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Die Leiden des jungen Werthers

Briefe 18. Juni–12. Oktober 1772

Zusammenfassung

Werther kehrt zurück in die Nähe von Lotte, doch dieser Entschluss erweist sich als ebenso problematisch wie der vorangegangene. In den folgenden Wochen fantasiert er häufig darüber, wie es wäre, wenn nicht Albert, sondern er mit Lotte verheiratet wäre. Er ist überzeugt davon, dass Lotte an seiner Seite glücklicher wäre, denn er würde sie besser verstehen als Albert und hätte viel mehr mit ihr gemeinsam, vor allem im Hinblick auf zarte Empfindungen, die Albert nicht fühlen würde. Werther steigert sich so weit in diese Fantasien hinein, dass er im Brief vom 21. August sogar darüber nachdenkt, was passieren würde, wenn Albert stürbe.

In seinem Brief vom 4. August berichtet er Wilhelm vom erneuten Zusammentreffen mit der jungen Mutter, der er zu Beginn der Geschichte auf seinen Spaziergängen zum Wirtshaus begegnet war. Sie erzählt ihm, dass ihr jüngster Sohn Hans gestorben ist. Ihr Ehemann, der in die Schweiz gegangen war, um die Erbschaft eines Vetters zu holen, ist mit leeren Händen zurückgekommen. Er war auf der Reise an einem Fieber erkrankt und hatte es nur mit der Hilfe gütiger Menschen geschafft, nach Hause zurückzukehren.

Am 6. September berichtet Werther Wilhelm, dass er sich endlich von den inzwischen abgetragenen Kleidungsstücken getrennt habe, die er bei der ersten Begegnung mit Lotte getragen hatte: einen blauen Frack sowie eine gelbe Hose und Weste. Er habe sich allerdings einen neuen Aufzug schneidern lassen, der mit diesem identisch sei.

Auch auf die frühere Bekanntschaft mit dem Pfarrer und seiner Frau kommt Werther in einem Brief vom 15. September noch einmal zu sprechen. Beide sind inzwischen verstorben, woraufhin das Gut an den neuen Pfarrer und seine Frau übergegangen ist. Die beiden haben sich durch die Nussbäume, die zur Geburt der vorherigen Pfarrersfrau gepflanzt worden waren, gestört gefühlt, weil sie ihnen Licht geraubt und herabfallende Blätter den Hof verschmutzt hätten, sodass sie sie letztlich gefällt haben. Dies ist auf Unmut bei den Bürgern gestoßen, die diese Bäume der früheren Pfarrerin wegen sehr geschätzt hatten.

Am 12. Oktober schreibt Werther über seine aktuelle Lektüre und erwähnt, dass Ossian nun den Platz Homers eingenommen habe. Er schildert einen Spaziergang über die Heide und durch den Wald und bedient sich dabei zahlreicher Elemente, die er aus Ossians Gesängen übernimmt.

Analyse

Werther stellt sich vor, wie es wäre, Lotte zur Frau zu haben. Sein Leben wäre dann »ein anhaltendes Gebet« (156). Gebete drücken Hoffnung aus, die Werther indes nach und nach verloren geht. Nicht nur sein eigenes Leben, auch das Dasein anderer Menschen und die menschliche Existenz im Allgemeinen werden von ihm mit zunehmend resignierten und hoffnungslosen Worten beschrieben.

So begegnet er u. a. erneut der jungen Frau, die er bereits zu Anfang getroffen hat. Ihr jüngster Sohn ist verstorben, ihr Mann hat keine Erbschaft erhalten und ist am Fieber erkrankt. Ohne Hilfe wäre er nicht einmal mehr zurück nach Hause gekommen (158). Werther leitet diesen Teil ein mit den Worten: »Alle Menschen werden in ihren Hofnungen getäuscht, in ihren Erwartungen betrogen« (ebd.). Er gesteht sich zwar ein, dass er in seiner Hoffnungslosigkeit nicht allein ist, doch seine Worte wirken bitter.

Sein Brief vom 6. September, in dem er über seine Kleidung spricht, scheint eher belanglos, ist aber im Rahmen der Rezeption erwähnenswert, weil die »Werther-Tracht« nach dem Erscheinen des Romans in Mode kam. Viele, vor allem junge Leute kleideten sich nun mit blauem Frack, gelber Hose und gelber Weste.

Die anhaltende Hoffnungslosigkeit, in der Werther und seine Mitmenschen zu leben scheinen, findet sich, wie der Brief vom 15. September zeigt, auch im Dorf wieder, nämlich mit dem Abholzen der Nussbäume auf dem Hof des Pfarrers (168). Während die Bäume für die Dorfbewohner ein schönes Andenken an das alte Pfarrerspaar waren, konnte die neue Pfarrersfrau nur Schlechtes in ihnen sehen. Die »abfallenden Blätter machen ihr den Hof unrein und dumpfig, die Bäume nehmen ihr das Tageslicht, und wenn die Nüsse reif sind, so werfen die Knaben mit Steinen darnach, und das fällt ihr auf die Nerven« (170).

In Werthers Brief vom 12. Oktober spiegelt sich diese Hoffnungslosigkeit ebenfalls wider. Er beschreibt die Natur mit Ausdrücken, die an eine Schauergeschichte denken lassen. So spricht er von »dampfenden Nebeln«, dem »Gebrülle des Waldstroms», dem »Aechzen der Geister« und den »Wehklagen des zu Tode gejammerten Mägdens« (170 u. 172).

Werther bezieht sich damit auf die Gesänge Ossians, die vermeintlich auf die keltische Mythologie zurückgehen sollten, in Wahrheit aber erst im 18. Jahrhundert vom Schotten James Macpherson verfasst wurden. Macpherson gab sie als altgälische Originaltexte aus, die er angeblich ins Englische übersetzt hatte. Ossian, in Wahrheit also ein fiktiver Dichter, war für die Künstler des Sturm und Drang von großer Bedeutung. Goethe kam durch die Vermittlung Herders, der Ossian als »Homer des Nordens« bezeichnete, mit seinen Texten in Kontakt. In diesem Kontext ist es interessant, dass Werther sagt: »Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt.« (170) So hat die Düsternis, die mit der Mythologie und den Landschaften des Nordens verbunden wird, gleichsam das Licht der griechischen Antike in Werthers Welt ersetzt.

Der Brief endet damit, dass er »das Schwerd ziehen, meinen Fürsten von der zükkenden Quaal des langsamen absterbenden Lebens auf einmal befreyen, und dem befreyten Halbgott meine Seele nachsenden« (172) möchte. Erneut schreibt er (mit Bezug auf die Heldengesänge des Ossian) davon, sich selbst das Leben nehmen zu wollen. Hier wird deutlich, dass die Situation für ihn ausweglos geworden ist.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. Mai 2023.