Skip to main content

Torquato Tasso

Akt 1, Szene 1-2

Zusammenfassung

(I, 1) Leonore von Este (als Prinzessin bezeichnet), die unverheiratete Schwester des Herzogs von Ferrara, ergeht sich mit ihrer Hofdame Leonore Sanvitale im Garten der herzoglichen Sommerresidenz Belriguardo, südlich von Ferrara, wohin der Herzog die beiden Damen in diesen Tagen gebracht hat. Sie sind in ländlich-schäferlichem Kostüm und winden Kränze. Der Gartenteil, in dem sie sich aufhalten, ist mit Hermen (also auf Säulen erhöhten Porträtbüsten) der berühmtesten epischen Dichter geziert. Die Prinzessin flicht einen Lorbeer-, Leonore einen Blumenkranz.

Die Prinzessin eröffnet das Gespräch (jedenfalls für die Bühne), indem sie von Leonore eine Erklärung für ihr Lächeln erbittet, das ihr auf einen vergnügten, wiewohl auch bedenklichen Gemütszustand zu deuten scheint. Leonore erklärt ihr Vergnügen mit ihrer Beschäftigung und lenkt das Gespräch auf die unterschiedlichen Kränze. Die Prinzessin setzt ihren Lorbeerkranz auf die Herme Virgils, Leonore hingegen wählt das Bildnis Ariosts.

Auch die Prinzessin ist über den frühen Landaufenthalt glücklich, denn das Lustschloss erinnert sie an ihre Jugendtage. Leonore beschreibt die jahreszeitlichen Veränderungen und Verrichtungen um sie her, und die Prinzessin gibt ihrem Bedauern darüber Ausdruck, dass Leonore im Frühling ihren Sohn nach Florenz, zu ihrem Ehemann, bringen soll; allerdings werde die große Stadt sie den Abschied leicht vergessen machen. Hierauf antwortet Leonore mit einer Lobrede auf Ferrara: Florenz sei durch sein Volk, Ferrara aber durch seine Fürsten groß geworden; hier würden edle und bedeutende Menschen angezogen, hätten Petrarca und Ariost Aufnahme gefunden, die den Ruhm des Ortes auf hundert Jahre stifteten.

Die Prinzessin sagt, sie beneide Leonore um ihr lebhaftes Gefühl, worauf Leonore wieder ein Lob äußert, diesmal aber des stillen und hohen Charakters der zurückhaltenderen Prinzessin. Diese weist das Lob mit Verweis auf diejenigen von sich, denen sie einzig ihre Bildung verdanke: Ihrer Mutter (Renata von Frankreich, 1510–1575, Tochter König Ludwigs XII.), hinter der sie – ja noch hinter ihrer Schwester Lukrezia – zurückbleibe, und den klugen Männern, denen sie gern zuhöre.

Dem weiten Umkreis von Gegenständen, die dabei erörtert würden, zieht Leonore, wie sie sagt, die Insel der Poesie vor und lauscht lieber den freundlicheren Reimen des Dichters. Die Prinzessin antwortet mit einem Scherz, indem sie andeutet, hinter dem Interesse Leonores an dem Dichter stünde am Ende ein erotisches Interesse, und sie wünsche von diesem als das Ziel seines ziellosen Suchens endlich erkannt zu werden. Leonore antwortet mit einem knappen Porträt Tassos, der, weltentrückt, sich doch für vieles in der Welt empfänglich halte und, indem er Niedriges erhöhe und Hohes gering erscheinen lasse, einen eigenen, anderen Wertmaßstab pflege. Die Prinzessin sieht aber in den an Bäumen angehefteten Liedern Tassos Zeichen einer irdischen Liebe. Leonore führt selbst aus, wovon in diesen Liedern die Rede ist: Tatsächlich sei der Name, den er seiner Geliebten gebe, Leonore, doch meine er damit die Prinzessin, und Leonore begnüge sich in dem Gedanken, vielleicht mitgemeint zu sein. Übrigens sei die Liebe Tassos eine ideale Liebe im neuplatonischen Sinne: eine Liebe des Höchsten, die sich in Leonore (der Prinzessin und Leonore) nur einen fassbareren Gegenstand wähle. Die Prinzessin zeigt sich dieser Marginalisierung der sinnlichen Liebe gegenüber skeptisch, doch Leonore bekräftigt, in Platos Schule entbehre Amor jedes flatterhaften Sinns.

Doch die Prinzessin sieht den Herzog herankommen, der sie wegen des Themas aufziehen würde, wie er es wegen ihrer Verkleidung tut.

(I, 2) Der Herzog fragt die beiden Damen nach Tasso. Nur Leonore sah ihn heute im Spazierengehen dichten. Einem flüchtigen Wort des gestrigen Tages entnimmt sie, dass sein Werk kurz vor der Vollendung stünde. Der Herzog wäre froh darüber, denn schon plagt ihn ob des umständlichen Schaffensprozesses, in dem immer wieder korrigiert und überarbeitet wird, was schon festzustehen schien, die Ungeduld. Die Prinzessin verteidigt Tasso mit seinem hohen künstlerischen Anspruch: Keine lose Aneinanderreihung unterhaltender Geschichten suche er zu schaffen, sondern ein in sich stimmiges Ganzes. Der Herzog, der die Zurückgezogenheit Tassos bedauert, möchte ihn, wenn nur das Werk vollendet ist, gerne in die Welt führen und seine Bildung so vollenden. Leonore stimmt in diesen Wunsch ein und bedauert den Argwohn, den der Dichter sonst gegen seine Mitmenschen hegt. Der Herzog berichtet von seinen Versuchen, mit Tassos Anfällen von Misstrauen schonend umzugehen, verspricht sich aber das meiste von einer raschen Kur.

Antonio komme von Rom nach Belriguardo und hole den Herzog ab, der mit ihm noch heute Abend nach Ferrara reisen wolle, weil dringende Geschäfte zu besprechen seien. Er rät den Frauen, ihn nicht zu begleiten, und der schönen Tage weiter hier und in Consandoli zu genießen. So bald wie möglich, werde er mit Antonio, der einiges zu erzählen habe, wiederkommen, und dann möchte auch er in den Gärten ein erotisches Abenteuer suchen. Leonore verspricht für diesen Fall die Duldung, die Alphons auch bei ihnen zeigt.

Die Prinzessin sieht Tasso zögernd sich nähern.

Analyse

Was sonst Aufgabe der Eröffnungsszenen ist: Orientierung über die räumlichen, zeitlichen und sozialen Verhältnisse schaffen, die Vorgeschichte einbringen, die Konfliktlinien vorzeichnen – das alles leisten die beiden ersten Szenen von »Torquato Tasso« nur mit großer Zurückhaltung. Was haben wir bis zum ersten Auftritt des Helden eigentlich erfahren? Wir befinden uns in Belriguardo, der herzoglichen Sommerresidenz südöstlich von Ferrara. Dass die Prinzessin (Leonore von Este, 1537–1581) und ihre Hofdame (Leonore Sanvitale, gest. 1582) »[i]n diesen Tagen schon« (21) vom Herzog »aufs Land gebracht« wurden, lässt auf ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit schließen, und die in Belriguardo eingerichtete soziale Formation ist in Wirklichkeit von vielen Veränderungen bedroht: Leonore Sanvitale soll ihren Sohn in diesem Frühling zu ihrem Ehemann (Giulio Thiene, Graf von Scandiano) nach Florenz bringen, und Herzog Alphons möchte noch diesen Abend mit dem von Rom eintreffenden Staatssekretär Antonio Montecatino (1537–1599) wegen dringender Staatsgeschäfte nach Ferrara reisen; immerhin verspricht er den Damen bei seiner Rückkehr einen längeren und müßigeren Aufenthalt.

Natürlich kommen die beiden einzigen Frauenfiguren hauptsächlich für eine Liebeshandlung mit dem Helden in Betracht. Dieser schreibt Liebesgedichte in petrarkistischer Tradition und stellt sie – nach einem bukolischen Topos – halböffentlich in der Natur aus. Als Dichter ist er selbstredend auch Liebender, das heißt er ist es, ohne einer geliebten Person in der irdischen Realität eigentlich zu bedürfen. Er nennt seine Geliebte, wie wir erfahren, Leonore – den Namen benutzend also, der, in den engen Schranken des Stückes, eine Festlegung auf eine der beiden Frauenfiguren gerade nicht erlaubt. Leonore Sanvitale geht davon aus, dass die Prinzessin gemeint sei; dies könnte aber eine einfache Huldigungsgeste, und also ihrer untergeordneten Stellung geschuldet sein. Die Prinzessin wiederum unterstellt Leonore den Wunsch, die Rolle der von dem Dichter Geliebten einzunehmen, und begegnet ihr skeptisch, wenn sie den platonischen, also idealen und sinnenentrückten Charakter seiner Liebe skizziert.

Alphons, wenn er hinzukommt, zeichnet um den Dichter sehr viel deutlichere Konturen, und er provoziert eine auf den Stückverlauf unmittelbar bezogene Erwartung. Die Fertigstellung eines großen Werkes steht unmittelbar bevor (es handelt sich um das Epos La Gerusalemme liberata), sie wird vom Herzog mit Ungeduld erwartet und soll mit einer großen Veränderung in den Lebensumständen des Dichters einhergehen. Alphons will die Bildung seines Schützlings vollenden, indem er ihn in die große Welt führt, wo er, sich mit Kritikern und Bewunderern gleichermaßen auseinandersetzend, seine Menschenscheu und seinen zur Gewohnheit gewordenen Argwohn ablegen soll. Bisher – so erfahren wir auch – durfte Tasso sich allein seiner Dichtung widmen, war also (ganz anders als Goethe am Weimarer Hof) von allen repräsentativen und sonstigen Verpflichtungen befreit.

Über diese expositorischen Informationen hinaus entwickelt vor allem der erste Auftritt einige Unterscheidungen, vor deren Hintergrund der ausstehende Verlauf des Stückes offenbar gesehen werden soll. Die Unterscheidungen werden über Zuordnungen zur Prinzessin und zu Leonore organisiert, können also auch als ihre Charakterisierungen verstanden werden. Zur Prinzessin gehören der Lorbeerkranz, Vergil, die hohe politische und wissenschaftliche Bildung und der Fürstenhof von Ferrara; zu Leonore Sanvitale gehören der Blumenkranz, Ariost, die Domäne der Poesie und die Stadt Florenz.

So disparat die Attribution einem modernen Leser erscheinen mag – verständlich und folgerichtig erscheint sie im frühneuzeitlichen Kontext. Die hierarchische Indikation ist nämlich durchweg dieselbe und kann im rhetorischen System der genera dicendi oder der Dreistillehre aufgeschlüsselt werden. Die Kränzung des Dichters mit Blumen, und insbesondere mit Rosen, hat in der Anakreontik ihren Ursprung, einer betont sinnenzugewandten, erotischen Dichtung im einfachen, bukolischen, also Schäfergewand. Der Lorbeer hingegen gehört dem delphischen Apollo, also einem edleren, nüchterneren und idealeren Dichtungsverständnis. Die Zuordnung dieser Kränze zu den beiden epischen Dichtern Vergil und Ariost ist korrekt: Vergil steht mit seiner Aeneis für das Heldenepos, das in der Gattungshierarchie an der Spitze steht. Ariost hingegen schuf mit seinem Orlando furioso (dt.: Der rasende Roland) ein Romanzo, das sich durch eine vielfältige und verwirrende Handlung auszeichnet, durch witzige Erzählerkommentare und einen leichten, pointenreichen Stil. Die erotische Materie zum Beispiel ist in der Aeneis im tragischen Modus präsent (Didos Selbstmord), bei Ariost hingegen im abenteuerlichen, fantastischen Modus (verzauberte Schlösser, Entführungen durch Seeungeheuer etc.).

Die Prinzessin hat dank ihrer Mutter die höchste Bildung genossen und findet sich in der männlichen höfischen Gesellschaft und in der ernsten Erörterung politischer und gelehrter Fragen zurecht; Leonore hingegen spricht sich für das Vergnügen aus, das die Dichtung stiftet. Ferrara ist seit langer Zeit nur von dem Adelsgeschlecht der Este regiert worden, in Florenz hingegen konkurrieren unterschiedliche Patrizierfamilien um die Herrschaft: Die Geselligkeit am Ferrareser Hof ist durch eine strenge Selektion hervorstechender Adliger geprägt, in Florenz wirkt der politische Machtkampf belebend auf die Kultur ein.

Das alles kann nun auf die expositorische Funktion der Eröffnungsszene wieder bezogen werden. Wie gesagt, kommen die Prinzessin und ihre Hofdame beide für eine Liebeshandlung mit dem Protagonisten in Frage: Der Leser, der den frühneuzeitlichen Code beherrscht, sieht also für die Liebeshandlung zwei mögliche Stilhöhen vorgeschlagen. Den genus grande der hohen Tragödie, sollte die Prinzessin die Erwählte sein, und den genus subtile der bukolischen Dichtung, sollte die Wahl auf die Hofdame fallen.

Dabei ist die Lage noch etwas komplizierter, denn das Schauspiel hat ja, schon bevor diese Entscheidung getroffen wird, begonnen, kann also selbst auf seine Stilhöhe befragt werden. Die beiden Damen haben sich als Schäferinnen verkleidet; Kostüm und Kulisse deuten also auf den niederen, bukolischen Stil – die Diktion aber entspricht dem genus grande der tragédie classique (oder, um es anders zu wenden: Es handelt sich nicht um ein Schäferspiel, wie gerade Tasso eines verfasste: die Aminta von 1573). Ein genauerer Blick auf den Dialog kann zeigen, wie sehr der Verlauf der Unterhaltung noch durch das hierarchische Verhältnis determiniert wird (der Reiz der bukolischen Fiktion hingegen beruht auf einer Aufhebung höfischer Hierarchie). Leonore lobt ihre Herrin und deren Adelsgeschlecht, und die Prinzessin geht souverän mit diesem Lob um: »Du solltest dieser höchsten Schmeichelei | Nicht das Gewand vertrauter Freundschaft leihen.« (96 f.) Der freie Austausch ehrlicher Meinung kann in der Verkleidung nur simuliert werden – wirklich bleibt immer das Verhältnis der Unterordnung, und insofern stehen auch Leonores Ausführungen unter einem generellen Vorbehalt, z. B.: Sieht sie wirklich die Prinzessin als die Adressatin von Tassos Liebesgedichten, oder zwingt sie ihre Stellung, diese Annahme auszudrücken? Zieht sie den Ferrareser Hof wirklich Florenz vor?

Schließlich ist zu bedenken, dass Goethe selbst bereits außerhalb des frühneuzeitlichen rhetorischen Systems schreibt. Eher, als dass er sich auf eine Stilhöhe wirklich festlegte, ist also anzunehmen, dass er einen Punkt suchen wird, der in einer bestimmten Hinsicht die hierarchische Zuordnung unmöglich macht und ihm die gestalterischen Möglichkeiten der Tradition gleichermaßen verfügbar hält.

Veröffentlicht am 11. April 2024. Zuletzt aktualisiert am 11. April 2024.