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Die Leiden des jungen Werthers

Briefe 4. Mai–30. Mai 1771

Zusammenfassung

Der Briefteil beginnt mit einem Brief vom 4. Mai 1771, den Werther an jemanden schreibt, den er als »Bester Freund!« (10) anspricht. Er nimmt darin Abschied von dem Adressaten, weil er in eine andere Stadt reisen muss, und erklärt seinem Freund die Gründe dafür. Er müsse sich im Auftrag seiner Mutter um eine Erbschaftsangelegenheit kümmern und sei froh über diesen Vorwand zum Aufbruch, da er sich auf diese Weise einer Frau namens Leonore entziehen könne, die eine schwärmerische Leidenschaft für ihn hege. Er fragt sich auch, ob er selbst etwas zur Entstehung dieser Gefühle beigetragen habe.

Im ersten und den folgenden Briefen schildert Werther seinem Freund lebhaft die Eindrücke von seinem neuen Aufenthaltsort. Während ihm die Stadt nicht sonderlich gefällt, preist er die Natur und Landschaft der Umgebung. Er genießt den Frühling und macht täglich ausgedehnte Spaziergänge. Dabei gewinnt er ein neues Lebensgefühl, was aus seinem Brief vom 13. Mai hervorgeht: Werther lehnt das Angebot seines Freundes ab, ihm seine Bücher zu schicken.

Gelegentlich genießt er die Gesellschaft von Menschen geringen Standes und hat Freude daran, mit ihren Kindern zu sprechen, die ihm viel Sympathie entgegenbringen. In seinem Brief vom 17. Mai äußert er jedoch, dass er zwar Bekanntschaften gemacht habe, es ihm aber an Freunden mangele. In diesem Brief erinnert er sich auch voller Wärme seiner inzwischen verstorbenen Jugendliebe.

Außerdem berichtet er von seiner Bekanntschaft mit dem fürstlichen Amtmann, eines Witwers mit neun Kindern, der ihn eingeladen hat. Der Amtmann habe einen guten Ruf, und insbesondere über seine älteste Tochter werde nur positiv gesprochen.

In seinem Brief vom 22. Mai beschreibt Werther dem Freund, den er hier zum ersten Mal mit seinem Namen Wilhelm anspricht, eine innere Krise. Sein Leben fühle sich wie ein Traum an und er empfinde es als Gefängnis. Die Menschen lebten nur für die Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse und die Verlängerung ihrer Existenz, deren Ursprung und Ziel sie dabei gar nicht interessiere. Trost gebe ihm jedoch das Wissen, dass man dieses Gefängnis jederzeit aus freier Entscheidung verlassen könne.

Im Brief vom 26. Mai wird erstmals auch der Ort genannt, an dem Werther sich aufhält und in dem seine Geschichte überwiegend spielt, nämlich Wahlheim. Er schildert die Nähe des Städtchens zur Natur und seine schöne Lage am Fuße eines Hügels. Bei seinen Spaziergängen sitzt er häufig im Garten eines Wirtshauses, um hier zu zeichnen. Dabei hat er zwei Kinder skizziert, die gegen Abend von ihrer Mutter abgeholt worden sind. Er ist mit der Mutter ins Gespräch gekommen, und an den folgenden Tagen sitzt er immer wieder bei ihren Kindern, macht ihnen kleine Geschenke und unterhält sich mit ihnen.

Analyse

Ein zentrales Motiv in der Literatur des Sturm und Drang ist die Gegenüberstellung von Natur und Kultur, der Antagonismus von ursprünglichen, lebendigen, eben ›natürlichen‹ Impulsen auf der einen und der zivilisatorischen Anpassung des Menschen an gesellschaftliche Bedingungen und Normen auf der anderen Seiten.

Gleich im ersten Brief Werthers an seinen Freund wird dieses Motiv aufgegriffen und die Natur dem Leben in der Stadt in schwärmerischer Weise gegenübergestellt. So schreibt Werther: »Die Stadt ist selbst unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur« (12). Die Natur ist für Werther ein »Heiligthum« (14), etwas Übernatürliches, Göttliches. Er selbst »fühle die Gegenwart des Allmächtigen« (ebd.), wenn er von Natur umgeben ist, die er als »paradisisch« (16) beschreibt. Das Motiv der Natur zieht sich auch in den folgenden Briefen durch das Werk, und ihre Beschreibungen spiegeln dabei Werthers Gefühle wider, die sich im Laufe der Handlung von Euphorie und Glück über Traurigkeit bis hin zu tiefer Verzweiflung verändern.

Anders als in den Werken der Aufklärung geht es bei den Naturschilderungen des Sturm und Drang nicht um eine objektive, (er)forschende Sicht auf Landschaft, Wetter, Flora und Fauna. Vielmehr dient die Natur vor allem als Projektionsfläche subjektiver Empfindungen. Nur so ist es zu erklären, dass Werther sie zu Beginn als wunderschön, freudvoll und erhaben erlebt, sie aber in seinen letzten Briefen vor allem als dunkle Bedrohung betrachtet und sich sogar vor ihr fürchtet.

Zu Anfang sagt Werther von sich selbst: »ich will mich bessern, will nicht mehr das Bisgen Uebel, das das Schicksal uns vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer gethan habe. Ich will das Gegenwärtige genießen« (10). Dies gibt den Lesenden einen ersten Einblick in Werthers Charakter und Gefühlslage. Er neigt offenbar zum Grübeln, denkt viel über bereits vergangene Dinge nach und macht sich damit selbst unglücklich. Das wird noch einmal deutlich, als er in seinem Brief vom 13. Mai bemerkt, dass Wilhelm ihn »vom Kummer zur Ausschweifung, und von süsser Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehn« (16) gesehen hat. Diese Aussage Werthers über sein eigenes Wesen ist bereits ein Hinweis auf das spätere Geschehen, denn auch seine Gefühle für Lotte werden schließlich in eine Obsession münden, die seinen Untergang bedeutet.

Auch das Motiv der Freiheit wird bereits in den ersten Briefen beleuchtet. So beschreibt Werther in seinem Brief vom 22. Mai, wie die Gesellschaft die Menschen in Ketten lege. Man lebe nur dafür, seine Bedürfnisse zu befriedigen und seine Existenz zu verlängern, doch »die thätigen und forschenden Kräfte des Menschen [sind] eingesperrt« (22). Er beneidet den Blick, den Kinder auf die Welt haben. Sie erleben das Leben unmittelbar, z. B. wenn sie Süßigkeiten »mit vollen Bakken verzehren, und rufen: Mehr! das sind glückliche Geschöpfe!« (24). Dass indes auch die meisten Erwachsenen in dumpfer Bedürfnisbefriedigung steckenbleiben und sinnlosen Zielen nachjagen (»die ihren Lumpenbeschäftigungen, oder wohl gar ihren Leidenschaften prächtige Titel geben, und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben«, ebd.), ist für ihn zwar in gewisser Hinsicht beneidenswert (»Wohl dem, der so sein kann!«, ebd.), doch er weiß zugleich, dass ihm diese Lebensweise verschlossen ist. Er ist vielmehr einer, der »in seiner Demuth erkennt, wo das alles hinausläuft« (ebd.), mithin die Sinnlosigkeit solchen Tuns erkennt. Zugleich bemerkt er, dass, so eingeschränkt man auch sein mag, man »im Herzen das süsse Gefühl von Freyheit« (ebd.) halten und »diesen Kerker verlassen« (ebd.) könne, wann man wolle. Hier zeigt Werther, wie zutiefst bedrückend das Leben ihm in manchen Momenten erscheint. Hatte er in seinem ersten Brief vom 4. Mai noch angekündigt, sich in dieser Hinsicht »bessern« und das Leben genießen zu wollen, so kehrt er nur wenige Briefe darauf zu einer düsteren Weltsicht zurück, in der ihm die Möglichkeit des Suizids Trost gibt. Damit zeigt sich bei ihm eine grundsätzliche Anlage zum Weltschmerz und dem Gefühl, den Umständen ausgeliefert zu sein.

In seinem Brief vom 15. Mai geht Werther das erste Mal auf die Ständegesellschaft ein. Er erzählt, dass er sich mit Menschen geringeren Standes gut verstehe, vor allem mit den Kindern. Da er selbst aber zum Bürgertum gehört, hätten die ›einfachen Leute‹ ihn zu Anfang eher kühl empfangen, weil sie glaubten, er wolle über sie spotten. Werther jedoch bezeichnet es als feige, wenn der Adel nichts mit dem gemeinen Volk zu tun haben wolle: »daß der, der glaubt nöthig zu haben, vom sogenannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu erhalten, eben so tadelhaft ist, als ein Feiger, der sich für seinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen fürchtet.« (18) Somit übt Werther an dieser Stelle zwar keine Kritik an der ständischen Gesellschaft als solcher, aber zumindest an ihren Schranken, die die Kommunikation über Standesgrenzen hinweg erschweren, und an der Ignoranz einzelner Angehöriger des Adels.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. Mai 2023.