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Ruhm

Antwort an die Äbtissin

Zusammenfassung

In dieser Erzählung ist Miguel Auristos Blancos die Hauptperson. Er sitzt in seinem Penthouse über den Dächern von Rio de Janeiro und blickt auf das Meer. An seinem Schreibtisch ordnet er die Post. Dabei erfährt der Leser einiges über das Leben des Miguel Auristos Blancos. Drei Ehen sind gescheitert, er scheint Krebs zu haben, hat einen Personal-Trainer und lebt insgesamt ein luxuriöses, dabei jedoch scheinbar achtsames Leben.

Gleichzeitig hat er einen gewissen Hang zu Schusswaffen. So hat er eine Pistole der Marke Glock in seinem Schreibtisch, mit der er gerne spielt, indem er sie sich gegen den Kopf hält. Das wiederholt er jeden Abend, auch an diesem Abend, kurz nachdem er die Post durchgesehen hat. Man erfährt, dass er einmal ein Buch über das Bogenschießen geschrieben hat. Dabei hat er aus Versehen plagiiert. Sein Schreiben ist eher improvisatorischen Charakters.

Unter den angekommenen Briefen ist auch ein Schreiben einer Äbtissin, die ihn fragt, wie all das Leid der Welt mit der Existenz Gottes zu vereinbaren sei. Miguel Auristos Blancos ist eine Art Theosoph oder esoterischer Philosoph; die Äbtissin erwartet von ihm eine Antwort, die das Problem der Theodizee im Sinne christlicher Überzeugungen löst.
Nachdem er sich die Waffe an den Kopf gehalten hat, beginnt er damit, eine Antwort an die Äbtissin zu schreiben. Ohne dass er es erwartet hätte, gerät ihm die Antwort sehr lang. Miguel Auristos Blancos gerät geradezu in einen Schreibrausch.

Ganz gegen seinen Willen ist seine Antwort allerdings ganz und gar nicht orthodox, sondern von einem krassen Pessimismus geprägt. Nur der Schmerz sei real, alles andere sei bloße Illusion. Ob es Gott gebe, könne gar nicht entschieden werden, wenn es aber einen gebe, so würde er sich offensichtlich nicht um die Welt kümmern, deren schrecklicher Zustand genau dies beweise.

Dabei erschrickt Miguel, schließlich ist diese Antwort das Gegenteil von dem, was er in seinen Büchern behauptet hat. Er wundert sich auch darüber, dass er es geschrieben hat, findet aber Gefallen an der Idee, diesen Brief zu veröffentlichen, und zwar als eine Art Testament. Er überlegt, dass er sein Spiel mit der Pistole einmal mit Drücken des Abzugs beenden könnte. Solch ein Selbstmord mit dem Testament zusammen würde ihn zu einer Legende machen. Mit der Waffe am Kopf überlegt Miguel Auristos Blancos noch.

Analyse

In seinem Penthouse über den Dächern Rio de Janeiros sitzend ist Miguel Auristos Blancos den Niederungen des ordinären Lebens auch räumlich enthoben. Sein Leben verläuft im sicheren Abstand dazu, allerdings hat er dabei einen guten Blick auf die Favelas, also die Slums der zweitgrößten Stadt Brasiliens.

Seine Existenz ist geordnet. Dies spiegeln die sortierten Stifte auf seinem aufgeräumten Schreibtisch wider. Doch scheint auch bei ihm nicht alles zum besten zu stehen. Abgesehen von einer wahrscheinlichen Krebs-Diagnose, erfährt man auch, dass Miguel Auristos Blancos bereits drei gescheiterte Ehen hinter sich hat.

Auch seine Kinder scheinen ihm nicht sehr nahe zu sein. Sie leben bei ihrer Mutter, eine von ihnen geschriebene Ansichtskarte liest er nicht – angeblich, weil er ihnen spirituell so nahe sei, dass er ohnehin in telepathischer Verbindung zu ihnen stehen.

So kontrolliert er auf der Oberfläche erscheint, so sehr scheint in ihm etwas zu gären. Die Frage der Äbtissin, inwiefern das Leid auf der Welt mit der Existenz Gottes vereinbar wäre, ruft einen Schreibrausch in ihm hervor. Das Schreiben der Wahrheit erscheint hier als etwas, das man nicht zu beeinflussen brauche. Das Kapitel ließe sich also als Allegorie darüber verstehen, dass die Wahrheit sich jenseits von Formung und Ästhetik durchsetze.

Gleichzeitig wird aber im gleichen Kapitel auch gezeigt, dass diese Écriture Automatique durchaus auch zu unbeabsichtigten Plagiaten führen kann. Ebenso wird sie als Mittel benutzt, die Schriften von Miguel Auristos Blancos zu diskreditieren. Die Aussage der Allegorie wird also gleichzeitig zurückgenommen. Damit entzieht sich die Geschichte einer klaren Aussage, was wiederum eine klare Aussage impliziert: Es gibt mehr als eine Wahrheit, zwischen schwarz und weiß besteht ein Drittes. Oder vielmehr: statt schwarz und weiß ist alles grau wie die Favelas, wenn die Sonne nicht auf sie scheint.

Veröffentlicht am 18. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. September 2023.