Bürgertum und Ständegesellschaft
Ein Hauptmotiv des Romans sind die Unterschiede und Konflikte zwischen Adel und Bürgertum in der Ständegesellschaft. Werther gehört zum Bürgertum, ist also Angehöriger des sogenannten dritten Standes. Der erste Stand umfasst den gesamten Klerus, der zweite den gesamten Adel. Zum dritten Stand gehören alle übrigen Personenkreise, also sowohl die gebildete Bürgerschicht als auch Bauern, Handwerker und Dienstpersonal. Es existiert somit innerhalb des dritten Standes eine weitere Hierarchie, was in Werthers Briefen immer wieder zum Ausdruck kommt.
Werther bemerkt gelegentlich, dass ihm ›einfache Leute‹ wie Landarbeiter oder Dienstmädchen zunächst mit Misstrauen begegnen, bis sie erkennen, dass er nicht auf sie herabblickt. Werther sieht sich anderen Menschen gegenüber weder als über- noch als unterlegen an. Gerade Bürger wie er sind es, die die Ständegesellschaft kritisieren und Adel und Klerus infrage stellen. Diese kritischen Zeitgenossen, von aufklärerischem Gedankengut inspiriert, wollen darum auch ihrerseits keine Überlegenheit gegenüber anderen ausspielen.
Dennoch bleibt es Werther nicht erspart, seinerseits in die Position des ›Unterlegenen‹ zu geraten, als er beim Grafen von C.. mit Verachtung behandelt und sogar gebeten wird, ein Fest zu verlassen. Diese Demütigung trägt zu seiner wachsenden Verzweiflung bei und ist neben der unerfüllten Liebe zu Lotte zumindest ein Mitgrund für seinen Entschluss zum Suizid.
Die Rolle der Natur
Die Natur und ihre Bedeutung für das subjektive Erleben sind zentrale Themen im Sturm und Drang, die sich in den »Leiden des jungen Werthers« wie ein roter Faden durch das Werk ziehen. Seismographisch bilden die Naturbeschreibungen sein inneres Empfinden ab. Am Anfang wirkt die frühlingshafte Natur rund um Wahlheim belebend, ja euphorisierend auf Werther. Bereits im ersten Brief an Wilhelm preist Werther ihre Schönheit und benennt sie als seinen persönlichen Rückzugsort, mit dem er förmlich verschmelzen möchte: »Jeder Baum, jede Hecke ist ein Straus von Blüten, und man möchte zur Mayenkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben, und alle seine Nahrung darinne finden zu können.« (12)
Dass am Abend der ersten Begegnung Werthers mit Lotte ein Gewitter ausbricht, ist ein Hinweis auf die künftigen Konflikte. Je schlechter es Werther geht, desto dunkler und bedrohlicher wirken auch seine Naturbetrachtungen. Damit korrespondiert seine Hinwendung zu Ossian, dem fiktiven schottischen Dichter, dessen Gesänge sturmumtoste, wilde Landschaften voller Abgründe und Gefahren als Schauplätze haben. Nach Alberts Rückkehr finden sich diese düsteren Naturbilder immer häufiger. Dies ist charakteristisch für Werthers allgemeinen Blick auf die Dinge, der nicht rational und wissenschaftlich geprägt ist, sondern sein Innenleben in den Mittelpunkt stellt und auch die Natur in erster Linie zur Projektionsfläche macht.
Zum Schluss verschwindet selbst die Düsternis und weicht einer Gleichgültigkeit, die sich darin offenbart, dass die Natur nurmehr zur Staffage wird, die scheinbar keiner besonderen Erwähnung mehr wert ist. Man könnte darin das Symptom einer beginnenden Depression erkennen; ein Wissen, das freilich im 18. Jahrhundert so noch nicht vorhanden war.
Das Subjekt und seine Leidenschaften
Zentrale Motive jedes geistigen und literarischen Schaffens im Sturm und Drang sind Gefühl (Emotio) und subjektive Empfindung. Nach Auffassung seiner meist jungen literarischen Vertreter kann der Einzelne Regeln und Normen außer Acht lassen, um Bedeutsames zu leisten. Die Leidenschaft der Stürmer und Dränger stellt das Charakteristische und Ursprüngliche, das Originalgenie und seine kreativen Impulse in den Mittelpunkt.
Dass auch Werther diesem Credo folgt, zeigt sich u. a. in seiner ablehnenden Haltung gegenüber seinem Vorgesetzten, dem Gesandten, der als Inbegriff der Autoritäten erscheint, gegen die sich die Stürmer und Dränger auflehnen. Der weitere Verlauf der Handlung offenbart jedoch, dass Werthers Auflehnung lediglich eine innere ist. Eine echte Revolte bleibt ihm versagt, er scheitert gesellschaftlich und schließlich bleibt ihm nur noch der Rückzug nach Wahlheim. Auch diese Rückkehr, die seine letzte Hoffnung auf Glück ist, erweist sich als enttäuschend und mündet schließlich in die Katastrophe des Selbstmords.
Berühmt ist die Deutung Werthers des ungarischen Philosophen und Literaturkritikers Georg Lukács (1885–1971) als »Helden«, der »in der Morgenröte der heroischen Illusionen des Humanismus vor der französischen Revolution tragisch unter[geht]« (zitiert nach Wiethölter und Brecht 941). Diese Deutung hat im Laufe der Jahrzehnte viel Zustimmung, aber auch viel Gegnerschaft hervorgerufen: »Man verwies auf den Dualismus von äußerer und innerer Welt, auf die Antinomien der bürgerlichen Gesellschaft, die durch Werthers suizidalen Abgang weniger erschüttert als befestigt wurden.« (ebd.)
Werthers Leidenschaft für Lotte, die sich zu einer verhängnisvollen Obsession entwickelt, ist das Hauptthema des Werkes. Es bleibt also die Frage, ob und inwieweit die innere Abhängigkeit, die der Protagonist im Laufe der Handlung gegenüber der angebeteten Frau entwickelt, mit den Themen von Freiheit und Selbstbestimmung, weiteren Leitsternen des Sturm und Drang, in Einklang zu bringen ist. Angesichts der Unmöglichkeit, politisch und gesellschaftlich selbstbestimmt zu wirken, flüchtet Werther immer mehr in seine Innenwelt, wobei sich auch dieser Ausweg am Ende als zerstörerisch erweist. Die Gefahren der für den Sturm und Drang charakteristischen (Über-)Betonung des Ichs, welche von der darauffolgenden Epoche der Klassik abgelehnt wurde, sind hier also bereits vorgezeichnet.