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Ruhm

Figuren

Figurenkonstellation

Ruhm – Figurenkonstellation
  • Ebling

    Ebling ist ein frustrierter Mann: »Es gab viel, das Ebling an seinem Leben nicht mochte. Es störte ihn, daß seine Frau so geistesabwesend war, daß sie so dumme Bücher las und daß sie so erbärmlich schlecht kochte. Es störte ihn, daß er keinen intelligenten Sohn hatte und daß seine Tochter ihm fremd vorkam.« (9) Merkwürdig aber ist, dass ausgerechnet seine Arbeit – eine untergeordnete Technikerstelle in der IT-Branche – ihn mit Freude erfüllt.

    Eine Rolle scheint dabei zu spielen, dass dem Techniker Ebling die Objekte, an denen er arbeiten muss – defekte Computer – rätselhaft bleiben:

      Er wußte, wie fragil die kleinen denkenden Scheibchen waren, wie kompliziert und rätselhaft. Niemand durchschaute sie ganz; niemand konnte wirklich sagen, warum sie mit einem mal ausfielen oder sonderbare Dinge taten. Man suchte schon lange nicht mehr nach Ursachen, man tauschte einfach so lange Teile aus, bis das ganze Gebilde wieder funktionierte (9-10).

    Was ihn in seinem Privatleben stört: die Entfremdung gegenüber der Familie, erfüllt ihn in seinem Arbeitsleben mit Freude. Er mag an den Computern gerade, dass sie ihm fremd bleiben, dass sie sich ihm entziehen.

    Gleichzeitig erfüllt ihn dieser Kontrollverlust auch mit Sorge: »Oft stellte er sich vor, wieviel in der Welt von diesen Apparaten abhing, von denen er doch wußte, daß es immer eine Ausnahme war und ein halbes Wunder, wenn sie genau das taten, was sie sollten« (10). Und dann: »Abends im Halbschlaf beunruhigte ihn diese Vorstellung – all die Flugzeuge, die elektronisch gesteuerten Waffen, die Rechner in den Banken – manchmal so sehr, daß er Herzklopfen bekam« (10). Hieran fällt auf, dass ihn die Vorstellung allgemein bloß verwundert, in dem Moment aber, in dem er in seinem Bett im Halbschlaf ist, haben diese Gedanken das Potenzial, ihn in Panik zu stürzen. Das ist einigermaßen paradox. Ebling begreift sich nicht auf der Arbeit als entfremdet und zuhause als der, der er wirklich ist, es ist vielmehr der private Bereich, der ihm Schaden zufügt. Das geht ganz entgegen der klassischen Entfremdungstheorie im Anschluss an Karl Marx, bei dem es die Arbeit ist, die das Potenzial von Entfremdung birgt. Auf der anderen Seite jedoch mag der Widerspruch gar nicht so groß sein. So ließe sich sagen, dass der postindustrielle Kapitalismus sich von dem Kapitalismus Karl Marx’ dadurch unterschiede, dass es keine Ausbeuter mehr gäbe, keine Großkapitalisten, sondern nur noch Selbstausbeuter. Der kleine Mann besorge das, was der Fabrikbesitzer im 19. Jahrhundert gemacht hätte, nun einfach selber. In diesem Sinne könnte Ebling als eine Figur verstanden werden, die sich vollauf mit seinem eigentlichen Feind – der Firma – identifiziere und seine negativen Triebregungen, seine Aggressionen auf die Menschen übertrage, die ihm am nächsten sind: Frau, Sohn, Tochter, vor allem aber auf sich selbst. Schließlich hasst Ebling seine Existenz und damit sich so sehr, dass er träumt, ein anderer zu sein. Auch wenn es also auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag: Auch Ebling ist ein Opfer des Kapitalismus. Zumindest dann, wenn man eine (post-)marxistische Lesart an ihn heranträgt.

    Dass Arbeit und Privates sich gegenseitig ausschließen, wird aber auch später deutlich: In dem Moment, in dem er private Erfolgserlebnisse zu verzeichnen hat, kann Ebling sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren (vgl. 13). Privates und Arbeit funktionieren also niemals zur gleichen Zeit. Entweder er ist glücklich auf der Arbeit und leidet an seinem Leben oder er ist glücklich Zuhause und bekommt seine Arbeit nicht mehr adäquat erledigt.

  • Elisabeth

    Elisabeth ist eine pflichtbewusste Ärztin, die sich in den Schriftsteller Leo Richter verliebt hat. Die Romanze zwischen den beiden scheint sich sehr schnell entwickelt zu haben. Nicht unwichtig dabei ist die sexuelle Komponente Im Bett sei Leo viel resoluter als sie gedacht hätte (29). Tatsächlich ist es genau diese Bestimmtheit, die sie auch in der zweiten Erzählung, in der die beiden das Hauptpersonal stellen, an Leo fasziniert.

    Elisabeth macht den Eindruck einer stillen Managerin, sie ordnet im Hintergrund, öffnet sich allerdings äußerst ungerne anderen Menschen. Sie selbst spricht davon, womöglich Opfer einer posttraumatischen Belastungsstörung zu sein (42). Auch ihre »zu starke Reaktion« (41) auf Leos Unpässlichkeiten ließen sich darauf zurückführen. Durch die anstrengende Arbeit bei »Ärzte ohne Grenzen« sei sie zum Leben außerhalb des Ausnahmezustands gar nicht mehr so richtig in der Lage.

    Bei aller Bewunderung, die ihre hohe Stellung und ihre ausgeprägte Problemlösungskompetenz, die sie etwa in der Verhandlung mit dem afrikanischen Staatssekretär unter Beweis stellt, hervorrufen mögen, ist sie dennoch eine in klassischen Rollenbildern gefangene Frau – wenigstens teilweise. Die Beziehung zwischen ihr und Leo hat eine ödipale Qualität. Sie bemuttert ihn, lässt ihm all seine Neurosen, organisiert im Hintergrund und baut ihn auf, wenn er es braucht. Im Gegenzug erwartet sie von ihm nichts, so wie man von einem Kind nichts als Gegenleistung erwarten würde. Ihre Beziehung gleicht also der von Mutter und Sohn.

    Dabei bleibt die Frage, warum sie sich das alles eigentlich antut. Der Text suggeriert, der sexuellen Potenz Leos würde eine nicht unerhebliche Rolle zukommen. Dies mag natürlich eine Rolle spielen, es spricht jedoch einiges dafür, dass dies nicht der einzige Grund ist. Die Prestige-Gewinne, die sich daraus ergeben mit einem berühmten Schriftsteller in einer Beziehung zu leben, sind eventuell auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Besonders wichtig scheint jedoch zu sein, dass Elisabeth wie eine Person wirkt, die gebraucht werden will. Dies würde auch ihre Berufswahl erklären, schließlich verdienen Ärzte bei Ärzte ohne Grenzen weniger als Ärzte, die in normalen Krankenhäusern arbeiten. Gleichzeitig ist der Stress bei der Tätigkeit für Ärzte ohne Grenzen wesentlich höher. Wenn es also keine finanziellen Anreize sind, wenn die Stelle viel weniger komfortabel ist, dann sind es entweder hehre moralische Ziele, die Elisabeth dazu bewogen haben oder uneingestandene Intentionen. Wenn berücksichtigt wird, was sie sich von ihrem sie gaslightenden Freund antun lässt, erscheint die zweite Option beinahe wahrscheinlicher.

  • Leo Richter

    Leo Richter ist ein überzeichnetes Klischee (vgl. Gasser 2010). Damit passt er durchaus zu den anderen Figuren, die ebenfalls vornehmlich als flache Charaktere gelten können (vgl. Gerstenbräun 2012). Flache Charaktere zeichnet aus, dass sie keiner Charakterentwicklung unterliegen. Ferner sind flache Charaktere meist Stellvertreter für bestimmte Typen, so wie Leo Richter der Stellvertreter für den Typus des genialen Schriftstellers ist, der im alltäglichen Leben scheitert, feige und neurotisch ist, den aber plötzlich Inspiration überkommen kann, sodass er in einem Zug »vertrackt[e] Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz [schreibt]« (29).

    Leo Richter ist dabei wichtig für die Funktion von »Ruhm«, Metafiktionalität darzustellen (Zimmermann 2016, S. 271 ff). Er tritt in drei Geschichten als Protagonist auf, in der Geschichte »Ein Beitrag zur Debatte« ist er eine Nebenfigur. Damit tritt er häufiger als jede andere Figur auf. Gleichzeitig bedeutet das nicht, dass er tiefer gezeichnet wäre als die anderen. Er verbleibt auf stereotypem Niveau.

    In der Forschung wurde die Frage aufgeworfen, ob Leo Richter nicht vielleicht sogar der – fiktive – Erzähler des ganzen Buches »Ruhm« sein könnte, er also in allen neun Geschichten statt nur in vier auftauchen würde (vgl. Zimmermann 2016). Dies ist aber unwahrscheinlich. Seine Souveränität wird ja durch den diabolus ex machina – den Chauffeur – gebrochen. Leo Richter ist also durchaus Autor, dabei aber genau so eine Figur wie alle anderen auch. Er hat keinen besonderen Zugriff auf die Beschaffenheit der Diegese.

    Allerdings trägt er durchaus Züge eines Demiurgen, also eines schöpferischen Gottes. So kann er plötzlich erscheinen oder sich der Diegese entziehen. In »Rosalie geht sterben« macht er die Protagonistin eher aufgrund einer vorübergehenden Laune gesund, jung und hübsch. In der zweiten Geschichte namens »In Gefahr« schreibt er sämtliche andere Figuren in eine Geschichte hinein, aus der sie nicht fliehen können.

    Genau dieses Verhalten zeigt auch die konstitutive Grausamkeit Leos. Er nimmt Menschen gefangen, ist zynisch, wenn ihnen – wie etwa Maria – etwas zustößt und selbst seine Freundin bezeichnet ihn als grausam: »Hätte er gekonnt, hätte er alle hier zum Tode verurteilt. Leo war nicht gutwillig. Er wünschte Menschen nicht das Beste.« (44).

  • Rosalie

    Leo Richter beschreibt sie als seine klügste Figur. Sie hat drei erwachsene Töchter, ist todkrank und vertraut ihrer Nichte Lara Gaspard anscheinend mehr als ihren Töchtern. Auch ihren angeblichen Freundinnen gegenüber ist sie reserviert und spöttisch, wobei dies natürlich auch mit ihrer Erkrankung zu tun haben kann. Es könnte sein, dass sie aufgrund der Erkrankung zynisch wird.

    Es fällt auf, dass sich über Rosalie nicht wirklich viel aussagen lässt. Sie ist eine mehr oder weniger sympathische ältere Dame, die an einer unheilbaren Erkrankung sterben wird. Man erfährt, dass sie lange Zeit Lehrerin war, Hobbys aber scheint sie nicht zu haben – jedenfalls verlautbart der Erzähler nichts darüber.

    Es ist allerdings bezeichnend, dass Leo Richter sie als klügste Figur bezeichnet. Es stellt sich nämlich die Frage, was damit eigentlich genau gemeint sein soll. Bedeutet klug hier die intrinsische Eigenschaft Rosalies? Ist sie ein kluger, das heißt gewitzter, vielleicht bauernschlauer Mensch? Wenn dies gemeint sein sollte, so lässt sich kaum etwas dagegen sagen, da es weder Anlass dafür gibt, sie für sonderlich klug, noch dafür sie für sonderlich dumm zu halten. Die Figur ist für eine solche Aussage insgesamt zu eigenschaftslos.
    Die zweite Möglichkeit erscheint da wahrscheinlicher. Leo Richters Aussage könnte bedeuten, dass er sie für einen seiner klügsten Einfälle hält, und zwar genau wegen ihrer bemerkenswerten Gesichtslosigkeit. Es ließe sich sagen, dass die Frau ohne Eigenschaften sich somit als erzählerische Leerstelle für die unterschiedlichsten Leser-Projektionen anbieten würde. Sie kann also alles Mögliche bedeuten und zeigt so etwas allgemein Menschliches an.

  • Ralf Tanner

    Auch Ralf Tanner ist ein klischeeträchtiger Charakter: der an seinem Ruhm krankende Superstar. Auch die Situation, in die er gerät, verdankt sich einem populären Mythos: Der Anekdote, dass Charlie Chaplin bei einem Wettbewerb für Charlie-Chaplin-Imitatoren verloren hätte. Gleichzeitig wird allerdings durchaus etwas Gewichtiges über Ralf Tanner angezeigt: Die Personen auf der Leinwand sind keine echten Privatpersonen mehr. Das mag durchaus etwas mit der medialen Aufmerksamkeit zu tun haben, in deren Genuss Daniel Kehlmann spätestens seit »Die Vermessung der Welt« gekommen ist.

    »Personen öffentlichen Interesses« haben dabei durchaus einen schweren Stand. Neben dem Fakt, dass sie von völlig fremden Menschen belästigt werden, ergibt sich für sie auch eine nicht unerhebliche Verantwortung für das eigene Verhalten. Die Körperverletzung, derer sich die Kollegin Carla Mirelli an ihm schuldig macht, geht schließlich vollkommen zu seinen Lasten. Seine Entfremdungserfahrung entzündet sich an genau dieser Erfahrung.

    Allerdings erscheint es durchaus so, als wäre Tanner ohnehin ein vulnerabler Mensch, beziehungsweise akut an einer Depression erkrankt. Ob die Existenz, in die er sich flüchtet, wirklich eine Hilfe für ihn bereitstellt, darf also bezweifelt werden.

  • Maria Rubinstein

    Maria Rubinstein ist »eine kleine rundliche Frau Mitte 40« (96). Auch sie ist ein Opfer Leo Richters und auch sie ist – wie Elisabeth – ihm auf eine gewisse Weise dankbar oder könnte sich wenigstens als ihm zu Dank verpflichtet wähnen. Jenseits dessen bleibt aber auch diese Figur eigentümlich blass. Man erfährt, dass sie eine erfolgreiche Autorin von Kriminalromanen ist und – so Leo Richter – seit mindestens einem Jahr verschollen. Dies habe zu einer weiteren Erhöhung der Absatzzahlen geführt.

    Ihre Ehe scheint stabil, aber ereignisarm zu sein. Vielleicht ließe sich das über ihre gesamte Existenz sagen. Durch ungünstige Zufälle jedoch strandet sie irgendwo fernab der Zivilisation auf dem Land in einer ehemaligen Sowjet-Republik. Angeblich gebe es in dem Land keine deutsche Botschaft. Allerdings gibt es nur ein zentralasiatisches Land, in dem Deutschland keine diplomatische Vertretung unterhält: Afghanistan. Dort aber wird in Paschtun geschrieben und nicht mithilfe des kyrillischen Alphabets.

    Das Land, in dem Maria verlorengeht, entspricht also keinem realen Land. Es ist – wie Maria und die meisten anderen Figuren – ein Klischee. Genau damit spielt das Kapitel aber auch. Schließlich hatte Maria von Anfang selbst eine Klischeevorstellung dieses Ortes: »In ihrer Phantasie hatte sie Bilder verschneiter Steppen gesehen, über die der Eiswind zog, wirbelnden Schnee, Nomaden von Zelten, Yaks und nächtliche Lagerfeuer unter gewaltigen Sternenhimmeln« (95). Solange Maria sie selbst ist, wird diese Vorstellung ständig enttäuscht. Am Ende aber, als Maria drauf und dran ist, sich ihrer selbst grundsätzlich zu entfremden, wird die Klischeevorstellung doch Realität: »Plötzlich war es eiskalt. In der Ferne heulte ein Tier. Der Himmel war voller Sterne.« (118). In dem Moment, in dem das eine Klischee sich verflüchtigt, steht bereits ein anderes bereit.

  • Miguel Auristos Blancos

    Und selbstverständlich ist auch Miguel Auristos Blancos ein Klischee. Er ist die Karikatur eines erfolgreichen Autors von Selbsthilfebüchern. Müller schreibt: »Dieser Auristos Blancos ist, auch wenn er in einem Blackout von Hellsicht seine Wohlfühl-Literatur widerruft, nur eine mäßig interessante Abwatsch-Figur« (Müller 2010).

    Juliane Tranacher bezeichnet Miguel Auristos Blancos als »Pseudo-Genie« (Tranacher 2018, S. 225). Die Art und Weise, wie er seine Bücher schreibt, ist hierbei bezeichnend:

      Miguel Auristos Blancos dachte sich diese Dinge nicht aus, sie kamen von selbst und fanden scheinbar ohne sein Zutun den Weg ins Manuskript, während er dasaß und mit verhaltener Neugierde zusah, wie seine Finger tippend Zeile um Zeile auf dem schimmernden Weiß des Bildschirms entstehen ließen, und wenn er am Ende eines Arbeitstags aufstand und, wie eben jetzt, in den Sonnenuntergang blinzelte, war er nicht weniger erhoben und belehrt, als es jeder einzelne seiner etwa sieben Millionen Leser sein würde. (122)

    Für Miguel Auristos Blancos gibt es ein reales Vorbild, den brasilianischen Schriftsteller Paulo Coelho, wie Joachim Rickes herausgearbeitet hat (Rickes 2012, S. 104). Miguel Auristos Blancos sei eine »beißende Satire« (104) auf das brasilianische Original.

    Interessant ist, dass Auristos Blancos auch dann auf die ihm eigentümliche Art und Weise schreibt, wenn er seine Antwort an die Äbtissin formuliert – und genau dieses Schreiben hat seine Parallelen bei Leo Richter. Es ließe sich beinahe sagen, es schreibe aus ihnen heraus. Womit Richter und Auristos Blancos vielleicht doch mehr miteinander gemeinsam haben als Tranacher erkennt. Ob Auristos Blancos also wirklich eine so negative Figur ist, wie in der Forschung und Kritik gemeint wird, ist wohl gar nicht ausgemacht. Wenigstens, was die Qualität seines Schreibens angeht. Darüber hinaus ist Daniel Kehlmann ja durchaus selbst Verfasser äußerst populärer Bücher.

  • Luzia

    Luzia ist eine als Femme fatale gezeichnete Person, die dem Abteilungsleiter den Kopf verdreht. »Das nennt man wohl sexuelle Erweckung - okay. Aber die Erotik scheint sprachlich doch etwas altväterlich geraten für einen jungen Gentleman wie Kehlmann. Vielleicht ist die Botschaft ja die, dass die Sinnenfreuden der Mobilfunktechnik wacker trotzen.« (Hartwig 2019). So bleibt Luzia als solche auch ziemlich blass. Was man über sie erfährt, sind vor allem Äußerlichkeiten:

      Ich beschreibe sie später, bei Gelegenheit. Hier sei nur angemerkt, daß sie groß war und dunkelblond und daß ihre Augen braun und rund waren wie die eines Hamsters: schimmernd, nie mehr als ein paar Sekunden auf einen Punkt gerichtet, ein wenig ängstlich. Ich bemerkte sie, als sie erst ihr Glas auf den Boden fallen ließ und gleich darauf eine sinnlos auf einem Podest herumstehende Blumenvase zerbrach. Sie trug ein ärmelloses Kleid, die Haut ihrer Oberarme war makellos, und schon als ich sie dort über den Scherben stehen sah, wußte ich, daß ich lieber sterben würde, als darauf zu verzichten, sie anzufassen, meinen Atem mit dem ihren zu mischen und aus der Nähe zu sehen, wie ihre Augen sich nach innen drehten. (160)

    Sie ist Chemikerin, aber der autodiegetische Erzähler – der Abteilungsleiter – bekennt, dass er davon ohnehin nichts verstehe. Deswegen spricht er auch nicht weiter davon. Später beschreibt er sie dann noch weitergehend, wobei aber auch hier nicht viel mehr an Information herauskommt.
    Was man aber erfährt ist, dass auch sie einen gewissen Technik-Skeptizismus vertritt. So äußert sie sich abfällig über ihr Handy, sagt: »Ich finde es unheimlich. Es nimmt die Wirklichkeit aus allem.« (163) Aber diese technikkritische Plattitüde trägt kaum zu ihrer Profilbildung bei.
    Als allenfalls lustiger Side-Fact kann gelten, dass sie als Chemikerin mit »der Gewinnung von Energie aus nichts« (160) zu tun hat. Etwas ähnliches ließe sich über sie und ihre Wirkung auf den Abteilungsleiter sagen. Der frustrierte Familienvater ist so verzweifelt auf der Suche nach Bestätigung, dass es ihrer eigentlich gar nicht bedürfte. Der Abteilungsleiter gewinnt Energie aus nichts, denn viel mehr ist der Flat-Character Luzia eigentlich nicht. Und dies erzählt eine Menge über den autodiegetischen Erzähler.

  • Abteilungsleiter

    Der Abteilungsleiter lässt sich anhand seines Begehrens verstehen. Von seiner Frau fühlt er sich ungeliebt, seinem Sohn gegenüber ist er grob und unnachgiebig und Luzia scheint ihm vor allem als sexuell verfügbare Frau interessant zu sein.
    Gleichzeitig erweist er sich als talentierter Mann. Seine tiefgehenden Lügen den beiden Frauen gegenüber sind von geradezu poetischer Dichte. So ließe sich sagen, er würde dem Diktum Platons entsprechen, nach dem alle Dichter immer auch Lügner seien, weil sie etwas als wahr darstellten, was in Wirklichkeit nicht wahr ist.
    Davon abgesehen ist er von einer tiefen Indifferenz und Menschenverachtung gekennzeichnet. Auch seine Arbeit betrachtet er als Übel und hat keine tiefgehende Verbindung dazu. So lässt sich aber auch nicht sagen, dass die Beziehung zu Luzia daran irgendetwas änderte, auch auf sie projiziert er lediglich Lust. Er erscheint als ein Mensch, der keinen Inhalt hat. Der Inbegriff eines Menschen ohne Charakters, wenn man dies so ausdrücken wollte. Dies würde durchaus von der Beobachtung unterstützt, dass er die einzige Hauptperson ist, die keinen Namen trägt. Gleichzeitig ist seine Erzählung die längste des Buches. Ein bezeichnender Fakt: Seine Erzählung könnte als Paradigma für das gesamte Buch gelten: In seiner wie in allen anderen Geschichten geht es weniger um Ruhm als um die Inhaltsleere des modernen Menschen. Die flachen Charaktere sind keine Schwäche des Romans, sondern Teil seiner Aussage.

  • Mollwitz

    Mollwitz ist derjenige, der für die Wiedervergabe der Telefonnummer Ralf Tanners verantwortlich ist und damit gleichzeitig – wenngleich indirekt – für den Selbstmord von dessen Freund, des erfolglosen Schauspielers Mogroll. Mollwitzt ist einer der wenigen klar autodiegetischen Erzähler in »Ruhm«. Auch er ist ein flacher Charakter oder, wie Müller formuliert, eine Abwatschfigur: »Mehr als eine verkorkste Mutterbeziehung und die Rollenprosa, mit der Kehlmann ihn zu einer Satire auf den Netzjargon nutzt, hat er nicht zu bieten« (Müller 2010).

    Tatsächlich ist der Jargon nicht einmal sonderlich überzeugend, wobei dies durchaus Programm sein könnte. Es fällt auf, dass ziemlich viele Anglizismen verwendet werden. Gleichzeitig aber gibt es deutsche Ausdrücke, die sich aus dem Englischen herleiten. So spricht Mollwitz von »[k]alte[n] Sachen« (133) anstelle von »coolen«.
    Auch dass Mollwitz nicht bei seiner Mutter wohnt, sondern vielmehr seine Mutter bei sich wohnen lässt, ließe sich als Umkehrung gängiger Klischees lesen.

    Allerdings sorgt die blanke Umkehrung eben nicht dafür, dass sich am Charakter des Klischees etwas Grundsätzliches änderte. Das Klischee bleibt vielmehr intakt, wird womöglich sogar noch bestärkt. Mollwitz wäre so die sprichwörtliche Ausnahme, die die Regel bestätigt.

    Eine gewisse Ironie ist der Figur dabei nicht abzusprechen, auch wenn sie ziemlich offenkundig und -sichtlich konstruiert ist. So ist es Mollwitz, der das – vermeintliche – Zimmer des Prominenten verwüstet und nicht der Prominente selbst. Aber auch das ist wiederum so sehr an ein gängiges Klischee gebunden (Star verwüstet Zimmer), dass die Umkehrung kaum dazu taugt, eine feinsinnige Satire zu schaffen. Mollwitz ist tatsächlich so bemitleidenswert, dass es fast schon so erscheint, als gefalle sich der Erzähler im Body-Shaming und als Teilnehmer von Nerd-Mobbing. Die Verachtung, mit der die Figur Mollwitz gestaltet ist, ist tatsächlich offenkundig.

Veröffentlicht am 19. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 19. September 2023.