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Ruhm

Wie ich log und starb

Zusammenfassung

In dieser Erzählung tritt der Vorgesetzte von Mollwitz – also des Erzählers der vorangegangenen Erzählung – als autodiegetischer Erzähler auf. Er nennt seinen Namen nicht, erzählt aber, dass er in neunjähriger Beziehung mit einer Frau namens Hannah befindlich ist, mit der er zwei Kinder hat: den Sohn Paul und eine jüngere Tochter, die er nur »die Kleine« nennt. Seine Familie lebt in Süddeutschland, er sieht sie nur an den Wochenenden, da er werktags in einer Wohnung nahe Hannover lebt.

Fernab seiner Familie trifft er Luzia, vor der er seine Familie verheimlicht und mit der er bald eine Affäre beginnt. Man erfährt in Form einer Prolepse auch, dass der Erzähler, der Abteilungsleiter also, mittlerweile arbeitslos ist. Obwohl er sich zu Höherem berufen fühlte, ist er lediglich Abteilungsleiter geworden, hat ohne innere Anteilnahme Elektrotechnik studiert und einen Brotberuf ergriffen. Nach und nach hatte er sich hochgearbeitet und war schließlich ein gut verdienender Mann geworden.

Luzia und er machen sich auf den Weg in sein Appartement und schlafen miteinander. Währenddessen ruft Hannah mehrfach an, doch der Erzähler geht nicht an sein Telefon, verleugnet Hannah aber auch gegenüber Luzia, die anscheinend keinen Verdacht schöpft. Die ganze Nacht über haben sie Geschlechtsverkehr; gegenüber der unerotischen Beziehung zu seiner Ehefrau ist die Beziehung zu Hannah also überaus sinnlich geprägt.

Am nächsten Morgen verabschiedet Hannah sich und auch der Erzähler muss zur Arbeit. Unterwegs ruft Hannah an, die er mit einer Lüge davon überzeugt, der vergangene Abend sei nicht der Erwähnung wert. Dabei wundert sich der Erzähler, wie leicht ihm das Lügen fällt. Nicht einmal die Stimme verändere sich dabei. Dies liege daran, dass keiner dem anderen jemals zuhöre. Bei dem Telefonat erfährt der Erzähler von seiner Frau, dass der gemeinsame Sohn Paul Ärger in der Schule hat. Am Wochenende solle er einmal mit seinem Sohn sprechen.

Seine Untergebenen schildert er mit einer gehörigen Portion Verachtung, insbesondere Mollwitz – also jenen Forums-User »mollwitt«, der in der vorigen Erzählung als Erzähler fungierte – sieht er als armselige Figur an. Er fährt ihn an, er habe keine Zeit. Dann ruft Luzia an und sie verabreden sich.

Schließlich ist der Erzähler wieder zuhause, er schaltet das Telefon aus, damit auch Luzia ihn nicht anrufen kann. Gegenüber Hannah erfindet er Ausreden. Seinem Sohn gegenüber ist er grob und autoritär. Sowohl gegenüber Hannah als auch gegenüber Luzia denkt er sich mit großem Einsatz Ausreden aus. Dabei entwickelt er einen echten Ehrgeiz, sie möglichst stichhaltig und überzeugend zu gestalten. Vor allem nachts aber gerät er zusehends in Panik und verliert sich in seinen Geschichten.

Einige Male steht er kurz vor der Enttarnung, etwa als der Kongress ansteht, der in der Geschichte zuvor von Mollwitz besucht wurde. Man erfährt, dass der Erzähler eigentlich mit Hannah fahren wollte. Luzia schreibt ihm allerdings, dass sie mit ihm auf diesen Kongress wolle. Da er ihr aber nichts erzählt habe, könne Luzia ja nur deshalb von dem Kongress wissen, weil sie dort jemanden kenne, der auch ihn kenne. Also könne er, der Erzähler, ja auch nicht mit Hannah fahren, dann bestünde nämlich die Gefahr, dass Luzia von Hannah erführe. Also fährt er gar nicht, sucht Ersatz und der letzte, der übrig bleibt, ist Mollwitz, der seine Sache so außerordentlich schlecht macht, dass es ein ungünstiges Licht auf die ganze Abteilung wirft. Später kommt zusätzlich heraus, dass es ein Fehler Mollwitz’ war, der dafür sorgte, dass bereits vergebene Nummern neu vergeben wurden. So ist wohl auch die Nummer Ralf Tanners an Ebling vergeben worden.

Kurze Zeit später ist Luzia schwanger. Der Erzähler erfährt es, als er gerade mit seinen Kindern im Freibad ist. Seine jüngste Tochter fällt fast ins Wasser, sein Sohn scheint sich vor ihm zu schämen, zusätzlich fordert der Stress seinen Tribut. Auf der Straße fällt er bereits durch seine Art auf. Da spricht ihn ein Mensch an, der eine bezeichnende Ähnlichkeit mit dem Chauffeur aus »Rosalie geht sterben« aufweist. Er fährt ihn zu Luzia, zwischendurch beginnt der Erzähler bereits damit, auditive Halluzinationen zu haben. Auch bei Luzia – wobei sie sich in seinem Appartement treffen – hören die Halluzinationen nicht auf. Schließlich glaubt er, es läute an der Tür. Die Geschichte endet damit, dass er die Tür öffnet.

Analyse

Bereits sehr früh wird deutlich, dass der Titel der Erzählung metaphorisch zu verstehen ist. Der Abteilungsleiter stirbt nicht wirklich, also muss es sich um eine Metapher handeln.

Interessant ist, dass der Abteilungsleiter als einzige Person keinen Namen trägt. Dies wird nicht nur damit zusammenhängen, dass es sich um einen autodiegetischen Erzähler handelt, auch Mollwitz ist ein solcher, seinen Namen erfahren die Leser aber. Wobei innerhalb der Geschichte »Ein Beitrag zur Debatte« lediglich der Username in Erfahrung gebracht werden kann. Sein realer Nachname Mollwitz wird erst in »Wie ich log und starb« offenbar.

Der Abteilungsleiter trägt keinen Namen, sondern nur eine Funktionsbezeichnung. Damit ließe sich sagen, er verwiese auf einen bestimmten, funktionalen Charakter. Und tatsächlich. Er verweist auf die Freudsche Theorie, dass auch Dichtung und die Erschaffung von Kunst mit Erotik und Trieb zusammenhänge. Es ist das sexuelle Verlangen, dass den Erzähler dazu bringt, mit Luzia anzubändeln. Damit dies aber ohne Störung seitens seiner Ehefrau geschieht, muss er sich in poetischer Tätigkeit versuchen. Mit anderen Worten, er muss sich Geschichten ausdenken.

Schon Platon hatte das Dichten mit dem Lügen zusammengebracht. Dies wird hier am Abteilungsleiter ebenfalls demonstriert. Er lügt und erschafft ziemlich elaborierte Geschichten – und dies einzig und allein aus dem Grund, dass er in aller Ruhe mit seiner Geliebten schlafen kann.

Bezeichnend ist ferner, dass der Abteilungsleiter in einem Kommunikationsunternehmen arbeitet, bei einer Telefongesellschaft. Die modernen Telefone sind es auch, die seinen Betrug überhaupt ermöglichen. Der Abteilungsleiter fragt sich denn auch, wie es im Zeitalter vor dem Handy eigentlich möglich gewesen sei, den regelmäßigen Ehebruch zu vollziehen.

Müller schreibt dazu:

    Kehlmann hat dieser schlichten Frage des Abteilungsleiters, der das Produkt, das er verkauft, anstaunt, ohne es zu verstehen, in seiner Plotentwicklung wenig voraus. Damit, dass die Technologien der Überwachung und des Misstrauens denen des Lügens und Täuschens ebenbürtig sein könnten, rechnet er nicht. Stattdessen erfindet er dem fremdgehenden Abteilungsleiter eine Ehefrau und eine Geliebte, die beide in komischer Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit brillieren. Logische, oder wie hier: logistische Unstimmigkeiten und Flachheiten können sich große Romane locker erlauben. Sie verstimmen aber in Büchern wie diesen, eben weil sie die Logistik, der sie folgen, so ostentativ hervorkehren. (Müller 2010).
Veröffentlicht am 19. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 19. September 2023.