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Die Leiden des jungen Werthers

Briefe 20. Oktober 1771–16. Juni 1772

Zusammenfassung

Mehr als ein ganzer Monat ist seit Werthers letzter Nachricht an Wilhelm vergangen. Der zweite Teil beginnt mit einem Brief vom 20. Oktober, in dem Werther sich über seinen neuen Dienstherrn beklagt, jenen Gesandten, für den er arbeitet, um so an einen anderen Ort, fern von Lotte, zu gelangen. Diese Absicht hat er zwar in die Tat umgesetzt, doch Werther ist fast noch unglücklicher als zuvor und empfindet seine Tätigkeit als Last, da der Gesandte ein unerträglicher Pedant ist – ein Thema, das in diesem Abschnitt des Romans noch häufiger auftauchen wird.

Werther begibt sich nun häufig unter Menschen und sagt explizit, er wolle nicht allein sein. In seinem Brief vom 10. November schreibt er, er habe den Grafen C.. kennengelernt. Über diesen verliert Werther nur gute Worte. Seine Freundschaft mit ihm hat allerdings zur Folge, dass der Gesandte noch schlechter auf Werther zu sprechen ist als zuvor. Er bemerkt, dass Werther vom Grafen bevorzugt behandelt wird, was ihm offenbar missfällt. Werther erwähnt immer wieder, dass ihm die Arbeit nicht die erwartete Erfüllung bringe. Dabei macht er diejenigen dafür verantwortlich, die ihn dazu gedrängt hatten, sich Aktivität zu verschaffen, unter ihnen auch sein Adressat Wilhelm.

Werther lernt Fräulein von B.. kennen, eine junge Frau, die bei ihrer Tante wohnt. Bei einem Besuch des Fräuleins, das selbst sehr liebenswürdig und natürlich ist, lernt er auch die adelige Tante kennen, was ihm Anlass zu kritischen Betrachtungen der Ständegesellschaft gibt. Die alte Frau ist weder geistvoll noch vermögend, aber voller Arroganz und Herablassung aufgrund ihrer Herkunft, an die sie sich als einzige Stütze im Alter klammert.

Der Brief vom 20. Januar ist der erste Brief im Roman, der nicht an Wilhelm gerichtet ist. Diesen Brief sendet Werther an Lotte. Er erklärt ihr, warum er sich bis dato nicht gemeldet hat. Er wäre viel beschäftigt gewesen und erst jetzt, in einem Moment der Einsamkeit, hätten sich seine Gedanken wieder auf sie gerichtet. Dass er nun wieder an Lotte denkt, betrachtet Werther jedoch nicht als negativ. Die Einsamkeit und die damit verbundenen Gedanken an sie empfindet er vielmehr als schönen Augenblick. Am 20. Februar erfährt er dann allerdings, dass Lotte und Albert geheiratet haben.

In den darauffolgenden Briefen rückt das Thema der Standesunterschiede und gesellschaftlichen Zwänge wieder stärker in den Fokus. Werther schildert in seinem Brief vom 15. März ein Abendessen beim Grafen von C.. Im Anschluss an dieses Essen erscheinen höhergestellte Personen, und Werther denkt darüber nach, dass er möglicherweise nicht willkommen sein könnte. Er schiebt diese Gedanken jedoch beiseite, als er Fräulein von B.. in der Runde entdeckt. Als er sich zu ihr stellt, verhält sie sich anders als sonst und macht den Eindruck, dass seine Anwesenheit ihr unangenehm ist. Etliche unter den Gästen verhalten sich Werther gegenüber sogar offen ablehnend und demütigend. Trotzdem bleibt er, bis der Graf ihn schließlich beiseite nimmt und ihn mit einer Entschuldigung darum bittet zu gehen.

Später am selben Abend trifft Werther in einer Gaststube einen Bekannten, der ihn auf seine Freundschaft mit dem Grafen anspricht. Werther nimmt seine Bemerkungen zunächst nicht schwer, aber als er erfährt, dass bereits schlecht über ihn und den Grafen gesprochen werde, belastet es ihn doch.

Einen Tag später trifft er auf Fräulein von B.. und wirft ihr ihr Verhalten auf der Soirée des Grafen vor. Sie aber erklärt ihm, unter welchen Zwängen sie so handeln musste und berichtet ihm u. a. von dem vernichtenden Urteil ihrer Tante über ihn. Werther macht in seinem Brief gegenüber Wilhelm deutlich, dass er darüber lieber nichts erfahren hätte. Fräulein von B.. habe zu allem Überfluss hinzugefügt, dass all jene, die ihm seine Freundschaft mit dem Grafen missgönnt hatten und neidisch darauf gewesen waren, sich nun hämisch über die Situation freuen würden.

All das macht Werther so sehr zu schaffen, dass er in seinem Brief vom 24. März schließlich schreibt, er habe die Entlassung vom Hof verlangt. Am 5. Mai berichtet er dann, dass er am nächsten Tag abreisen werde. Fürst ** habe ihn auf sein Gut eingeladen und er habe die Einladung angenommen. Das Gut des Fürsten ** liegt nur wenige Kilometer von seinem Geburtsort entfernt. Werther nimmt die Gelegenheit wahr, endlich einmal in diesen Ort zurückzukehren, und schwelgt in Kindheits- und Jugenderinnerungen.

Schließlich berichtet er aber im Brief vom 11. Juni, dass ihm auch der Aufenthalt beim Fürsten trotz dessen großer Freundlichkeit nichts geben könne, da die beiden keine Gemeinsamkeiten hätten. Werther plant weiterzuziehen und gibt zunächst vor, bestimmte Bergwerke besichtigen zu wollen. Am Ende gesteht er aber, dass er damit eigentlich nur wieder näher bei Lotte sein wolle.

Analyse

In diesem Teil fasst der Leser noch einmal Hoffnung für Werther. Auch wenn dieser sich zunehmend über den Gesandten beschwert (126–138), wirkt es anfangs, als würde die Arbeit ihm seine gewünschte Ablenkung bieten. Er sagt selbst zu Wilhelm: »Es wird besser werden« (124) und er stehe nun »viel besser mit [sich] selbst« (ebd.), da er wieder unter Menschen ist und auf andere Gedanken kommen kann.

Außerdem lernt Werther Graf C.. kennen, mit dem sich eine vielversprechende Freundschaft anbahnt. Sie teilen gemeinsame Interessen und Werther empfindet »wahre warme Freude« (126) angesichts der Großherzigkeit und Offenheit des Grafen. Darüber hinaus begegnet er Fräulein von B.. (ebd.), die er aufgrund ihrer Natürlichkeit und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Standesschranken sehr zu mögen scheint. Recht schnell wird allerdings deutlich, dass auch sie sich nicht so leicht über diese Schranken hinwegsetzen kann.

Der erste Brief im Roman, den Werther an jemand anderen als Wilhelm adressiert, datiert vom 20. Januar und ist an Lotte gerichtet. Werther beschreibt ihr darin, wie er sich »vor einem schweren Wetter« (134) in eine bäuerliche Herberge geflüchtet habe. Er erzählt von dem wütenden Schnee draußen und davon, dass ihn nun »in dieser Einsamkeit, in dieser Einschränkung« (ebd.) erstmals seit seiner Abreise wieder der Gedanke an sie überfallen hätte, in einem »erste[n] glückliche[n] Augenblick« (ebd.). Das bedrohliche Wetter kontrastiert hier auf das Schärfste mit der sicheren und geborgenen Atmosphäre im Innenraum der Hütte, die ihn an scheinbar unbelastete Momente mit Lotte vor Alberts Rückkehr erinnert: »O säs ich zu Ihren Füssen in dem lieben vertraulichen Zimmergen, und unsere kleinen Lieben wälzten sich miteinander um mich herum« (136). Dass er von »unseren kleinen Lieben« spricht, zeigt seine anhaltende Realitätsferne, denn diese Wortwahl klingt beinahe so, als wären er und Lotte die Eltern der Kinder, zumindest aber, als würden sie gemeinsame Verantwortung für Lottes jüngere Geschwister tragen. Am Ende des Briefes schreibt er, dass der Sturm nun endlich vorbeigezogen war. »Und ich – muß mich wieder in meinen Käfig sperren. Adieu!« (ebd.). Während der eng umschlossene Raum der Bauernstube ihm die Freiheit gibt, an Lotte zu denken und ihr zu schreiben, bedeuten ihm die bürgerliche Gesellschaft und seine an sie gebundene Tätigkeit Gefangenschaft.

Mit der Begegnung mit Fräulein von B.. wird ein weiteres zentrales Thema des Romans in diesem Abschnitt erneut thematisiert: der Widerspruch zwischen ständischen Konventionen und dem natürlichen Wunsch nach zwischenmenschlichen Kontakten über die Standesgrenzen hinweg. Schon beim Zusammentreffen mit der Tante von Fräulein von B.. bemerkt Werther, dass diese ihn von oben herab behandelt. Die Frau habe »kein Ergözzen, als von ihrem Stockwerk herab über die bürgerlichen Häupter weg zu sehen« (132).

Schließlich lädt ihn Graf C.. zum Essen ein. Am Abend kommt »die noble Gesellschaft« (140) hinzu. Je mehr sich der Saal füllt, desto weniger verspürt Werther Lust, dort zu bleiben, doch immer wieder hindert ihn etwas am Abschied. Schließlich bittet der Graf ihn, zu gehen, denn »die Gesellschaft ist unzufrieden« (142). Werther zeigt Verständnis und geht, doch seine Anwesenheit bei dieser Soirée spricht sich schnell herum, und Fräulein von B.. erzählt ihm, »was weiter würde geträtscht werden« (146). Die üble Nachrede bestürzt Werther so sehr, dass er zunächst über Mord (»Ich wollte, daß sich einer unterstünde mir’s vorzuwerfen, daß ich ihm den Degen durch den Leib stossen könnte! Wenn ich Blut sähe würde mir’s besser werden«, ebd.), anschließend über Selbstmord nachdenkt: »ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freyheit schaffte« (ebd).

Seine innere Bewegung beginnt also mit dem Wunsch, sich zu wehren und an den bornierten Vertretern des Adelsstandes Rache zu nehmen, und endet mit Suizidgedanken. Am Ende des Romans wird er tatsächlich Suizid verüben. Dieser innere Verlauf gibt den Deutungen recht, die in Werthers Geschichte weder utopisches Potenzial noch Emanzipationsbestrebungen erkennen, sondern sie lediglich als Bestätigung, ja Verfestigung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung sehen: »Die Selbstbeschränkung und Selbstzerstörung des Individuums erweist sich letztlich als besondere Spielart des ›leidenden Gehorsams‹, zu dem sich die bürgerliche Moralphilosophie bekennt.« (Wiethölter/Brecht 942)

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. Mai 2023.