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Die Leiden des jungen Werthers

Sprache und Stil

Die Sprache, die Werther in seinen Briefen verwendet, ist die Sprache eines typischen Sturm-und-Drang-Helden: emotional, leidenschaftlich, temperamentvoll und im Ton sehr nah an der gesprochenen Sprache. Charakteristisch für diesen Ton sind die unmittelbare, gefühlvolle Ansprache des Adressanten und zahlreiche Ausrufe oder auch Fragen. Beides findet sich bereits in den ersten Sätzen des ersten Briefes: »Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war, und froh zu seyn!« (10). Nicht nur seinen Briefpartner, sondern auch sich selbst spricht Werther häufig in dieser Art an: »Unglüklicher! Bist du nicht ein Thor? Betrügst du dich nicht selbst? Was soll all diese tobende endlose Leidenschaft?« (112) 

Neben Interjektionen und Fragen sind es Ellipsen, also Redeteile, die durch Gedankenstriche, Klammern oder Pünktchen ersetzt werden, welche Werthers Sätze unterbrechen, sie unvollständig machen und damit sehr natürlich wirken lassen. Werther selbst behauptet (auch wenn der Roman das Gegenteil beweist) in seinem Brief vom 10. Oktober 1772, er würde ungern Gedankenstriche setzen, erklärt aber, warum er sie verwendet: »daß Albert nicht so beglükt zu seyn scheinet, als er – hoffte – als ich – zu seyn glaubte – wenn – Ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht anders ausdrukken – und mich dünkt deutlich genug.« (170)

Auch finden sich in den Briefen viele sogenannte Parenthesen, Satzteile, die syntaktisch nicht der übergeordneten Struktur des Satzes entsprechen, in den sie eingeschoben werden. Die häufige Verwendung von Ellipsen, Parenthesen und Inversionen (Umkehrung der üblichen Wortstellung) erzeugt den Eindruck, Werther werde in seinen Schilderungen und Argumentationen immer wieder von plötzlich einbrechenden, neuen Gedanken unterbrochen; eine Gedankenflut, die ihn als inspiriertes, kreatives Subjekt kennzeichnet und damit in die Nähe des im Sturm und Drang apostrophierten »Genies« rücken.

Am 24.12.1771 beklagt Werther sich gegenüber Wilhelm über seinen Vorgesetzten, den Gesandten, und dessen Pedanterie. Die Kritik, die er daran übt, kann geradezu als Programmatik der Sprache des Sturm und Drang gelesen werden: »Ich arbeite gern leicht weg, und wie’s steht so steht’s« (126),  aber der Gesandte sei »im Stande, mir einen Aufsatz zurückzugeben und zu sagen: er ist gut, aber sehen sie ihn durch, man findet immer ein besser Wort, eine reinere Partikel« (170). Werther, offenbar nicht sehr kritikfähig, reagiert darauf mit einem Wutausbruch: »Da möcht ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindwörtchen sonst darf aussenbleiben, und von allen Inversionen, die mir manchmal entfahren, ist er ein Todtfeind.« (170/71)

Wie schon im Abschnitt Aufbau des Werkes angerissen, steht der nüchtern-sachliche Ton, in dem der Herausgeber Werthers Briefe und Notizen im letzten Viertel des Romans kommentiert, im Gegensatz zu Werthers gefühlvollem, expressivem Stil. Sie geben dem letzten Abschnitt streckenweise dokumentarischen Charakter. Zudem rahmen sie den Roman als Ganzes, da dieser mit einer kurzen Vorbemerkung des Herausgebers (10) eingeleitet wird und mit einer längeren Schilderung endet, in der der Herausgeber auf Werthers Sterben und sein Begräbnis eingeht.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. Mai 2023.