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Die Leiden des jungen Werthers

Briefe 19. Oktober–17. Dezember 1772

Zusammenfassung

Werthers Gefühle entwickeln sich von latenter Traurigkeit und Schwermut hin zu abgrundtiefer Verzweiflung und dem Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er fühlt eine Lücke, die sich sogar in Lottes Gegenwart nicht füllen lässt. Auch wenn er bei ihr ist, was ihn zuvor immer beschwingt hatte, fühlt er sich nun schlecht. Er empfindet sein Leben als sinnlos, da er niemals mit ihr zusammen sein wird.

Ihm fällt auf, wie sehr sich seine Empfindungen geändert haben. Einst hatte er die Natur gemocht und sie als Paradies empfunden. Jetzt fühlt er angesichts derselben Natur und derselben Landschaften gar nichts mehr. Auch fängt er an, hin und wieder zu trinken, was Lotte ihm vorhält und als seine »Exzesse« bezeichnet. Es ist offensichtlich, wie sehr er des Lebens überdrüssig geworden ist.

Werther macht sich außerdem in seinem Brief vom 15. November Gedanken über die Religion. Er ehrt sie und weiß, dass sie vielen Menschen Trost und Halt gibt. Dabei fragt er aber zugleich, ob sie denn für jeden Menschen diese Bedeutung haben müsse und gesteht ein, dass sie ihm nicht diesen Beistand geben könne.

In seinem Brief vom 30. November erzählt Werther von seiner Begegnung mit einem Mann namens Heinrich. Er kommt mit ihm ins Gespräch und erfährt, dass Heinrich Blumen für seine Geliebte pflücken möchte, aber keine findet. Werther weist ihn darauf hin, dass es auch nicht die Jahreszeit dafür sei, aber Heinrich behauptet, dass in seinem Garten eine Menge Blumen blühen würden. Der Mann wirkt verwirrt und Werther fühlt sich nicht ganz wohl in der Situation.

Heinrichs alte Mutter kommt hinzu und unterhält sich mit Werther über das traurige Schicksal ihres Sohnes. Sie erzählt, dass Heinrich erst seit einem halben Jahr so ruhig sei wie jetzt. Zuvor hatte er in Ketten im »Tollhause« gelegen, weil er rasend gewesen sei. Sie behauptet, Heinrich wäre zu dieser Zeit am glücklichsten gewesen, weil er nichts mehr von sich selbst gewusst hätte. Werther fragt sich daraufhin, ob auch er nur dann wieder glücklich werden könne, wenn er all das, was geschehen ist, vergessen würde. Später kommt in dem Gespräch heraus, dass Heinrich früher der Schreiber von Lottes Vater gewesen war und dass auch er eine Leidenschaft für Lotte entwickelt und sich selbst darin verloren hatte.

Im Brief vom 17. Dezember berichtet Werther Wilhelm von einem seligen Traum, in dem er Lotte geküsst hat. Wieder erwacht, fühlt er noch immer diese Seligkeit, sagt aber zugleich, dass er immer verwirrter werde und es besser wäre, wenn er aus dem Leben ginge.

Im Anschluss an diesen Brief folgt ein Einschub von einem fiktiven Herausgeber, der über Werthers Perspektive hinaus die Geschichte weiter erzählt: Albert geht Werther zunehmend aus dem Weg, weil er bemerkt, dass seine Anwesenheit Werther belastet. Auch andere Menschen, die mit Werther zu tun haben, bemerken seine gedrückte Stimmung. Werther selbst zeigt Desinteresse an den Dingen, die um ihn herum passieren.

Analog zum Brief vom 17. Dezember berichtet auch der Herausgeber, dass Werthers Wunsch, sein Leben zu beenden, immer größer geworden sei. Die demütigenden gesellschaftlichen Erfahrungen, die er während seiner Zeit beim Gesandten und im freundschaftlichen Umgang mit dem Fürsten gemacht hat, tragen im Zusammenhang mit der aus ihnen resultierenden Untätigkeit nach Ansicht des Herausgebers dazu bei, dass Werther sich nur noch auf seine Liebe zu Lotte konzentriert hat und so zwangsläufig immer unglücklicher werden musste.

Analyse

Im Vordergrund steht in diesem Abschnitt der für den Sturm und Drang typische Geniekult, bei dem das Individuum und seine Gefühle eine zentrale Rolle spielen. Das Individuum ist hier Werther, dessen Leiden immer mehr zunehmen. Er spricht von einer »entsezliche[n] Lükke« (172) und über seinen verzweifelten Wunsch, Lotte »nur einmal an dieses Herz drükken« (ebd.) zu können. Seine Qualen sind so groß, dass er beim Einschlafen stets die Hoffnung hegt, »nicht wieder zu erwachen« (176); Gefühle und Gedanken, die ihn auch zuvor schon gepeinigt haben, jetzt aber ins Unerträgliche wachsen.

Seine Darstellungen der Natur wandeln sich nun ein zweites Mal. Hatte er sie im Gegensatz zu seinen anfänglichen Beschreibungen, in denen sie heiter, lieblich und wunderschön erschien, später im Gegensatz dazu als dramatisch, düster und bedrohlich beschrieben, wirkt sie jetzt viel eher leer. Alles Expressive ist nun gewichen; die Natur erscheint ihm starr, »wie ein lakirt Bildgen« (178) und kann ihn weder Freude noch Schmerz mehr empfinden lassen. Sie ist nicht mehr begeisternd, aber auch nicht mehr grauenvoll, sondern ruft in ihm nurmehr Gleichgültigkeit hervor. Werther weiß, dass es immer noch dieselbe Natur ist, die er einst so schön fand, doch sie kann »keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen« (ebd).

Charakteristisch für den Geniekult ist auch die Gleichstellung künstlerischer und fühlender Individuen mit Göttern, die in Werthers Brief vom 15. November erstmals aufgegriffen wird. Zwar stellt sich Werther nicht mit dem christlichen Gott auf dieselbe Stufe, doch wird sein starker Ich-Bezug in der äußerst freien Auslegung bestimmter Bibelstellen deutlich: »Sagt nicht selbst der Sohn Gottes: daß die um ihn seyn würden, die ihm der Vater gegeben hat.« (180) Er rechtfertigt seinen Glaubensverlust mit der Antwort, die er sich selbst auf diese Frage gibt: »Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn mich nun der Vater für sich behalten will, wie mir mein Herz sagt!« (ebd.)

Die Anmaßung, die in diesen Worten steckt, ist ihm selbst durchaus bewusst, denn er bittet Wilhelm, seine Worte nicht als Spott auszulegen, sondern das Vertrauen zu würdigen, das er dem Adressaten mit diesen Offenbarungen seiner persönlichsten Gedanken schenkt. Mit Blick auf die Kreuzigung Jesu fährt er an späterer Stelle fort: »Und ward der Kelch dem Gott vom Himmel auf seiner Menschenlippe zu bitter, warum soll ich großtun und mich stellen, als schmecke er mir süß?« (180) Er fragt sich hier, warum er als Mensch das Leben durchstehen muss, wenn selbst Christus als Gott in Menschengestalt zweifeln konnte. Dabei zitiert er die Worte des Gekreuzigten: »Mein Gott! Mein Gott! warum hast du mich verlassen?« (Matth. 27,46, ebd.) und zögert nicht, sie auf sein eigenes Unglück zu übertragen.

Die Episode um Heinrich wirkt wie eine Parallele zur Bauernburschenepisode, die Goethe in die zweite Fassung seines Werkes eingefügt hat (vgl. dazu Abschnitt Historischer Hintergrund und Epoche). Wie in dieser, so spiegelt sich auch in Heinrichs unglücklicher Liebe Werthers eigene Situation. Die Nähe zu Werthers Geschichte ist hier sogar noch viel größer, denn wie für ihn selbst, so ist auch für Heinrich Lotte das Objekt der Anbetung. Sein schlimmes Schicksal, nämlich dem Wahnsinn zuerst in wilder Raserei, später in einer Art stumpfer Verblödung anheimgefallen zu sein, spiegelt die innere Verfassung, auf die Werther sich unweigerlich zubewegt.

Der Einschub des fiktiven Herausgebers ist im Ton dokumentarischer Sachlichkeit abgefasst. Er steht in auffälligem Kontrast zu den subjektiv und äußerst emotional gefärbten Briefen Werthers und präsentiert die Position eines aufgeklärten, vernunftbetonten Menschen, der Werthers Gefühlslage vor allem als Folge seiner gesellschaftlichen Misserfolge und seiner Untätigkeit sieht.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. Mai 2023.