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Torquato Tasso

Interpretation

Der Dichter am Ende seiner Arbeit

»Torquato Tasso«, als Künstlerdrama aufgefasst, behandelt Dichtung in der Dichtung. Goethe wählt dabei als Protagonisten keinen fiktiven Dichter, sondern den bedeutenden Renaissance-Epiker Torquato Tasso, dessen Einfluss auf den jungen Goethe gut dokumentiert ist. Man kann, was Tasso geschrieben hat, nachlesen. Deshalb muss der Dramatiker nicht erst skizzieren, wie das Werk seines Protagonisten beschaffen sei: Es genügen Hinweise auf seine bekannten Schriften.

Tasso steht im Stück am Ende der jahrelangen Produktion seines Hauptwerks, des Epos »La Gerusalemme liberata«. Er war bei dieser Produktion ohne äußere Vorgaben und konnte sich seiner künstlerischen Intuition ganz überlassen. Erst die letzte Produktionsphase bringt ihn mit seinem großzügigen Mäzen Herzog Alfons in Konflikt. Zur Diskussion steht eine Zurechnungsfrage: Rührt die lange Bearbeitungsdauer, rühren die häufigen und umständlichen Korrekturen und der Unwille zur definitiven Freigabe des Epos von einer Charakterschwäche des Dichters oder von seinem künstlerisch überragenden Sachverstand her? Oder umgekehrt gefragt: Agiert Herzog Alfons im Sinne des Kunstwerks, dem ein übertriebener Perfektionismus nur noch schaden kann, oder aus dem Unwillen des Mäzens heraus, der endlich die Früchte seiner Protektion ernten und die Bildung seines Schützlings voranbringen will? Tasso jedenfalls übergibt sein Manuskript dem Herzog aus sozialen Rücksichten und gegen seine künstlerische Intuition. Dieses Opfer rächt sich in seiner Unfähigkeit, die Ehrung, die ihm zuteil wird, eigentlich anzunehmen. Die Prinzessin, die weite Teile des Poems zu kennen scheint, hat gegenüber der vielleicht verfrühten Abgabe keine Bedenken. Immerhin bleibt dem Dichter auch danach noch die Möglichkeit, am Text zu arbeiten.

Dichtung als Liebeserklärung

Ein weiteres, für die Handlung zentrales Moment, betrifft die Funktionalisierung von Dichtung im Rahmen von Liebesverhältnissen. Betroffen ist dabei die Liebeslyrik, die Tasso, einem idyllischen Topos gemäß, in der Natur ausstellt, und deren Verbindlichkeitsgrad von Leonore und der Prinzessin, den beiden in Frage kommenden Adressatinnen, zu Beginn des Stücks diskutiert wird. Bei den Gedichten handelt es sich also um namentlich adressierte, öffentlich gemachte Liebeserklärungen, die aber vom Rollenverständnis des Hofdichters so weit gedeckt sind, dass sie ihn in Wirklichkeit auf ein Liebesverhältnis nicht festlegen. Weder Treue noch Heiratsabsichten werden von ihm erwartet, und eine körperliche Annäherung würde und wird trotz der erotischen Kommunikation als Skandal behandelt und entsprechend sanktioniert. Das mehrfache Vorkommen desselben Vornamens am gleichen Hof stattet die Liebeslyrik mit zusätzlicher Unverbindlichkeit aus (Goldoni übrigens hat 1755 eine Komödie, »Il Torquato Tasso«, über Tasso in Ferrara geschrieben, die entsprechende Verwechslungen für ihre komischen Effekte ausnutzt). Auch im direkten Dialog mit der Prinzessin, wenn es latent bereits um ihr Liebesverhältnis geht, kommt Tasso auf seine Liebeslyrik – auf die er sich doch leicht berufen könnte – nicht zu sprechen.

Umgekehrt liegen die Dinge bei seiner epischen Dichtung. Ihr Gegenstand ist die Eroberung von Jerusalem unter Gottfried von Bouillon im elften Jahrhundert – doch diese Dichtung, das heißt die erotischen Elemente in ihr, funktionalisiert Tasso gegenüber der Prinzessin als verkappte Liebeserklärung, und diese Dichtung erklärt sie so verstanden zu haben. All dies passiert bereits vor der Abgabe des Poems an den Herzog, das heißt, für diese Funktion seiner Dichtung ist die diffizile Frage nach der Vollendung des Epos irrelevant.

Dass Goethe selbst seine Dichtung in ähnlicher Weise funktionalisiert hat, belegen Briefe an Charlotte von Stein aus der ersten Produktionsphase des »Tasso« – und er ging hierbei noch direkter zu Werk als seine Hauptfigur. Generell findet Tasso in seiner Erklärung an die Prinzessin eine besonders kunstvolle Formulierung für einen der gängigsten Topoi biografistischer Deutung. Ganze Herrschaftsbereiche der (vor allem älteren) Goethe-Forschung lassen sich – vor allem für die Lyrik – unter die Frage subsumieren: »Wer ist die Frau?«

Dichtung als Tätigkeit

Die künstlerische Freiheit, die Tasso vom Herzog gelassen wird (die Goethe in Weimar nicht genoss), erlebt dieser zugleich als großen Mangel: In der Sphäre der Tat, der Politik und des eigentlich höfischen Treibens ist er – wie er meint – ein Nichts. Antonio Montecatino scheint ihm, wenn er ihn als Mentor gewönne, ein Ausweg aus dieser Lage – zugleich führt er ihm das eigene Ungenügen deutlich vor Augen und kränkt seine Eitelkeit. Der Herzog hat denn auch ein kompensatorisches Bildungsprogramm in petto – er will Tasso nach Abschluss seiner Arbeit in die Welt führen und in der Auseinandersetzung mit seinem weiteren Publikum zum ganzen Charakter bilden. Tasso als der reine Dichter, der er in Ferrara ist, erscheint ihm also als unvollständig.

Tassos Verhältnis zum Hof ist selbst ambivalent. Einerseits scheint er eine Weltscheu zu haben und die überschaubaren Verhältnisse am Ferrareser Hof wegen ihrer Abgeschlossenheit und Intimität zu schätzen. Andererseits drängt er gegen Ende des Stücks aus poetischen Gesichtspunkten auf eine Reise nach Rom: Nur persönlich könne er sich effektiv mit seinen Kritikern auseinandersetzen. Das Vorhaben, das Alphons’ Bildungsprogramm eigentlich entsprechen sollte, bewirkt in ihm die Angst, Tasso als Hofdichter an ein konkurrierendes Adelsgeschlecht zu verlieren.

Auch im Verhältnis zu den Frauen erscheint die Dichter-Existenz Tassos als zugleich defizitär und besonders günstig. Leonore schildert, wie die praktische Untauglichkeit des Dichters und sein ästhetischer Sinn Tasso für die Damen besonders anziehend machen. Sie können sich mit ihm beschäftigen und finden sich in seinen Vorstellungen und Vorlieben wieder. Andererseits führt gerade das Liebesgeständnis der Prinzessin Tasso zu dem unbedingten Vorhaben, sich nun auf der Tat-Seite endlich zu bewähren, und Antonio in die Arme. Offenbar genügen allein die künstlerischen Verdienste seinem Selbstwertgefühl in dieser Gegenüberstellung nicht.

Veröffentlicht am 15. April 2024. Zuletzt aktualisiert am 15. April 2024.