Skip to main content

Ruhm

Interpretation

Besonders interessant wäre ein Deutungsansatz, der sich den Gender-Studies verpflichtet wüsste. Insbesondere die Frauen-Figuren sind in »Ruhm« von einer ziemlich signifikanten Stereotypie. So ist Elisabeth in eine typische Mutter-Kind-Beziehung zu Leo Richter gepresst. In der Erzählung »Wie ich log und starb« werden Frauen performativ in verblühte Mütter und animalische Femmes fatales unterteilt. Auch die Passivität, mit der die Frau von Ebling schließlich nachgibt, entspricht der heterosexuellen Matrix.

Auf der anderen Seite erweisen sich auch die männlichen Figuren als nicht eben divers. Auf der einen Seite gibt es den im Bett ungemein dominanten und fähigen Leo Richter, es gibt die Männer wie Ebling oder den Abteilungsleiter, die von ihren Frauen nicht mehr erregt werden, es gibt den Schauspieler Ralf Tanner, der schon alles erlebt hat, aber erst in dem Moment, in dem er mit einer Normalsterblichen verkehrt, lernt, was guter Sex ist – und damit eine zentrale Imago des Bürgertums bedient: die proletarische Tochter – und es gibt den Incel Mollwitz, dessen sexuelle Frustration irgendwo zwischen seiner ödipalen Mutterbeziehung und seinem abstoßenden Äußeren ihre Begründung findet. Unter einem sogenannten Incel versteht man jemanden, der unfreiwillig zölibatär lebt, also trotz Wunsch keinen Sexualpartner findet.

Dabei kann aber nicht unbedingt gesagt werden, es handele sich per se um einen sexistischen Text – vielmehr werden diese heteronormativen Rollen durch ihre satirische Überzeichnung nicht als Vorbilder empfohlen. Ob sich daraus aber eine kritische Intention ableiten lässt, ist nicht einfach zu beantworten. Das würde eine sehr detailreiche Untersuchung nötig machen. Genau hier könnte eine genderwissenschaftliche Studie, die tiefer ins Detail ginge, einiges herausarbeiten, das bisher unterhalb des Radars liegt. Kehlmann gilt als Gentleman (vgl. Hartwig 2019): vielleicht, dass seine Texte deswegen noch nicht genderwissenschaftlich fokussiert worden sind.

Ein weiterer Interpretationsansatz könnte sich des Themas der Metafiktionalität annehmen. Tatsächlich wurden solche Ansätze auch schon eifrig an »Ruhm« erprobt (vgl. Balinth 2010). Wie verhält sich »Ruhm« etwa zur Theorie des französischen Soziologen und Philosophen Jean Baudrillard? 

Baudrillard schreibt: »[Die Simulation] bedient sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d.h. eines Hyperrealen. Das Territorium ist der Karte nicht mehr vorgelagert, auch überlebt es sie nicht mehr. Von nun an ist es umgekehrt: Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor.« (Baudrillard 1978, S. 7-8). Mit anderen Worten: Bisher war es so, dass Karten nach Landkarten erstellt worden sind. Eine Karte hat sich der Daten bedient, die in der Realität zu finden waren. Baudrillards These geht nun davon aus, dass wir – durch den Fortschritt von Technik und Kapitalismus – an einem Punkt sind, an dem wir überhaupt keine Realität mehr kennen, weil wir alles kartografiert haben. Dabei ist kartografieren hier sehr weit zu verstehen: Auch unsere Psyche ist kartografiert, durch Psychologie und Psychoanalyse haben wir für alles einen Begriff und diese Begriffe gehen dem Gefühl, den Unmittelbaren, dem Echten soweit voraus, das wir überhaupt keinen Zugriff mehr auf es haben. Mit anderen Worten: Wir leben in einer Simulation. Wir haben diese Simulation selbst geschaffen und schaffen sie jeden Tag neu. Das Ding ist nun, dass sich diese Simulationen gegenseitig stützen, genau deswegen haben wir auch keinen Zugriff mehr auf die Realität. Oder, in den Worten Leo Richters: »Wir sind immer in Geschichten. Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander.« (201).

Ein dritter Ansatz wäre ein biographischer Ansatz, wie ihn etwa Gasser verfolgt. In seinem gewollt unakademischen Akademischen Buch »Das Königreich im Meer« geht er davon aus, Kehlmann habe mit »Ruhm« auch seine eigene Rolle nach dem unerwarteten Riesenerfolg von »Die Vermessung der Welt« thematisieren wollen. Kehlmann habe an dem unerwarteten Erfolg und dem sich dadurch einstellenden Interesse an ihm geradezu gelitten. Weil aber ein Schriftsteller »– in Kehlmanns Worten – von Berufs wegen mit den Dingen, die ihn bedrängen, fertig wird, indem er sie erfindet«, habe er sich »ein anderes Selbst in der Parallelwelt der Presse und des Internets erfunden« (Gasser 2010, S. 133).

Gleichzeitig ist Gasser sich nicht zu schade Kehlmann als einen zu feiern, der wie »Borges, Proust, Nabokov, García Márquez, Roth und Henry James« (Gasser 2010, S. 147) daran arbeite, den Menschen das Sterben zu erleichtern. Sein pathetisches Plädoyer für eine Kehlmann-Lektüre liest sich wie folgt: 

    1. Wir sind zum Lachen und zur Phantasie begabte und unserer Toten gedenkende Tiere und uns mit Recht für den Tod zu schade, das macht uns aus, und je mehr wir an vermeintlich abgestorbenen Ideen, Trostworten, Glückseinfällen und Romanfinessen der Jahrhunderte in uns tragen, desto leichter tragen wir auch an uns selber wie jener alte, einsame Wanderer, der, verloren in tiefer Nacht, sich selber gut zureden vermag, um nicht in den Abgrund seiner eigenen Angst zu stürzen. Schriftsteller, auf die es ankommt, schreiben nur deshalb: Sie teilen ihre Einsamkeit mit uns, reden uns gut zu, und wenn wir sie lesen, wo auch immer wir sind, so ist es doch, als entzündeten wir ein Streichholz, nur um erkennen zu müssen, wie finster der Wald ist, der uns eingeschlossen hält. (Gasser 2010, S. 147-148)

Dass solch eine Interpretation eine Ausnahmeerscheinung im akademischen Diskurs ist, verwundert nur bedingt.

 

Veröffentlicht am 19. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 19. September 2023.