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Die Leiden des jungen Werthers

Aufbau des Werkes

Der Briefroman, der ausschließlich Briefe des Adressanten Werther enthält, ist in zwei große Teile gegliedert, die in chronologischer Reihenfolge Briefe von Mai bis September 1771 (Erstes Buch) und von Oktober 1771 bis Dezember 1772 (Zweites Buch) enthalten. Adressat ist in beiden Teilen hauptsächlich Werthers Freund Wilhelm. Im zweiten Teil kommen Abschiedsbriefe an Lotte und den Amtmann hinzu, die von einem fiktiven Herausgeber, der ebenfalls erst im zweiten Teil eingeführt wird, veröffentlicht werden.

Rüdiger Bernhardt weist darauf hin, dass die Gliederung des Werks zwar dem Prinzip des Goldenen Schnitts folgt, das aus der Kunsttheorie bekannt ist. Die beiden Teile sind also nach dem Muster a:b = a+b:a konstruiert; zugleich wird allzu große Harmonie aber durch den Brief vom 15. März 1772 verhindert, »der den Text halbiert und sich dem Wohlgefallen (und dem Goldenen Schnitt) hinderlich in den Weg stellt.« (Bernhardt Abschnitt 3.3) 

Die Halbierung, die mit diesem Brief also erst innerhalb des zweiten Teils erfolgt, korrespondiert mit einem anderen Aufbauprinzip, nämlich dem des klassischen Dramas, das sich aus steigender und fallender Handlung zusammensetzt. Der Brief vom 15. März 1772 kennzeichnet die Peripetie, den Umschlagpunkt, mit dem die absteigende Handlung beginnt. In der Exposition, die den Zeitraum vom 4. bis zum 30. Mai 1771 umfasst, werden die Gründe für Werthers Aufenthalt in Wahlheim, die Vorgeschichte und die Ausgangssituation dargestellt sowie die wichtigsten Personen eingeführt. In der steigenden Handlung, also den Briefen vom 16. Juni 1771 bis zum 20. Februar 1772, lernt Werther Lotte besser kennen, was mit immer stärkeren Gefühlen für sie einhergeht; parallel dazu intensivieren sich seine Naturerfahrungen. Diese Empfindungen und Eindrücke sind in der aufsteigenden Handlung vor allem mit Euphorie und Glück verbunden, was im Brief vom 20. Februar allerdings umschlägt, da Werther hier von Lottes und Alberts Heirat erfahren hat.

Der Brief vom 15. März, der die demütigenden Erlebnisse des Abends beim Grafen von C.. und die üble Nachrede schildert, der Werther ausgesetzt ist, markiert den endgültigen Wendepunkt, mit dem die fallende Handlung einsetzt. Werther wird nun immer schwermütiger und resignierter; es wird deutlich, dass er seinen Platz in der Gesellschaft nicht finden kann. Als retardierendes Moment kann man seinen Entschluss betrachten, nach Wahlheim zurückzukehren, doch da Lotte inzwischen mit Albert verheiratet ist und sich zunehmend Spannungen zwischen den dreien aufbauen, steuert die Handlung auf die Katastrophe zu.

Kennzeichnend für die abfallende Handlung ist der zunehmende Eingriff des fiktiven Herausgebers, dessen nüchterne Kommentare die Briefe ordnen und dabei ihren emotionalen Ton unterbrechen. Parallel dazu werden Werthers Mitteilungen zunehmend fragmentarischer und (noch) solipsistischer, selten findet sich noch eine Anrede; die vom Herausgeber mitgeteilten Nachrichten, teilweise als »Zettel« bezeichnet, wirken oft wie Tagebucheinträge.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. Mai 2023.