ernst. Dies zeigt sich auch in Frieders doppelbödigem Kommunikationsverhalten, das in Gesprächen mit Höppner zutage tritt.

Seine Verhaltensweisen hinterlassen bei Höppner eine tiefe Unsicherheit, da er sich bewusst wird, dass seine Bemühungen zum größten Teil ins Leere laufen. Des Weiteren trägt auch sein Inneres langsam Spuren, denn seine Angstzustände und Panikattacken nehmen zu. So verliert Höppner sich oftmals in düsteren Visionen über den Tod.

Höppner realisiert anfänglich nicht, dass die Haltung Frieders für ihn und die anderen Mitbewohnerinnen und -bewohner zunehmend gefährlicher wird. Erst nach der Aktion Frieders, die eine nächtliche Verfolgungsjagd und Schießerei zur Folge hat, wird ihm klar, dass Frieder nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Freundinnen und Freunde gefährdet hat, denn sie hätten tot sein können. Letztendlich ist Höppner von der Aussage seines Freundes geschockt: »Ich hab’s drauf angelegt. Dass der Bulle schießt. Ich hab es drauf angelegt.« (S. 200) 

Frieders Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit gegenüber sich und dem Rest der Welt lässt seine Gefühle dermaßen hochkochen, dass sie sich in einem Wutanfall und einer gewalttätigen Aktion gegen den Freund entladen. Dies ist der Zeitpunkt, an dem Höppner bewusst wird, dass in ihrer Beziehung eine unwiderrufliche Grenze überschritten wurde, die sie nicht mehr – wie in früheren Zeiten – zusammenkommen lässt.

Nach Auflösung der Wohngemeinschaft ist es nun Frieder, der den Kontakt zu Höppner sucht und aufrechterhält, denn er besucht ihn des Öfteren in West-Berlin. Frieder ist schon so weit aus der Realität abgedriftet, dass sie nichts mehr gemeinsam unternehmen können. Er »hatte Angst unter Leute zu gehen« (S. 222), und sie verbringen ihre Zeit nur noch mit Gesprächen. 

Höppner ist sich im tiefsten Inneren jedoch darüber bewusst, dass er dadurch keine positive Veränderung mehr in Frieders Gedankenwelt bewirken kann, denn: »Er war allein. Er war wie gelähmt. Er wollte anders sein. Er konnte nicht anders sein.« (S. 222)

Er gesteht sich letztendlich ein, dass das Füreinander da sein auch Grenzen haben kann, wenn dadurch das eigene Selbst aus dem Gleichgewicht gebracht wird und sogar die psychische Gesundheit auf dem Spiel steht.

  1.   Die Rolle der Kommunikation im Roman

Im »Auerhaus« haben die Jugendlichen kein Telefon und auch keinen Fernseher zur Verfügung. An technischem Gerät besitzen sie lediglich einen Kassettenrekorder, mit dem sie ihre Lieblingsmusik hören.

Die direkte, persönliche Kommunikation spielt im Roman somit eine bedeutende Rolle und findet auf verschiedenen Ebenen statt: zum einen zwischen den Jugendlichen der Wohngemeinschaft untereinander und zum anderen zwischen ihnen und der Welt der Erwachsenen, zu denen die Eltern, die Lehrenden und die Vertretenden diverser staatlicher Institutionen gehören.

Ganz selbstverständlich bürgert es sich bei den Jugendlichen ein und wird zu einem festen Bestandteil ihrer Gemeinschaft, dass sie im »Auerhaus« abends in der Küche zusammenkommen, um gemeinsam zu kochen, Musik zu hören, zu rauchen und vor allem, miteinander zu reden. Dieses Ritual wirkt geradezu wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, als in den Bauernhäusern abends die Großfamilie sich in der warmen Stube versammelte, in der alles Leben stattfand, unter anderem auch, weil es der einzige warme Raum im Winter war und es noch keine technischen Geräte zur Ablenkung gab.

Höppner drückt an einem Winterabend kurz vor Weihnachten auch sein Wohlbefinden über diese Gemeinschaft aus. Anfänglich herrscht eine entspannte, lockere Gesprächsatmosphäre im »Auerhaus«, und die Jugendlichen führen teils witzige Dialoge miteinander, die oftmals eine gewisse Selbstironie beinhalten. Auch Frieder ist hier noch zu Scherzen aufgelegt: »Vor dem Essen sagte Frieder: ›Lasset uns beten!‹ Wir riefen: ›Der Hunger treibt’s rein, der Geiz behält’s drin!‹ Frieder sagte: ›Amen.‹ (S. 60)

Nach Höppners Ansicht führen sie »ein richtiges Leben mit ziemlich viel Reden […] und das ganze Reden bedeutete: Aufpassen auf einen von uns, der mal versucht hatte, sich umzubringen« (S. 61). Hier wird das zentrale Motiv für Kommunikation vom Ich-Erzähler in aller Deutlichkeit benannt. Höppner hat es als sein persönliches, therapeutisches Werkzeug auserkoren, um seinem besten Freund Frieder im Kampf gegen seine Depressionen damit eine Unterstützung und Hilfe anzubieten. 

In deren Beziehung wird deutlich, dass Höppner immer wieder auf den Freund mit Gesprächsangeboten zugeht, auch wenn er unsicher ist und oftmals nicht weiß, was er zu ihm sagen soll, wie bei seinem ersten Besuch in der Psychiatrie: »Ich wusste nicht, was ich sagen sollte«. (S. 27) Doch Höppner gibt nicht auf, den Freund mit Themen über den Sinn des Lebens und Fragen zum Grund seines Suizidversuchs herauszufordern. In den nächtlichen Gesprächen am Küchentisch, die sie zu zweit allein führen, kommen sie sich zwar immer wieder sehr nahe, aber zum tiefen Kern der Ursache seines Suizidversuchs stoßen sie nicht vor. 

Im Lauf der Geschichte kristallisiert sich immer mehr heraus, dass Höppner es mittlerweile leid ist, sich nachts noch zu Frieder zu setzen, um zu reden: »Ich wollte nicht schon wieder ein ernstes Gespräch führen. Diese Gespräche drehten sich im Kreis, […].« (S.96) Auch als das »Auerhaus« schon längst Geschichte ist und Frieder ihn in Berlin öfters besucht, muss er feststellen, dass sich durch die Gespräche nichts verändert. Sie reden zwar wieder nächtelang, und Höppner ist klar: »Wir redeten um sein Leben.« (S. 222) 

Aber bewusst wird ihm in der Situation jetzt auch, dass die Kommunikation als Mittel gegen den Kampf der Depression seines Freundes nicht ausreicht. Denn es schwingt eine gewisse Resignation in folgenden Worten mit: »Ich traute mich nicht mehr zu sagen, dass unsere Gespräche sich im Kreis drehten. Ich traute mich nicht einmal mehr, das zu denken.« (S. 222) Letztendlich wird ihm klar, dass er dem Freund nicht mehr helfen kann, und er glaubt auch nicht mehr daran, Frieders Zustand würde sich zum Guten wenden.

Höppners Beziehung zu seiner Freundin Vera gestaltet sich in der Kommunikation ebenfalls sehr schwierig, denn indem sie einander ihre Erwartungen von einer Beziehung nicht offen mitteilen, gibt es die ersten Missverständnisse. In der Silvesternacht schläft Vera mit Harry, und bei einem anschließenden Gespräch zwischen Höppner und Vera kommt heraus, dass sie in Bezug auf das Thema Sex aneinander vorbei kommuniziert haben: »Vera sagte: ›Ich dachte immer, du willst nicht mit mir schlafen. Ich dachte, du willst erst noch, na ja, älter werden oder so‹. Ich sagte: ›Ich wollte immer. Du wolltest nicht.‹« (S. 138)   

Im weiteren Verlauf der Geschichte verändert sich die gesamte Situation der kommunikativen Atmosphäre im »Auerhaus«. Sie dreht sich durch diverse Ereignisse – die Stürmung des Hauses durch eine Polizeieinheit und die nächtliche Verfolgungsjagd und Schießerei – drastisch ins Gegenteil um. Zum Ende hin ist zwischen den Jugendlichen nur noch das Schweigen untereinander angesagt, das Höppner als unerträglich empfindet: »Auf einmal war jeder für sich allein. Im Haus war es tagelang absolut still, und ich ging herum wie ein Gespenst.« (S. 186) Hier wird deutlich, wie sehr sich der Wegfall von Kommunikation auf die Psyche auswirken kann. Vom anfänglichen Gefühl der heimeligen Geborgenheit ist bei Höppner nichts mehr übrig, und er stellt fest: »Es gab Tage, da war das Auerhaus schlimmer als eine Familie voller F2M2.« (S. 188)

Die Kommunikationsebene der Erwachsenenwelt zu den Jugendlichen ist in Bezug auf ihre Familien im Roman von Anfang an nur auf eine hierarchische Struktur eines traditionellen Eltern-Kind-Verhältnisses reduziert. Das heißt, es findet so gut wie kein Austausch auf Augenhöhe über die persönlichen Bedürfnisse der Heranwachsenden statt. Niemand scheint sich ernsthaft für die Belange der Jugendlichen zu interessieren. 

Der Stiefvater des Ich-Erzählers erteilt beim Hausumbau nur Befehle und lässt keine Gelegenheit aus, um Höppner zu demütigen. Höppner reagiert mit einer rein schriftlichen Kommunikation, indem er auf die Wohnzimmerwand pinselt: »Arschloch dumm wie 1m Feldweg.« (S.13) Er traut sich nicht, in einem offenen Gespräch auf Konfrontationskurs mit seinem Stiefvater zu gehen. 

Frieders Vater, ein einfacher Bauer, bekommt erst auf der Beerdigung seines Sohnes anhand eines Tagebucheintrags eine Ahnung davon, was seinen Sohn Frieder eigentlich glücklich gemacht hat, nämlich das Leben im »Auerhaus«. Als er auch noch liest, dass Frieder für das Fällen des Weihnachtsbaums im Dorf verantwortlich gewesen ist, kommentiert er dies mit den Worten: »Der Herr wird ihn strafen.« (S. 232) 

Harrys Vater reagiert mit Gewalt, verprügelt ihn und wirft ihn sogar aus dem Haus, als er sich als schwul outet. Cäcilias Eltern sind reich und nur damit beschäftigt, ihre Außenreputation zu verbessern, anstatt für ihre Tochter da zu sein. 

Einzig die Mutter Höppners zeigt kurz ein Interesse an einem Austausch mit ihrem Sohn, denn sie fragt ihn, ob er glücklich sei, als sie auf einen Zeitungsbericht stößt, in dem über die nächtliche Aktion einer Verfolgungsjagd und einer Schießerei berichtet wird. Sie ist froh, dass ihr Sohn versichert, er sei nicht daran beteiligt gewesen, denn so muss sie nicht näher darauf eingehen. Die Mutter hat aufgrund ihrer persönlichen Lebensverhältnisse keine Energie und Kraft, sich näher mit den Problematiken ihres Sohnes zu beschäftigen.

Zwischen den beiden Generationen gibt es, auch aufgrund ihrer so gegensätzlichen Historie, keinerlei Annäherung oder Aufeinander-zugehen. Die Generation der Eltern war noch im Krieg oder ist in ihm aufgewachsen, die Generation der 80er-Jahre steht schon unter dem Nachhall der 68er-Revolte der Studentenbewegung, die einen Umbruch auf der gesellschaftspolitischen Ebene auf ihre Fahnen schrieb. 

Das Aufbegehren gegen eine strenge Sexualmoral, alte verkrustete gesellschaftliche Strukturen und auch gegen die Eltern, die das nationalsozialistische System miterlebt haben, ist am Anfang der 80er-Jahre immer noch vorhanden. Es drückt sich darin aus, dass viele politische Protestgruppen und soziale Bewegungen entstehen, die sich schwerpunktmäßig mit Frieden und Abrüstung, der Emanzipation der Frau, der Ökologie, der Sexualität oder mit Fragen der selbstverwalteten Lebens- und Arbeitsformen beschäftigen.

So stehen sich im Roman zwei Generationen gegenüber, deren Weltanschauungen nicht übereinstimmen, sodass sie keine Ebene einer fruchtbaren Kommunikation miteinander finden und das Schweigen im Fokus steht.

Die Lehrenden in der Schule zeigen sich ebenso desinteressiert und keineswegs gewillt, mit ihren Schülerinnen und Schülern näher in einen kommunikativen Austausch zu treten. Die Beschäftigung mit dem Roman »Die Leiden des jungen Werther« von Goethe im Deutschunterricht kann zwar als Versuch des Lehrers gewertet werden, über die Literatur einen Zugang zu den Lernenden zu finden, die gerade mit dem realen Selbstmordversuch eines Mitschülers konfrontiert worden sind. Jedoch erscheint es eher als eine hilflose Aktion gegenüber der Realität, die stattgefunden hat. 

Der Deutschlehrer verhält sich in den Augen Höppners seltsam, er kann aber nicht einordnen, warum dies so ist und registriert: »Irgendwas war hier faul.« (S. 21) Durch das Verschweigen und Nichtansprechen des realen Ereignisses nimmt diese Deutschstunde einen fast absurden Verlauf, den Höppner, der als Einziger neben Vera zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, was mit Frieder passiert ist, eindrücklich beschreibt.  

Nachdem Frieder nach seinem Suizidversuch wieder zurück in der Schule ist, interessiert es die Lehrenden nicht, was er im Unterricht treibt. Höppner stellt fest: »Denn die Lehrer behandelten uns völlig anders als vorher. Sie ließen Frieder und mich einfach in Ruhe.« (S. 67) Dies lässt darauf schließen, dass sie sich vor einer Auseinandersetzung mit der Thematik scheuen und sich diesbezüglich auf ein Nichtkommunizieren beschränken, was so weit geht, die Schülerinnen und Schüler gar nicht zu beachten. 

Es kann davon ausgegangen werden, dass ihr Verhalten von Angst geleitet wird. Bevor sich die Lehrkräfte mit einer solch schwierigen Thematik beschäftigen, was leicht zu einer Überforderung führen könnte, wählen sie lieber den Weg der vollständigen Verdrängung und Nichtbeachtung.  

So existiert für die Jugendlichen auch in der Schule kein Weg einer fruchtbaren Kommunikation in Form eines gegenseitigen offenen Austauschs mit den Lehrenden. Hier sind sie, ebenso wie in ihren Familien, mit ihren Themen auf sich allein gestellt.

Die Kommunikation mit anderen Vertretenden staatlicher Institutionen, beispielsweise mit den Vorsitzenden der Prüfungskommission im Kreiswehrersatzamt, ist durch eine autoritäre Struktur gekennzeichnet, die keine Widerworte duldet. Dem einzelnen Individuum wird keine Bedeutung beigemessen. Die Aussagen des Arztes und der Vorsitzenden sind gegenüber Höppner überwiegend knapp, in einer Befehlsform gehalten und nicht darauf ausgelegt, dass darauf geantwortet wird. 

Da Höppner dennoch mit ihnen spricht, sorgt er für Verwirrung. Auf die Frage: »Wollen Sie vielleicht die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beantragen?«, antwortet Höppner ungeniert: »Geht nicht. Ich hab was gegen nackte Russen, die nachts aus dem Gebüsch springen.« (S. 153) Da Höppner die gewohnte Art der Kommunikationsstruktur dieser Vorsitzenden locker durchbricht, führt er sie vor und gibt sie gleichzeitig der Lächerlichkeit preis. So wahrt er für sich auf dieser Ebene der Kommunikation sein eigenes inneres Selbstwertgefühl.        

Veröffentlicht am 10. Februar 2023. Zuletzt aktualisiert am 10. Februar 2023.