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Die Leiden des jungen Werthers

Briefe 15. August–10. September 1771

Zusammenfassung

In seinem Brief vom 15. August schildert Werther seinen Eindruck, dass Lotte ihn nicht verlieren wolle und auch die Kinder mittlerweile an seine Besuche gewöhnt seien. Er berichtet, wie er ihnen regelmäßig das Abendbrot schneidet und ihnen dabei eine Geschichte erzählt. Den Kindern fällt es auf, wenn er sie anders erzählt als beim ersten Mal. Er überträgt diese Erfahrung auf die schriftstellerische Arbeit und meint, daraus schließen zu können, dass nachträgliche Überarbeitungen eines Werkes beim Publikum meist schlecht ankommen, auch wenn sie unter künstlerischen Gesichtspunkten erforderlich sind.

Im Brief vom 18. August beschreibt Werther, wie sich sein Naturempfinden verändert hat. Er vergleicht den Genuss, den er bei früheren Spaziergängen gefühlt hat, mit seinen gegenwärtigen negativen Empfindungen und Gedanken. So geht ihm beispielsweise durch den Kopf, wie viele Käfer und Ameisen bei jedem Spaziergang eines Menschen ihr Leben lassen, weil dieser ohne Aufmerksamkeit durch die Welt geht.

In den folgenden Briefen klagt Werther über Lottes Abwesenheit und darüber, dass Zärtlichkeiten zwischen ihnen nur in seinen nächtlichen Träumen vorkommen. Er sehnt sich nach befriedigender Arbeit und beneidet Albert, der gelegentlich unter seinen Akten versinkt. Er hofft, durch eine tägliche Arbeitsroutine wieder Sinn im Leben finden zu können, fürchtet aber zugleich, sich damit erneut in Ketten zu legen.

Im Brief vom 28. August nennt Werther dieses Datum als seinen Geburtstag. Albert und Lotte haben ihm zwei Bücher zum Geschenk gemacht, die er den beiden gegenüber einmal erwähnt hatte. Er ist froh darüber, Freunde zu haben, die sich solche Dinge merken und ihm damit eine Freude bereiten. Werther bezeichnet sich selbst als krank, ist aber sicher, dass Freunde wie sie ihn heilen könnten, wenn es denn überhaupt eine Heilung seiner (Liebes-)Krankheit gäbe.

Das kurze Hochgefühl findet unmittelbar darauf wieder sein Ende. Werther gesteht sich ein, dass seine Leidenschaft ein Übermaß angenommen hat und sein Leben nur noch um Lotte kreist. Er betet für sie und sie erscheint in seinen Tagträumen. Er sagt, er sehe keinen anderen Ausweg als den Tod.

Kurz darauf fasst er den Entschluss, an einen anderen Ort zu gehen. Kaum eine Woche später setzt er diesen Plan in die Tat um. In seinem Brief vom 10. September berichtet er Wilhelm nicht ohne Stolz, dass er bei ihrem letzten Treffen weder Lotte noch Albert von seinen Absichten erzählt habe. Er ist sicher, dass er Lotte nicht wiedersehen wird.

In ihrem vorerst letzten Gespräch mit Werther spricht Lotte über den Tod. Sie stellt sich die Frage, ob die Verstorbenen von den Lebenden wissen und noch irgendetwas von deren Welt mitbekommen. Schließlich geht sie dazu über, von ihrer verstorbenen Mutter zu erzählen. Sie ist verunsichert, ob sie ihren Vorstellungen entsprechend handelt und die Erziehung ihrer Geschwister in ihrem Sinne angeht. Sie bedauert den frühen Tod ihrer Mutter und erinnert sich an die letzten Momente an ihrem Sterbebett, an die Wünsche, die sie geäußert hat, und an die Versprechen, die sie Lotte abgenommen hat.

Beim Abschied wünscht Werther ihr ein Lebewohl, welches sie lediglich auf den Abend bezieht und nicht als generelles Abschiedswort auffasst. Nachdem Albert und sie fortgegangen sind, weint der allein zurückgebliebene Werther. Er blickt den beiden im Licht des Mondes hinterher, bis Lottes weißes Kleid zwischen den Linden verschwindet.

Analyse

Werther geht in seinem Brief vom 15. August darauf ein, dass Veränderungen an einem Werk vom Publikum bemerkt und selten geschätzt würden. Er schließt daraus, dass literarische Werke nach ihrer Erstveröffentlichung nicht mehr verändert werden sollten – eine interessante Bemerkung vor dem Hintergrund, dass Goethe »Die Leiden des jungen Werthers« überarbeitete und zwei Versionen des Romans veröffentlicht wurden (vgl. Abschnitt Historischer Hintergrund).

Im weiteren Verlauf spielt erneut der Zusammenhang zwischen Werthers Gefühlswelt und der Natur eine wichtige Rolle. Der Brief vom 18. August markiert in dieser Hinsicht einen Wendepunkt: Das Naturgefühl, das ihm die Welt »zu einem Paradiese schuf, wird […] jetzt zu einem unerträglichen Peiniger« (104). Das Tautogramm aus »Paradies« und »Peiniger« zeigt, wie sich Werthers Blick auf die Natur verändert hat. Er beschreibt seine früheren Naturempfindungen mit Worten wie »unendliche[n] Fülle«, »schwelgende Lebenswonne« und »Seligkeit« (106), während sein jetziger Blick mit kontrastierenden Ausdrücken illustriert wird, die von Katastrophen künden: »Fluthen, die eure Dörfer wegspülen«, »Erdbeben«, »verzehrende Kraft« (108). Er beschreibt die Natur sogar als »ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer« (ebd). Spätestens hier wird deutlich, wie schlimm es um Werthers innere Verfassung steht und wie hoffnungslos er ist.

Im Brief vom 22. August zeigt er indes noch immer einigen Lebenswillen. Er möchte sein Leben verändern, da er nur wenig mit sich anzufangen weiß: »kann nicht müssig seyn und wieder kann ich nichts thun« (108). Er bringt die Idee an, sich auf eine Anstellung bei einem Gesandten zu bewerben. Werther glaubt, die Arbeit würde ihm wieder einen Sinn verschaffen. Gleichzeitig wird hier ein wichtiges Motiv des Sturm und Drang sichtbar, nämlich das der Freiheit. Werther teilt seine Sorge mit Wilhelm, dass er sich mit der Arbeit in Ketten legen würde wie ein Pferd, das »sich Sattel und Zeug auflegen läßt, und zu Schanden geritten wird« (110).

In diesem Abschnitt sieht Werther seine Traurigkeit zum ersten Mal als Krankheit an (110), ist aber noch immer empfänglich für Gesten der Freundschaft und Liebe. Als Albert und Lotte ihm zu seinem Geburtstag am 28. August Geschenke machen, ist er sicher: »wenn meine Krankheit zu heilen wäre, so würden diese Menschen es tun« (ebd.). Es wird noch einmal deutlich, wie sehr er Lottes und Alberts Freundschaft schätzt und wie viel ihm »die kleinen Gefälligkeiten« (ebd.) bedeuten. Dass ihm beim Auspacken eine rote Schleife ins Auge fällt, die Lotte bei ihrem Kennenlernen getragen hatte und um die er sie schon mehrfach gebeten hat, könnte ein versteckter Hinweis darauf sein, dass sie seine Gefühle erwidert. Der Leser bleibt darüber jedoch ebenso im Ungewissen wie Werther selbst.

Werthers seelisches Tief ist jedoch nur kurz durch einen glücklichen Moment unterbrochen worden. Schon im nächsten Brief vom 30. August werden seine traurigen Empfindungen wieder anhand seiner Naturbeschreibungen deutlich. Während ihn zuvor Spaziergänge erfreut haben, er sogar mehrere Stunden am Tag mit Lotte spazieren war, bezeichnet er diese Ausflüge jetzt als ermattend: »wenn ich für Müdigkeit und Durst manchmal unterwegs liegen bleibe« (114). Er beschreibt auch hier die Landschaft und bleibt dabei düster. Werther klettert über »einen gähen Berg« (112), geht »durch einen unwegsamen Wald« (ebd.) und muss sich seinen Weg »durch die Hecken, die mich verlezzen, durch die Dornen die mich zerreissen« (ebd.) bahnen. Den Wald beschreibt er zudem als einsam, und als er endlich einmal Rast macht, sind seine Sohlen wund (114). Im Brief vom 30. August äußert er auch zum ersten Mal eigene Selbstmordabsichten: »Ich sehe all dieses Elends kein Ende als das Grab« (ebd.).

Schließlich beschließt Werther, zu gehen und Lotte nicht wiederzusehen (114). Der Gedanke, dass er sich von der Ursache seines Leids räumlich entfernen kann, scheint ihn zu beruhigen, denn er beschreibt, wie er die Sonne beobachtet, »die mir nun zum letztenmal über dem lieblichen Thale, über dem sanften Flusse unterging« (114 u. 116). Er benutzt dabei ausnahmsweise positiv konnotierte Worte für die Natur, bevor er jedoch bei der Beschreibung einer Allee, die zu ihrem Ende hin »immer düstrer wird« (116) schon kurz danach wieder zu seiner dunklen Betrachtungsweise zurückkehrt. Er habe in Bezug auf diesen Ort geahnt, »was das noch für ein Schauplaz werden sollte von Seligkeit und Schmerz« (ebd.). Die Route der Allee, die von einer »weite[n] Aussicht«, die sich an ihrem Anfang eröffnet, über hohe Buchenwände bis hin zu einem eng umschlossenen kleinen Platz bewegt, den »alle Schauer der Einsamkeit umschweben« (ebd.), ist wie eine metaphorische Beschreibung seiner Gefühle für Lotte von seiner ersten euphorischen Begegnung mit ihr, die ihm scheinbar eine ganz neue Lebensperspektive eröffnete, bis hin zur gegenwärtigen aussichtslosen Situation.

Obwohl er sich zu Beginn des Briefes noch versichert hat, dass er Lotte nie wieder sehen wird, schwindet diese Sicherheit im Laufe ihres Gesprächs. Am Ende verspricht er ihr sogar ein Wiedersehen über den Tod hinaus: »Wir werden uns wiedersehn [...], wir werden uns finden, unter allen Gestalten werden wir uns erkennen.« Er gehe »willig, und doch, wenn ich sagen sollte auf ewig, ich würde es nicht aushalten« (122). Schließlich blickt er Lotte hinterher, wie sie in ihrem weißen Kleid in der Ferne zwischen Lindenbäumen verschwindet; eine Szene mit starkem Symbolcharakter, denn die Linde gilt seit alters her aufgrund ihrer herzförmigen Blätter als Baum der Liebe, und die Farbe Weiß steht, zumindest im mitteleuropäischen Kulturraum, für Unschuld, Reinheit und Vollkommenheit.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. Mai 2023.