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Die Leiden des jungen Werthers

Historischer Hintergrund und Epoche

»Die Leiden des jungen Werthers« ist eines der berühmtesten Werke der literarischen Epoche des Sturm und Drang. Sie umfasst die Jahre von etwa 1767 bis 1785. Die Jugendbewegung war geprägt vom Protest gegen die reine Vernunft der Aufklärung und vom Geniegedanken. Zu ihren bekanntesten Vertretern gehören Herder, Goethe und Schiller. 

Die Autoren dieser Epoche lehnten sich gegen gesellschaftliche Regeln auf und übten Kritik am Adel und der Ständegesellschaft. Im Vordergrund standen für sie Selbstbestimmung und freier Wille, was sie mit den Vertretern der Aufklärung verband. Darum vertreten einige Literaturwissenschaftler:innen die These, dass der Sturm und Drang keine Gegenbewegung zur Aufklärung, sondern vielmehr ein Teil von ihr, eine Art Unterkategorie sei. Ein wesentlicher Unterschied zur Sachlichkeit und zum Rationalismus der Aufklärung war aber der Primat der Gefühle, für den die Stürmer und Dränger eintraten. Persönliche Leidenschaften konnten so, wie in den »Leiden des jungen Werthers« zum zentralen Thema werden. Weitere wichtige Motive des Sturm und Drang, die ebenfalls in diesem Werk enthalten sind, sind die Natur, das schöpferische Individuum, das nur eigenen inneren Gesetzen verpflichtet ist, und der tragische Held, der bereit ist, für diese Gesetze zu sterben. 

Noch vor dem Aufkommen der Sturm-und-Drang-Bewegung gab es eine andere Gegenbewegung zur Aufklärung im 18. Jahrhundert: die Empfindsamkeit, die sich bemühte, Verstand und Gefühl im Gleichgewicht zu halten. Der Briefroman wurde in jener Zeit zu einer verbreiteten literarischen Form. Neben dem Tagebuch eignen sich vor allem Briefe zur Selbstbeobachtung und unmittelbaren Wiedergabe von Empfindungen. Während allerdings der klassische Briefroman die (fiktive) Korrespondenz zweier Figuren wiedergibt, hat Werther keinen Briefpartner, der in Erscheinung tritt. Damit rückt Goethe allein seinen Protagonisten und dessen selbstbezogene Gefühlswelt in den Mittelpunkt. Der Ausdruck der Empfindsamkeit wird auf diese Weise enorm verstärkt, und eine Balance zwischen Verstand und Gefühl ist hier nicht mehr erkennbar.

Inspiriert ist das Werk durch den Selbstmord Karl Wilhelm Jerusalems, eines Legationssekretärs, den Goethe 1765 in Leipzig kennengelernt hatte. Es gibt viele Parallelen zwischen Jerusalem und Werther, was zunächst rein formal im Namen von Werthers Freund und Briefpartner, Wilhelm, zum Ausdruck kommt. Doch die Parallelen zwischen Jerusalems Leben und dem Roman gehen weit darüber hinaus: »Dem bürgerlichen Jerusalem wurde zu Beginn seines Aufenthalts der Zutritt zu einer Adelsgesellschaft verwehrt, er hatte Ärger mit seinem Gesandten und sich unglücklich in die Frau des Gesandtschaftssekretärs Philipp Jakob Herd (1735–1809) verliebt. So war ihm der Aufenthalt in Wetzlar verleidet; er hasste diesen Ort.« (Bernhardt Abschnitt 3.1). Zudem erhielt Goethe nach Jerusalems Tod von Johann Georg Christian Kestner einen ausführlichen Bericht über dessen Ende, aus dem sich mitunter ganze Zitate in dem Werk wiederfinden. (ebd.)

Neben dem Schicksal Jerusalems flossen auch Goethes eigene Liebeserfahrungen in seinen Roman ein: die spannungsreiche Beziehung zu Kestners Verlobter Charlotte Buff, in die er sich leidenschaftlich verliebt hatte, was ihn zum Weggang aus Wetzlar veranlasste, sowie die Bekanntschaft mit der 16-jährigen Maximiliane von La Roche, die er in Frankfurt bei einem Besuch der Familie La Roche kennenlernte.

Aufgrund der Kritik der Kirche und des Skandals, den der Roman in Teilen der Ständegesellschaft ausgelöst hatte, überarbeitete Goethe seinen Roman 1787. Doch auch der Autor selbst sah sein Werk in seiner Weimarer Zeit ab 1775 zunehmend kritisch. (Anm. d. Verf.: In der Überarbeitung fiel unter anderem das Genitiv-s im Titel weg, das in dieser Lektürehilfe stets mitgenannt wird, da sich alle Angaben auf die erste Fassung von 1774 beziehen). In der Fassung von 1787 ist vor allem die Figur Alberts differenzierter gezeichnet und mit sympathischeren Zügen versehen, sodass er für Lotte als Partner geeigneter erscheint als in der Urfassung. Außerdem wird der Herausgeber früher eingeführt, sodass die zweite Fassung stärker dokumentarischen Charakter erhält. All diese Kunstgriffe dienten nicht zuletzt dazu, eine Überidentifikation der Leserschaft mit der Hauptfigur und damit auch  potenzielle Selbstmorde zu verhindern.

Eine Besonderheit in der zweiten Fassung ist ihre Ergänzung um die sogenannte »Bauernburschenepisode«. Darin beschreibt Werther in einem Brief vom 30. Mai 1771 seine Begegnung mit einem Bauernburschen, der ihm von seiner unglücklichen Liebe zu seiner Dienstherrin, einer Witwe, erzählt. Die Leidenschaft, mit der der Junge seine Gefühle schildert, beeindruckt Werther und wird zum Spiegel seiner späteren eigenen Erfahrungen mit Lotte. Dabei ist sie zugleich ein Zerrbild, denn sie wird als deutlich triebhafter und sexuell obsessiver als Werthers Liebe zu Lotte dargestellt. Auch für den Bauernburschen bleibt die geliebte Frau unerreichbar, was ihn aber nicht zum Selbstmörder, sondern zum Mörder seines Nebenbuhlers werden lässt.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. Mai 2023.