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Ruhm

Zitate und Textstellen

  • »Drei Nachrichten. Seine Tochter, die vom Ballettunterricht abgeholt werden wollte. Das überraschte ihn, er hatte gar nicht gewußt, daß sie tanzte. Ein Mann, der um Rückruf bat. Nichts an seiner Nachricht verriet, wem sie galt: ihm oder dem anderen. Und dann eine Frau, die ihn fragte, warum er sich so rar mache. Ihre Stimme, tief und schnurrend, hatte er noch nie gehört«
    – Erzähler - 12

    An dieser kurzen Passage lässt sich der Übergang Eblings aus seiner gewohnten Existenz in eine Als-Ob-Existenz im Kleinen nachvollziehen. Seiner Familie gegenüber ist er fremd, so weiß er nicht einmal, dass seine Tochter Tanzstunden nimmt. Diese Welt ist ihm so fremd, dass er eigentlich gar nichts mehr mit ihr zu tun hat. Der Übergang findet sich in der Nachricht ausgedrückt, von der niemand sagen kann, wem sie eigentlich gilt. Ebling befindet sich zum geschilderten Zeitpunkt genau in dieser Übergangsphase, in der er eigentlich nicht weiß, was ihm gilt und was nicht, was ihn ansprechen soll und was nicht. Die dritte Nachricht schließlich, die »tiefe und schnurrende« Stimme der Frau, repräsentiert die Verlockung. Nicht zuletzt dadurch, dass es sich um eine Stimme handelt, die ambivalent ist. Konventionell – also im Sinne heteronormativer Weltsicht – sind Frauenstimmen ja eben nicht tief, sondern hell. Genau deswegen bedarf es des expliziten Hinweises. Wäre die Stimme hell, so würde das nicht weiter beschrieben werden müssen. Außerdem schnurrt die Stimme, hat also etwas katzen- und damit raubtierhaftes. Dass das weibliche Geschlechtsteil wenigstens im Deutschen, Englischen und Französischen mit Katzennamen bedacht wird, trägt hierzu noch seinen Teil bei. Die Frau wird als uneindeutig und dadurch verlockend beschrieben. Sie ist nicht nur Frau, sie ist auch Tier: animalisch erotisch.

  • »›Wie eine große Attrappe. Eine Platte mit ein paar hundert Glühbirnen. Vielleicht fliegen wir ja nicht, vielleicht sind wir gar nicht hier. Alles ein Trick.‹«
    – Leo Richter - 32

    »Ruhm« stellt immer wieder die Frage nach der Realität der Realität. Das geschieht häufig auf eine performative oder demonstrative Weise, etwa indem Leo Richter als Autor mit seinen eigenen Figuren spricht, das passiert manchmal aber auch so wie in dem obigen Zitat zu erkennen. Hier wird explizit der Verdacht geäußert, alles könne sich als eine riesige Matrix – oder Simulation – herausstellen. Bezeichnend ist nun allerdings, dass diese Frage gar nicht wirklich philosophisch angegangen, sondern immer nur kurz angerissen wird. Auch Leo verweist sofort wieder auf etwas anderes, wechselt das Thema. Der Text »Ruhm« scheint eher mit dem Thema zu spielen und nimmt sich seiner nicht wirklich an.

  • »›Die Sonne spielt auf den Abgaswolken, als wäre das etwas Schönes und kein Dreck. Im Gegenlicht ist alles schön.‹«
    – Leo Richter - 35

    An der Textstelle wird deutlich, dass auch der ästhetische Eindruck eines Gegenstandes eine Frage der Perspektive ist. Interessant ist, dass dieser Stelle eine Stelle in der Erzählung »Antwort an die Äbtissin« korrespondiert. Dort sind es die Favelas, die je nach Lichteinfall entweder klar konturiert oder als graue Masse erscheinen. Auch hier ist der Eindruck also eine Frage der Beleuchtung bzw. der Perspektive. Und genau das scheint auch das wesentliche Arbeitskonzept von Miguel Auristos Blancos zu sein: Perspektivumkehr. Statt das Leben als beschwerlich zu schildern, lehrt er positive thinking und Achtsamkeit. Bezeichnend, dass seine Geschichte darin besteht, selbst Opfer einer weiteren, nun allerdings negativen Perspektivumkehr zu sein.

  • »›Grease the hobble, why?‹«
    – Der Fahrer - 97

    Diese Textstelle verweist auf die tiefgreifenden Kommunikationsprobleme, denen Maria in dem zentralasiatischen Land unterworfen ist. Das Land scheint eine ehemalige Sowjet-Republik zu sein. Leo Richter ist sich nicht sicher, ob es sich dabei um Turkmenistan oder Usbekistan handelt. Englisch wird hier jedenfalls nicht gesprochen, die Schrift ist kyrillisch. Man kann sagen, dass an der Textstelle deutlich wird, dass es nur wenige kulturelle Übereinstimmungen gibt, was wiederum zeigt, dass die Vortragsreise als Teil eines interkulturellen Dialoges eigentlich eine gute und notwendige Idee ist.

  • »›Ich finde es unheimlich. Es nimmt die Wirklichkeit aus allem.‹«
    – Luzia - 163

    Eine der wenigen Stellen, in denen explizite Technik-Kritik geübt wird. Das Statement hat allerdings durchaus seine Berechtigung. Es ist zwar so, dass es ohne Handy wahrscheinlich gar keine langfristige Beziehung zwischen Luzia und dem Abteilungsleiter gäbe – wenigstens kann man das einer Bemerkung des Letztgenannten entnehmen. Andererseits wird das Handy ja wirklich vom Abteilungsleiter genutzt, um sie zu täuschen. Es nimmt tatsächlich Wirklichkeit, es hilft bei Lügen.

  • »Vom Plakat auf dem Hochhaus gegenüber starrte sie das Gesicht Ralf Tanners an, so stark vergrößert, daß es alles Menschliche abgelegt zu haben schien.«
    – Erzähler - 40

    Die übergroße Darstellung Tanners korrespondiert mit seinem eigenen Erleben. Er sieht sich selbst als Fremden an. Die Menschlichkeit erobert er sich erst zurück, als er seine Identität ablegt.

  • »›Und ich werde dich verlassen.‹«
    – Elisabeth - 201

    Das Paradoxe ist, dass hier eigentlich nicht Elisabeth spricht, sondern ihre von Leo Richter geschaffene Figur. Was bedeutet das? Trifft Elisabeth im Moment des Aussprechens die Entscheidung, Leo zu verlassen? Dann wäre die Aussage nur auf der Ebene der Fiktion gültig. Leo aber antwortet: »Nicht in dieser Geschichte.«, und zieht sich zurück. Oder hat Elisabeth sich schon längst entschieden, ihn zu verlassen, und zwar in der Realität?

  • »›Ich bin real!‹ / ›So?‹«
    – Rosalie und Leo - 64

    Hier wird das Spiel mit der Fiktivität um eine Volte vorangetrieben. Wer ist denn eigentlich real? Auf der Ebene der Diegese scheint es so zu sein, als sei Leo real. Aber Rosalie hat natürlich recht: Auch er ist selbstverständlich fiktiv.

  • »Ich sag nur Beispiel: Funksprüche von 9/11. Lest das mal nach im Netz, dann wundert euch gar nichts mehr.«
    – Mollwitz - 135

    Natürlich ist der Nerd und Troll auch Verschwörungstheoretiker, könnte man sagen. Außerdem zeigt die Stelle exemplarisch die mangelhafte Grammatik des Autodiegetischen Erzählers.

  • »Dann, endlich, erlosch ihr Bewußtsein.«
    – Erzähler - 119

    Die Stelle zeigt die Unklarheit, was Marias weiteres Schicksal angeht. Sie gilt als verschollen, niemand weiß, was aus ihr wurde. Das gilt auch für die realen Leser: Am zitierten Satz lässt sich nicht zweifelsfrei ablesen, ob Maria stirbt oder bloß einschläft.

Veröffentlicht am 19. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 19. September 2023.