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Die Leiden des jungen Werthers

Briefe 30. Juli–12. August 1771

Zusammenfassung

Albert ist zurückgekehrt, und Werther wird nun erst wirklich bewusst, dass Lotte vergeben ist und nicht die Seine werden kann. Er beschreibt Albert dennoch als sympathischen Mann und zeigt sich froh darüber, dass er Lotte in seiner Gegenwart nicht küsst. Die Freude, die er zuvor empfunden hat, wenn er bei Lotte gewesen ist, kann er allerdings nicht mehr fühlen. Er passt die Zeiten ab, in denen Albert zu tun hat, um Lotte allein anzutreffen.

Im Brief vom 8. August beschreibt Werther seine innere Zerrissenheit angesichts der Situation. Er könne entweder die Erfüllung seiner Wünsche suchen und auf Lotte hoffen oder aber der Sache ein Ende bereiten und sich von seinen Empfindungen lösen. Er räumt aber auch ein, wie viel leichter dies gesagt als getan sei. Schließlich habe er diese Alternative auch in der Vergangenheit bereits klar erkannt, sein Verhalten aber dennoch bisher nicht geändert.

Im folgenden Brief vom 10. August erzählt Werther von der Freundlichkeit, mit der ihn Albert empfangen habe. Werther rekapituliert die Situation vor Alberts Rückkehr, in der er sich wohl und aufgehoben in Lottes Familie gefühlt hat. Albert bringt ihm nun dieselbe Herzlichkeit entgegen wie die anderen schon zuvor. Die Freundschaft mit ihm freut Werther, wird aber zugleich von ihm als lächerlich empfunden. Er schreibt, dass er und Albert öfter spazieren gehen und sich dabei über Lotte unterhalten würden. Albert hat ihm bei einem dieser Spaziergänge von Lottes Mutter erzählt: Sie habe Lotte an ihrem Sterbebett die Rolle der Mutter für die jüngeren Geschwister übertragen, die Lotte so eifrig ausführt. Auch habe sie ihr befohlen, Albert zu heiraten. Am Ende des Briefes erwähnt Werther zudem, dass Albert nun nicht fortreisen, sondern vor Ort bleiben werde.

In dem etwas längeren Brief vom 12. August schildert Werther ein weiteres Gespräch zwischen ihm und Albert. Darin geht es zu Beginn darum, dass es Werther ins Gebirge zieht und er sich eine von Alberts Pistolen borgen möchte. Albert erzählt ihm bei dieser Gelegenheit von einer Geschichte, die ihm vor einiger Zeit passiert sei. Er wäre eine Zeit lang bei einem Freund auf dem Land gewesen. Die Pistolen des Hausherren wären immer ungeladen gewesen, bis sie auf die Idee gekommen wären, dass sie nachts überfallen werden könnten. Also hätte Albert die Pistolen zum Säubern und Laden an die Bediensteten gegeben. Einer von ihnen hätte sich dabei mit einem Mädchen einen Scherz erlaubt und sie erschrecken wollen, wäre aber unvorsichtig geworden und hätte geschossen, wobei er ihr den Daumen zerschlagen hätte. Werther, gelangweilt von der Geschichte, hält sich den Lauf einer ungeladenen Pistole an die Stirn und das Gespräch wandelt sich.

Albert bringt im Hinblick auf diese Geste seine Abscheu darüber zum Ausdruck, dass jemand sich freiwillig das Leben nehmen möchte. Werther hingegen findet es anmaßend, von unklugen oder törichten Taten zu sprechen, wenn man die Hintergründe der Selbstmörder gar nicht kenne. Es kommt zu einer hitzigen Diskussion. Albert vertritt die Meinung, dass gewisse Handlungen immer sündhaft seien, ganz gleich, aus welchem Grund sie auch begangen wurden. Dagegen bringt Werther Beispiele von Notleidenden an, die ohne zu stehlen verhungern würden, oder von Betrogenen, die in eifersüchtiger Rage einen Nebenbuhler töten. Albert findet den Vergleich unpassend, da Menschen, die von ihren Leidenschaften hingerissen werden, in seinen Augen als Wahnsinnige zu behandeln sind. Der Selbstmörder hingegen ist bei klarem Bewusstsein und plant seine Tat.

Werther greift nun Alberts Begriff des Wahnsinnigen auf und lenkt seine Argumentation auf dieses Thema. Dabei richtet er sich gegen das Primat der Vernunft und der Gelassenheit. Er sagt, dass Menschen, die etwas Großes oder scheinbar Unmögliches tun, oft als wahnsinnig hingestellt würden. Albert bringt das Gespräch auf das Ausgangsthema des Suizids zurück. Er sieht ihn als Schwäche, denn es sei leichter zu sterben, als ein schweres Leben zu ertragen. Werther hingegen vergleicht den Selbstmörder mit einem Volk, das von einem Tyrannen beherrscht wird, und es schließlich schafft, sich aus seinen Ketten zu befreien. Er betrachtet den Hang zum Suizid außerdem als Krankheit und sagt, dass man jene, die am Fieber sterben, schließlich auch nicht als feige bezeichnen würde.

Dann geht er dazu über, die Geschichte eines Mädchens zu erzählen, welches vor einiger Zeit tot im Wasser aufgefunden wurde. Sie hatte kaum Freude am Leben, musste schon als Kind zu Hause mitarbeiten, und je mehr sie heranwuchs, desto weniger Glück empfand sie noch. Sie lernte einen Mann kennen, in den sie sich verliebte, und dieses Gefühl ließ sie innerlich wieder erblühen – bis ihr Liebhaber sie verließ. Werther beschreibt die Hoffnungslosigkeit, die sie gefühlt haben muss, die Düsternis und Trostlosigkeit. Sie fühlte sich allein gelassen, sah nicht, dass sich dieses Gefühl wieder hätte ändern können, und nahm sich schließlich das Leben.

Werther stellt Albert die Frage, ob man dieses Leid etwa nicht als Krankheit bezeichnen könne. Zwar wäre es leicht zu sagen, sie hätte nur abwarten müssen, bis sich ihre Verzweiflung wieder gelegt hätte, aber dem Fieberkranken zu sagen, er müsse einfach warten, bis sich seine Kräfte erholen, würde diesen ebenfalls nicht vor dem Tod bewahren. Albert überzeugen Werthers Argumente nicht. Er sagt, Werther habe von einem einfältigen Mädchen gesprochen; ein verständiger Mensch, der größere Zusammenhänge überschauen könne, würde so etwas nicht tun. Werther entgegnet, dass es nicht auf den Verstand ankäme, wenn jemand von Leidenschaft ergriffen würde, aber schließlich gehen die beiden auseinander, ohne sich einigen zu können.

Analyse

Obwohl Werther noch im Brief vom 26. Juli sagt, dass er von Lotte wie von einem Magneten angezogen werde, schreibt er am 30. Juli entschlossen, er werde gehen (84). Dies ist jedoch nicht mehr als ein heroischer Vorsatz. Schon am Ende desselben Briefes schildert er nämlich, dass er bewusst Alberts Abwesenheit abpasst, um Lotte allein begegnen zu können (86). Er vergisst oder ignoriert bewusst, dass Lotte sich bereits für Albert entschieden hat und dass diese Verbindung der letzte Wille von Lottes Mutter gewesen war. Allein aus diesem Grund kann sie die Verlobung nicht ohne Weiteres auflösen, ganz abgesehen davon, dass dies in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts auch einem Skandal gleichgekommen wäre. Doch auch wenn man diese Umstände außer Acht lässt, wird bisher nicht deutlich, ob Lotte überhaupt ein romantisches Interesse an Werther hegt.

In den folgenden Briefen taucht erneut das Motiv der Natur auf und beginnt nun allmählich, Werthers negative Gefühle widerzuspiegeln. Während er zuvor von der Natur geschwärmt und sie im Zusammenhang mit seinen Spaziergängen detailliert beschrieben hat, erwähnt er die Ausflüge nun lediglich, ohne dabei näher auf die Natur einzugehen. Nur die Blumen, die er während eines Spaziergangs mit Albert pflückt, können als Symbol seiner Gefühle für Lotte gesehen werden: »pflükke Blumen am Wege, füge sie sehr sorgfältig in einen Straus und – werfe sie in den vorüberfliessenden Strohm, und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen« (90). Dass die Blumen zunächst aufmerksam arrangiert werden, bevor sie in den Fluß fallen und davonschwimmen, deutet die Sinnlosigkeit an, die Werther inzwischen in seiner Beziehung zu Lotte sieht.

Im Brief vom 12. August sprechen Werther und Albert erstmals offen über das Thema Suizid. Albert nimmt dabei die Sicht der Kirche ein, die das menschliche Leben als Geschenk Gottes und Selbstmord daher als Sünde betrachtet. Im 19. Jahrhundert war die moralische Verurteilung von Menschen, die Suizid begingen, dabei allerdings viel selbstverständlicher als heute. Meist wurde ihnen ein christliches Begräbnis verwehrt, und häufig wurden sie im äußersten Randbereich eines Kirchhofs oder außerhalb dessen bestattet. Diese Position wird von Albert repräsentiert, der über seine Einstellung zum Suizid sagt: »der blosse Gedanke erregt mir Widerwillen« (94). Er beschreibt den Suizid als »thörigt« (= »töricht«, ebd.) und als eine Handlung, die, egal aus welchem Grund sie vollführt wurde, »lasterhaft« (ebd.), also sündhaft, bleibt. Für ihn sind Suizidenten im Verstand »eingeschränkt« (102). Seine Äußerungen geben die allgemeine Auffassung der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu diesem Thema wieder.

Werther selbst sieht die Neigung zum Suizid als eine unheilbare Krankheit an, wie etwa das Fieber (98), und nähert sich damit bereits Positionen der Gegenwart, die neurologische Zusammenhänge zwischen depressiver Veranlagung und suizidalen Neigungen erkennen. Werther beschreibt die Hoffnungslosigkeit der Betroffenen und bezieht sich dabei wieder auf die Natur; eine Natur, die »so angegriffen wird, daß teils ihre Kräfte verzehrt, teils so ausser Würkung gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen [weiß]« (ebd). »Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben« (100). Werther beschreibt hier ein wesentliches Motiv des Romans, das charakteristisch für die Epoche des Sturm und Drang ist: den Zusammenhang von Natur und Gefühl, von natürlichen Voraussetzungen und Gegebenheiten und den menschlichen Entscheidungen, die daraus resultieren. Im weiteren Verlauf des Werkes wird sich zeigen, dass für Werther die Natur zunehmend trister erscheint und immer stärker an Schönheit verliert, je aussichtsloser seine Liebe zu Lotte wird.

In diesem Abschnitt findet sich noch ein weiterer Hinweis auf den Schluss des Romans, nämlich die von Werther erzählte Geschichte über die junge Selbstmörderin. Er beschreibt das Leben des Mädchens als eines mit wenig Aussicht auf Freude (98). Aus Werthers ersten Briefen wissen wir, dass er seine Heimat verlassen hat, weil er dort ähnlich unglücklich gewesen ist. Das Mädchen in seiner Geschichte trifft schließlich auf einen Mann, der Freuden in ihr weckt, durch welche sie »die Welt rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn« (100) – eine eindeutige Parallele zu Werthers Gefühlen für Lotte, der schon in ihrem allerersten Gespräch auf dem Weg zum Ball vergessen hatte, dass noch andere Frauen in der Kutsche anwesend waren (44). Werther erzählt weiter, wie das Mädchen schließlich von ihrem Geliebten verlassen wird (100). Seine eigenen Empfindungen bei Alberts Rückkehr gleichen denen des verzweifelten Mädchens und ihr Selbstmord nimmt sein eigenes trauriges Ende voraus.

Veröffentlicht am 1. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. Mai 2023.