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Die Leiden des jungen Werthers

Rezeption und Kritik

Nach der Veröffentlichung des Werkes gab es sofort große Zustimmung dafür. Der Roman war nicht nur bei Goethes literarischen Freunden, sondern auch beim Publikum sehr beliebt und entwickelte sich zu einem regelrechten »Bestseller«. Bis heute wird er gern als erster Bestseller der europäischen Literatur und als literarische Sensation (vgl. Wiethölter und Brecht 916) bezeichnet. In den Jahren bis 1781 entstanden Übersetzungen des Werks ins Englische, Französische und Italienische, und allein zu Goethes Lebzeiten gab es mehr als 50 Druckauflagen. Als Goethe im Jahr 1784 mit Napoleon zusammentraf, versicherte ihm dieser, er habe den Roman sieben Mal gelesen und zeigte sich im Gespräch als differenzierter Kenner des Textes. (ebd. 929/30)

Zeitgleich mit den Verkaufserfolgen und positiven Rezensionen von Zeitgenossen wie Jakob Michael Reinhold Lenz oder Wilhelm Heinse wurde mit den Themen der Liebe zu einer verheirateten Frau und des daraus resultierenden Suizids aber auch heftige Gegnerschaft ausgelöst. Nicht nur der Klerus, sondern auch die Fraktion der Aufklärer brachte sich gegen das Werk in Stellung. Georg Christoph Lichtenberg monierte, dass Werther seine Talente nicht richtig, also zur »Belehrung und Besserung anderer« eingesetzt hätte und befand als beste Stelle des Romans jene, wo sich der »Hasenfuß erschießt« (zitiert nach Bernhardt Abschnitt 4.). Friedrich Nicolai veröffentlichte 1775 unter dem Titel »Freuden des jungen Werthers« eine Parodie, und Lessing kritisierte vor allem den Bezug zu Jerusalem, den er persönlich gekannt hatte und der aus seiner Sicht ein viel ernsthafterer Denker und tiefgründigerer Zeitgenosse gewesen war, als es die literarische Adaption in der Figur Werthers vermuten ließ.

Ihren Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern, als einige Leser:innen des Werkes Werthers Selbstmord nachahmten:

    Durch Quellen belegt ist in jedem Fall eine zweistellige Zahl von Suiziden in verschiedenen europäischen Ländern, die in direkte Verbindung mit Goethes Buchpublikation gesetzt werden. Das Phänomen der Nachahmung des literarischen Vorbildes war bei diesen Fällen insofern evi- dent, als sich die Suizidenten genau wie die tragische Romanfigur in blaue Jacke und gelbe Weste kleideten oder das Buch direkt beim Suizid bei sich führten, wie im Fall eines jungen Mannes namens Karstens, der sich bei aufgeschlagenem Buch erschoss (Brosius und Ziegler 9).

Die scharfe Kritik von Theologen wie Johann August Ernesti, der das Werk geradezu als »Apologie und Empfehlung des Selbstmords« (zitiert nach Bernhardt Abschnitt 4.) betrachtete, führte zu einem zeitweisen Verbot des Romans z. B. in Sachsen und Österreich – was, wie kaum anders zu erwarten, das Interesse und die Nachfrage nach dem Titel nur noch steigerte.

In den folgenden Jahrhunderten gab es immer wieder Adaptionen, Umarbeitungen und Neuinterpretationen des Romans. Zu den bekanntesten musikalischen Aneignungen gehört Jules Massenets Oper »Werther« (Uraufführung 1895), zu den bekanntesten literarischen Ulrich Plenzdorfs Roman »Die neuen Leiden des jungen W.« (1973). Franziska Walther holt den Titelhelden mit ihrer Graphic Novel »Werther reloaded« (2016) in die Gegenwart und macht aus ihm einen New Yorker Art Director zwischen Leistungsdruck, Drogenkonsum und möglicher Rettung durch eine Frau namens Lotte. 

Unter dem Begriff »Werther-Effekt« wird bis heute der Einfluss von Medien auf das reale Verhalten vor allem Jugendlicher diskutiert, wobei sich die Kontroverse heute kaum noch auf literarische Werke, sondern hauptsächlich auf Spielfilme, Serien oder Computerspiele, aber auch auf die Art der Berichterstattung über Gewalt und Verbrechen bezieht.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 1. Mai 2023.